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Und schauen was passiert

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
05.04.2019. "Mir widerstrebte es, die Fotografie als Muskelspiel zu betreiben. Ich wollte niemanden 'abschießen' und habe es als sinnlos erachtet zu versuchen, das Wesentliche eines Menschen in einem Foto einzufangen." Ein Gespräch mit Michael Wesely, der mit Langzeitbelichtungen, dem Zufall und selbstgebauten Lochkameras fotografiert wie John Cage einst Musik machte.
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Bis zum 13. April zeigt die Düsseldorfer Repräsentanz des Auktionshauses Grisebach in Kooperation mit der Berliner Galerie Fahnemann die Ausstellung "The Camera was Present" von Michael Wesely. Der Titel ist nicht nur eine Anspielung auf Marina Abramovics Performance im MoMA 2010, sondern auch darauf, dass die Präsenz der Kamera für Wesely den einzig nachweisbaren Moment der Wahrheit in der Fotografie verkörpert. Wesely ist vor allem mit seinen Langzeitbelichtungen über die Bebauung des Potsdamer Platzes Ende der Neunziger und den Umbau des MoMA in New York Mitte der Nuller Jahre bekannt worden. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass diese Bilder förmlich ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind und wenig später von unzähligen Foto- und Werbeagenturen wie Lumas unter Zuhilfenahme von Software kopiert wurden, um Stadtlandschaften darzustellen. Fotolot bot sich im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen die Gelegenheit, einen Blick in Weselys Archiv zu werfen. Um es vorweg zu nehmen: Die Überraschung war groß, zu entdecken, wie viele teils ungehobene Schätze sich darin befinden, aber auch, wie unsystematisch sich die Kunstgeschichtsschreibung der Gegenwart diesem konstant gewachsenen und konsequent verzweigenden Werk bisher zugewandt hat.

Michael Wesely: Als ich mich mit der Fotografie zu beschäftigen begann, existierte eine richtige Macho-Szene. Fotografie und Kunst waren noch keine Symbiose eingegangen, es dominierte der Paparazzo-Typ, der seine Kameraausrüstung vor sich hertrug.

Peter Truschner (Fotolot): Wie eine Penisverlängerung.

Wesely (lacht): Sozusagen. Ein Trüffelschwein, das ständig auf der Suche nach "Hot Stuff" war. Ich dagegen war ein technikaffiner, eher grüblerischer… Nerd, würde man heute sagen.

Michael Wesely: Leipziger Platz

Truschner: Aber 1988, als Sie Ihre zweijährige Ausbildung an der Bayrischen Lehranstalt für Fotografie beendet haben, gab es doch die Düsseldorfer Fotoschule um Bernd und Hilla Becher.

Wesely: Deren Schüler wie Gursky oder Ruff waren erst in aller Munde, als ich studiert habe. Als ich jedoch Ende der Siebziger Jahre zu fotografieren begonnen habe, konnte davon noch keine Rede sein.

Truschner: Und die amerikanische Fotografie von Robert Frank bis William Eggleston?

Wesely: Ist auch erst viel später als "richtige" Kunst anerkannt worden, als viele glauben. Außerdem waren das zumeist auch Lonesome Cowboys, die statt mit ihrem Colt mit der Kamera bewaffnet durchs amerikanische Hinterland zogen.

Truschner: Susan Sontag hat diesen Vergleich zwischen Revolver und Kamera angestellt. Nicht nur, weil eine Kamera tatsächlich eine Waffe sein kann, sondern weil sie sich dieser mythologischen Dimension in den USA überaus bewusst war.

Wesely: In Europa gab es Leute wie Doisneau oder Cartier-Bresson. Feinsinnigere Fotografen, die den Leuten mehr Spielraum ließen, vor der Kamera zu agieren. Dennoch huldigten auch sie einem Glauben, den ich nicht teilen konnte und als Ansatz immer für verfälschend und unergiebig hielt.

Truschner: Lassen Sie mich raten: "The Decisive Moment".

Wesely: Genau. Der Glaube, dass es einen entscheidenden Augenblick gibt, in dem sich die Wahrheit und der Kern eines fotografierten Menschen oder Vorgangs zeigt. Alle waren immer auf der Suche nach diesem einen Moment, dieser einen Aufnahme, und haben dabei völlig vergessen, dass sie es waren oder der zuständige Bildredakteur, die ein Bild gemäß ihrer Präferenzen, Werturteile und Erfahrungen erst zu diesem einen Bild machen, während andere Menschen ein ganz anderes Bild aus derselben Serie wählen würden.

Truschner: Welchen Umfang hatten Serien dieser Art?

Wesely: Das war noch die Zeit der analogen Fotografie. Bei einer Porträtsitzung hat man mindestens fünf bis zehn Filme verschossen, um sicherzugehen, dass der entscheidende Augenblick, der das eine Foto bringt, auch ja dabei war. Du schaust dauernd auf das Zählwerk der Kamera, wie viele Aufnahmen habe ich noch? Erschwerend kam hinzu, dass man sich in Bezug auf das Ergebnis nie sicher sein konnte. Es gab ja kein Display, wo man die Aufnahme unmittelbar ansehen konnte. Stimmt der Belichtungsmesser, stimmt meine Scharfstellung, macht das Labor bei der Filmentwicklung auch keinen Fehler? Das waren alles Fragen, die meist belasteten und sich erst auflösten, wenn man die Negative oder Dias in der Hand hatte.

Truschner Der bloße Akt des Fotografierens erforderte im Gegensatz zu heute umfassende handwerkliche Fähigkeiten.

Wesely: Auf jeden Fall. Dazu Kenntnisse gewisser Materialien sowie von chemischen und physikalischen Vorgängen.

Truschner: Das beschreibt nebenbei auch gut, warum ich es mir aufgrund meiner beschränkten Mittel nicht leisten konnte, ein analoger Fotokünstler zu werden.

Wesely: Fotografie war von Beginn an eine Angelegenheit der Oberschicht. Nach einem kurzen historischen Intermezzo wird es auch heute an den Universitäten wieder zu einer Sache der Töchter und Söhne von Besserverdienern.

Truschner Wie ging es bei Ihnen nach Ihrer Ausbildung weiter?

Wesely: Mir widerstrebte es, die Fotografie als Muskelspiel zu betreiben. Ich wollte niemand "abschießen" und habe es als sinnlos erachtet zu versuchen, das Wesentliche eines Menschen in einem Foto einzufangen. Das bedeutete, dass ich mich von allem lösen musste, was für Fotograf*innen in meinem Umfeld verbindlich war. Ich hatte die Idee, dass die Fotografie weniger ein Einfangen und Festhalten, als ein Loslassen sein sollte. Verschluss auf - und schauen was passiert.

Truschner: Hatten Sie auf diesem Weg Mitstreiter?

Wesely: Nein. Die Leute haben darauf eher rat- und verständnislos reagiert. Da ich noch jung und gerade mit der Ausbildung fertig war, hat man sich gedacht: soll er mal machen, er wird schon sehen, wie weit er damit kommt. (lacht) Aber ich habe auf anderen Gebieten Verbündete im Geiste gefunden. John Cage etwa, der mit zufällig vorgefundenem Tonmaterial arbeitete und während einer Versuchsanordnung schaute, was passiert. Oder der Konzeptkünstler Ed Ruscha, der mal in einer Aktion seine Schreibmaschine aus dem fahrenden Auto geworfen und danach fotografiert hat, was das mit dem Gerät und der Umgebung angerichtet hat, ohne es nach bestimmten Kriterien zu ordnen oder noch einmal zu bearbeiten.

Truschner Sie haben es gewissermaßen gemacht wie Cage. Sie haben einen zeitlichen Rahmen in puncto Belichtung vorgegeben und festgehalten, was sich in diesem Zeitraum vor der Kamera tut, ohne zuvor Anweisungen zu geben oder währenddessen zu intervenieren.

Wesely: Das Hinnehmen des Ergebnisses ist ein wichtiger Teil dieser Art von Fotografie. Wie bei den "Screen Tests" von Andy Warhol. Bilder hinnehmen, sich damit einverstanden zu erklären, dass das Ergebnis nicht völlig beeinflussbar ist. Die Durchschnittsdauer bei den Porträts etwa hat sich im Lauf der Zeit auf fünf Minuten eingespielt. In diesen fünf Minuten gebe ich den Porträtierten nichts vor: Sie können versuchen, ruhig sitzen zu bleiben; sie können aber auch die Position wechseln oder zwischendurch aufstehen.

Truschner: Das erinnert mich an meine eigene Arbeit im Studio. Ich zeichne den Weg vor, aber wie mein Gegenüber ihn vor der Kamera zurücklegt, liegt teilweise nicht in meiner Hand, soll es auch nicht. Ich interveniere zwar, wenn ich eine spontane Idee habe, stelle diese aber zurück, wenn mein Gegenüber etwas anderes versuchen will.

Wesely: Bei mir geht es um ein Gewährenlassen. Und zwar auf beiden Seiten. Ich verlange ja dem Gegenüber einiges ab, es muss auf ein scharfes, klares Bild seiner selbst verzichten und mit der Unschärfe seines Porträts leben.

Michael Wesely: Gilberto Chateaubriand

Truschner Das hat in seinem Umgang mit der Zeit etwas Buddhistisches oder in seinem zeremoniellen Charakter etwas vom japanischen Shintoismus.

Wesely: Werden und Vergehen spielen nicht nur in den Porträts oder den Blumen-Stilleben, sondern in meiner Arbeit generell eine große Rolle. Ich greife nicht nach einem bestimmten Moment, sondern sammele viele davon in der immergleichen Geschwindigkeit. Wie Wasser, das aus der Leitung in ein Glas fließt.

Truschner:: Porträts werden damit nicht nur zu einem Bild der Porträtierten, sondern zu einer Allegorie der vergehenden Zeit.

Wesely: Im Grunde eine Allegorie des Lebens. Das ständig etwas geschaffen und dann von etwas anderem verdrängt oder überschrieben wird. Wie bei einem Palimpsest. Nie ist etwas fertig und abgeschlossen.

Truschner Was es auch nicht wäre, würde man die Belichtungszeit auf unendlich stellen.

Wesely: Genau.

Truschner Wie kam es von diesen richtungweisenden Versuchen dann zu den ikonischen Bildern am Potsdamer Platz und am MoMA?

Wesely: Ich habe 1987 begonnen, die Belichtungszeiten an reale Vorgänge zu koppeln. In meiner Serie "Reisezeit" etwa habe ich in einem Bahnhof einen abfahrenden Zug abgelichtet, der sechs Stunden nach Prag braucht. Und diese sechs Stunden Reisezeit waren dann die Belichtungszeit.

Truschner Ihre Arbeit ist im Grunde eine Form von Konzeptkunst.

Wesely: Absolut. Das nach allen Seiten sorgsam bedachte und dem Projekt substanziell eingeschriebene Konzept mit seinen geradezu metaphysischen Dimensionen ist der Dreh- und Angelpunkt. Sonst wäre das Ganze lediglich eine im Grunde sterile Form von technischer Trickserei.

Truschner Wobei die Technik natürlich eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

Wesely: Die Technik muss der Engel, und darf nicht der Teufel sein. Das war schon immer mein Leitspruch. (lacht) Dementsprechend habe ich ein Upgrade meiner Ausrüstung vorgenommen, um auf der Baustelle am Potsdamer Platz Kameras mit Belichtungszeiten von einem Jahr und mehr zu installieren. Ein Sache, die übrigens ohne Intervention von Daimler nie stattgefunden hätte, weil die öffentlichen Stellen, denen ich das Projekt präsentiert habe, kein Interesse hatten.

Truschner Was sonst.

Michael Wesely: Giverny

Wesely: Die Belichtungszeit von einem Jahr habe ich übrigens bei meinem neuem Projekt wieder eingesetzt. Ich habe Kameras vor Monets Seerosenteich in Giverny platziert. Es schien mir einfach perfekt, um dem Wandel der Jahreszeiten an diesem Ort den notwendigen Raum zu geben. Ich kann Ihnen mal einen Querschnitt zeigen.

Fotolot (nach Ansicht der schlicht bildschönen Serie): Könnte Monet das sehen, würde er zufrieden lächeln. Die müsste man ihnen ja förmlich aus den Händen reißen.

Wesely (lacht): Ganz so ist es nicht.

Truschner: Ich sehe hier Arbeiten, die mit den Langzeitbelichtungen offensichtlich nichts zu tun haben.

Wesely: Diese zweite Schiene meiner Arbeit, die im Gegensatz zu den Langzeitbelichtungen mit Lochkameras operiert, ist nicht so bekannt, aber mir genauso wichtig.

Truschner Das ist ja auf jedem Gebiet dasselbe. Man steht für etwas, das man erfunden oder eingebracht hat - in Ihrem Fall die Langzeitbelichtungen -, und wird dann darauf festgenagelt. Andere Aspekte der Arbeit stören dann geradezu.

Wesely: Genau. In dem Fall habe ich vor zwanzig Jahren begonnen, die Kamera selbst und ihre Öffnung zu manipulieren. 1990 habe ich eine Lochkamera gebaut und an touristisch bedeutsamen Orten in Salzburg zum Einsatz gebracht. Ich habe jedoch das Fotopapier an den Seitenwänden der Lochkamera befestigt und nicht gegenüber der Öffnung, wie es üblich ist. So konnte die Kamera nicht das anvisierte Bild aufzeichnen, sondern nur das Umfeld. Da, wo sonst der Dom ist, ist eine Leerstelle. Natürlich hat das auch wieder konzeptuelle Implikationen: Eine Sache nicht vom allseits bekannten Zentrum aus zu denken, sondern von ihren weniger bekannten Rändern.

Truschner Das spielt nicht nur in stadtplanerische Aspekte hinein oder in Überlegungen hinsichtlich der Steuerung von Touristenströmen, sondern schlägt ein Brücke zu Ihren Langzeitbelichtungen, wo es auch ums Ephemere und Fragile geht.

Wesely: Genau. - In weiterer Folge habe ich statt eines Lochs vertikale und horizontale Schlitze gemacht. Mit den Vertikalen bin ich durch die nächtlichen Straßenschluchten New Yorks gewandert, wo ich die beleuchteten Neonreklamen belichtet und die Serie "New York Verticals" gemacht habe. Mit dem horizonalen Spalt der Kamera habe ich auf den Spuren von Ansel Adams bis Stephen Shore die Serie "American Landscapes" gemacht. Ein magischer Moment war, als bei einer Dia-Präsentation an einer kalifornischen Uni ein Student anhand der abstrakten Farbmuster tatsächlich Zabriskie Point erkannt hat, wo ich das Foto aufgenommen habe.

Truschner: Das Ganze sieht nach Lichtinstallationen von Turrell oder Holzer aus.

Wesely: Ja. Das war natürlich für mich visuell auch interessant. Wir können zum Abschluss noch durch mein privates Archiv schauen.

Michael Wesely: Die Badenden

Ein Foto zieht meine Aufmerksamkeit auf sich: Das Zentrum des Bildes bildet eine Art Wolke - eine staubige Entladung aus Licht, dessen Wellen sich in alle Richtungen ausbreiten, bis sie in feinen, blitzartigen Mustern ihr Ende finden. Im Moment der Aufnahme werden zu einem Gebilde aus Energie und Bewegung, das in einer Badewanne Halt findet, die mit milchigem Wasser gefüllt ist - ein Rahmen, der den ersten Impuls, man habe in der Wolke den nackten Rücken einer Frau erkennen können, zur Gewissheit werden lässt. Und ist da nicht noch ein zweiter Körper? Arme und Beine, deren Größe jedoch nicht zu der Frau passen? Ein Puzzlestein fügt sich zum anderen, sodass sich der Verdacht, dass es sich um eine Mutter und ihr Kind handelt, die sich in der Badewanne vergnügen.

Wesely: Stimmt. Das sind meine Frau und meine Tochter.

Weselys Wolke ist eine helle Variante der schemenhaften Gebilde im Werk von Francis Bacon. Bacons "Landscape near Talabata" (1963) etwa ist dem Selbstmord seiner großen Liebe Peter Lacey gewidmet. Die dunklen Formationen können als Bäume am Friedhof gedeutet werden, aber auch als zwei von Begierden und Ängsten getriebene Entitäten, die Bacon und Lacey füreinander waren. Wo Bacon die Hinfälligkeit des Lebens fest in der Fleischlichkeit des Leibes verankert, kappt Wesely alle festen Verbindungen der menschlichen Existenz im Raum und überlässt sie dem Strom der Zeit, in dem alle Bewegungen des Körpers und des Geistes am Ende nichts als flüchtige, ins Formlose abdriftende Erscheinungen sind - letzte, grelle Zuckungen, bevor die Lichter ausgehen und wieder etwas Neues beginnen kann.

Truschner: Was steht als nächstes an?

Wesely: Im September gibt es eine Ausstellung im Mies van der Rohe-Pavillon in Barcelona. Etwas, das mich sehr freut, da mich van der Rohes Werk schon lange beschäftigt.

truschner.fotolot@perlentaucher.de
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