Magazinrundschau

Alles ist schnell, aber nichts zufällig

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
27.06.2023. Das New York Magazine besucht eine Klick-Fabrik, in der Menschen eine KI trainieren, die Menschen nachstellt, die eine KI bewerten. Die London Review of Books verfällt mit Ian Penman in einen Fassbinder-Rausch aus radikalem Denken und schlechtem Geschmack. Die Tunesier wollen durchaus Demokratie, aber noch dringender brauchen sie Brot, Wasser und Elektrizität, erkennt Eurozine. Aeon lernt von Emil Cioran, ein Verlierer zu sein. In HVG erzählt Andrea Tompa, wie Siebenbürgen seine dunkle Geschichte entsorgt. Der New Yorker schickte seine Kinder auf eine chinesische Reformschule.

New York Magazine (USA), 20.06.2023

Künstliche Intelligenz kann bekanntlich alles: Bilder erkennen, aus Texten Bilder entstehen lassen, visuelle Informationen synthetisieren und daraus etwas Neues schaffen - und so weiter. Was dabei gern vergessen wird: Hinter jeder KI steckt gigantische menschliche Arbeit, geleistet von Millionen von Klick-Arbeitern, die, über die ganze Welt verteilt, oft tagelang stumpfsinnig Bildmaterial mit Stichworten versehen, um eine KI mit den aufbereiteten Datenmengen zu versorgen, auf deren Grundlage sie dann ihre Zauberstücke aufführen kann. Die Honorare sind spärlich, die Auftragslage schwankend, aber die von den Auftraggebern erzielten Umsätze gigantisch, schreibt Richard Parry in seiner lesenswerten Reportage über diese sogenannten Labeler, die immer wieder aufs Neue bizarre Aufträge ("Markiere alle Bilder, auf denen ein Kleidungsstück zu sehen ist, das ein Mensch tragen könnte") abarbeiten müssen und oft gar nicht wissen, für welchen Auftraggeber sie da eigentlich arbeiten oder welchem Zweck ihre Arbeit überhaupt dient. "Als ChatGPT im vergangenen Jahr die Bühne betrat, schrieb man seinen beeindruckend natürlich wirkenden Gesprächsstil darauf  zurück, dass der Bot mit einem Schatz aus Onlinedaten trainiert wurde. Aber die Sprache, die ChatGPT und seiner Konkurrenz zugrunde liegt, wird durch viele Runden menschlicher Anmerkungen gefiltert. Eine Gruppe von Click-Arbeitern verfasst Beispiele dafür, wie sich die Macher das Verhalten des Bots wünschen: Sie entwickeln dabei Fragen, gefolgt von den richtigen Antworten, und Beschreibungen von Computerprogrammen, gefolgt von funktionalem Code, aber auch Nachfragen für Tipps, wie man ein Verbrechen begehen könnte, gefolgt von höflichen Ablehnungen. Nachdem das Modell anhand dieser Beispielen trainiert wurde, kommen weitere Mitarbeiter mit ins Boot, um Fragen einzutippen und die Antworten zu bewerten. ... Die Kriterien, die die Bewerter anlegen sollen, variieren dabei: Ehrlichkeit oder wie hilfreich eine Antwort ist, oder auch einfach persönliche Vorliebe. Der Punkt ist der, dass sie damit Daten zu menschlichen Vorlieben schaffen und wenn es davon erst einmal genug gibt, können die Macher ein zweites Modell schaffen, um deren Vorlieben flächendeckend nachzubilden. Dadurch wird der Bewertungsprozess automatisiert und ihre KI dahingehend trainiert, sich so zu verhalten, wie Menschen es begrüßen würden. Das Ergebnis ist ein bemerkenswert menschlich wirkender Bot, der die meisten schädlichen Anfragen ablehnt und sein KI-Wesen mit dem Anschein von Selbstwahrnehmung erklärt. Um es anders auszudrücken: ChatGPT scheint deshalb so menschlich, weil es von einer KI trainiert wurde, die Menschen nachstellt, die eine KI bewerten, die Menschen nachstellt, die vorgaben, eine bessere Version einer KI zu sein, die auf Grundlage von Menschen verfasster Texte trainiert wurde."

Wired (USA), 20.06.2023

Im Juli kommt Christopher Nolans Film "Oppenheimer" in die Kinos: Der neue Film des Blockbuster-Autorenfilmers - natürlich gedreht im großen Imax-Format - verspricht eine düstere Reise in die zerrissene innere Welt des Atombomben-Erfinders Robert Oppenheimer, der seinerzeit nicht ganz genau vorhersagen konnte, ob eine Atombombe womöglich die gesamte Atmosphäre des Planeten in Flammen setzen oder ob ihre Wirkung beschränkt bleiben würde. Dieser Film kommt genau zur richtigen Zeit, findet Maria Streshinsky - nicht nur, weil Russlands Angriff auf die Ukraine die längst eingemottet geglaubte Angst vor einem atomaren Krieg wieder aktuell gemacht hat, sondern auch weil der Siegeszug Künstlicher Intelligenz  düsterste Fantasien befügelt. Der Regisseur gibt sich im Gespräch mit Streshinsky allerdings gelassen: "Wenn wie die Ansicht stützen, dass KI allmächtig ist, dann stützen wir die Ansicht, dass sie Leute ihrer Verantwortung für ihr Handeln entheben kann - militärisch, sozioökonomisch, wie auch immer. Die größte Gefahr, die von KI ausgeht, ist die, dass wir ihr diese gottähnlichen Eigenschaften andichten und uns selber damit ziehen lassen. Ich weiß nicht, was die mythologische Grundlage dafür ist, aber in der ganzen Menschheitsgeschichte zeigt sich diese Neigung, falsche Idole zu schaffen, etwas nach unserem eigenen Bild zu schaffen und dann zu behaupten, wir haben gottähnliche Macht, weil wir das getan haben."
Archiv: Wired

London Review of Books (UK), 26.06.2023

Wenn der in Britannien kultisch verehrte Popkritiker Ian Penman in "Fassbinder. Thousands of Mirrors" über Rainer Werner Fassbinder schreibt, kann Owen Hatherley nur staunen, wie gut Penmans Mischung aus Post-Punk und französischer Theorie zu Fassbinders Mix aus radikalem Denken und schlechtem Geschmack passt. Stichwort: Kunst und Ware. "Es gab keinen logischen und schon gar keinen finanziellen Zwang, drei oder vier abendfüllende Filme pro Jahr zu drehen: Fassbinder tat es, weil es ihm Spaß machte, und vermutlich, um eine Art Trieb zu befriedigen. Wenn man in einen Fassbinder-Rausch verfällt - Penman erzählt hier von einigen - fällt oft auf, wie gut die Filme sind, und zwar nicht trotz, sondern wegen dieser Überproduktion. Selten wünscht man sich, er hätte das Tempo gedrosselt, gelernt, seine Filme 'handwerklich' zu gestalten, über ihnen geschwitzt. Ein Teil des Vergnügens liegt in der Art, wie gut ihre stachelige Unfertigkeit, ihre rohen Darbietungen und Folgefehler neben der üppigen Kinematografie, den extravaganten Kleidern und der großartigen Musik funktionieren. Die zahllosen kitschig-modernistischen Interieurs sind ebenso Stars wie die Schauspieler. Alles ist schnell, aber nichts zufällig. Die Schauspieler in den Melodramen von Mitte der 1970er Jahre, schreibt Penman, sehen aus 'wie ganz normale (müde, zerstreute, unbedeutende, träge, zurückgebliebene) Menschen: die Dinge, die sie tragen, die Art, wie sie lümmeln, rauchen, trinken, essen, ins Leere starren'; sie sind umgeben von Siebzigerjahre-Ramsch, den 'grellen, knalligen Farben der neuen Konsumgesellschaft', die einen halluzinatorischen Effekt erzeugen, 'als wäre der Alltag selbst eine Droge'. Kitsch ist für Fassbinder von entscheidender Bedeutung, sowohl in seinem persönlichen Geschmack (der Mann war kein Minimalist) als auch in seiner konventionelleren modernistischen Überzeugung, dass Kitsch immer dazu da ist, etwas zu verbergen. Penman behauptet, Fassbinder sei von den 1930er Jahren besessen, aber da bin ich mir nicht sicher... Fassbinders eigentliche Obsession waren die fünfziger Jahre und das von den USA finanzierte Wirtschaftswunder in Westdeutschland. In seinen Filmen ging es nicht darum, wie eine Gesellschaft faschistisch wird, sondern darum, wie eine eben noch faschistische Gesellschaft Kleider, Autos, Wohlstand und Reichtum, Sex und Macht als Mittel gebraucht, um zu vermeiden, dass sie über ihren Aufstieg aus rauchenden Ruinen nachdenkt - ganz zu schweigen von ihrer eigenen Duldung (oder noch schlimmer) des Völkermords. Fassbinders Wut auf das deutsche Bürgertum war nicht die übliche Verachtung für Bequemlichkeit und Heuchelei; es war eine glühend heiße Wut darüber, dass ein Volk, das für solche Schrecken verantwortlich war, so selbstgefällig sein konnte." Heute, meint Penman übrigens, würde sich Rainer Werner Fassbinder in der neuen Medienwelt tummeln, ach was, er wäre der König dieses "wilden zerfetzten Reiches", er würde TikTok-Videos drehen und einen Podcast über Schlager und Sexpolitik moderieren. Warum nur interessiert sich Social Medien kein bisschen für RWF?

Weiteres: In einem schier endlosen Essay befasst sich Amia Srinavasan mit der Rede- und Wissenschaftsfreiheit an britischen und amerikanischen Universitäten und kommt zu dem Ergebnis, dass die Linken viel Radau machen, die Rechten dagegen die Gesetze verschärfen.

Africa is a Country (USA), 26.06.2023

Schön, dass die südafrikanische Autorin und Journalistin Noni Jabavu wieder entdeckt wird, freut sich Khanya Mtshali, die genau weiß, aus welch bedeutender Familie die 1919 geborene Jabavu kam: Ihr Großvater war der erste schwarze Herausgeber einer Zeitung, die auf Xhosa und Englisch erschien, ihr Vater ein berühmter Wissenschaftler, ihre Mutter eine engagierte Sozialaktivistin. Dennoch tut sich Mtshali schwer, Jabavu als eine Pionierin des schwarzen Feminismus zu betrachten, wie es offenbar die Herausgeberinnen des Bandes "A Stranger at Home" tun: "Anders als einige ihrer jüngeren Kollegen wuchs sie nicht unter den Grausamkeiten des Apartheidregimes auf und stürzte sich auch nicht in ein Leben des politischen Aktivismus, der Theorie oder des Schreibens, um die Befreiung der Schwarzen voranzutreiben. Auch wenn sie in ihren Kolumen des Daily Dispatch den Rassismus missbilligte, vertrat sie elitäre Ansichten, die typisch für die Klassenposition waren, die ihre Familie in Südafrika innehatte und die sie später in Großbritannien und anderen Teilen der Welt einnehmen sollte. In einer ihrer Kolumnen spricht Jabavu stolz davon, dass sie zum Stammbaum von 'Kap-Liberalen wie Cronwright, Hofmeyer, Jabavu, Rose Innes, Molteno, Schreiner, Merriman, Sauer' gehöre, und freut sich über ihre Nähe zu 'englischen Tycoons, der Oberschicht, Bankiers, konservativen Liberalen', spricht über ihre Ehe mit ihrem Ex-Mann Michael Cadbury Crosfield, einem Verwandten des Gründers des Schokoladenunternehmens Cadbury, und offenbart ein Leben mit Dienstmädchen, Butlern, Lakaien, Dienern, Anstandsdamen und Chauffeuren in ihrem Dienst. In einer von Peter Kenny verfassten Einleitung zu 'Noni on Wednesdays' beschreibt sie ihre persönliche und familiäre Geschichte wie folgt: 'Der Zufall der Geburt hat Menschen wie mich hervorgebracht, die seit fünf schwarzen Generationen hier in Südafrika zur Mittelschicht, ja zur Oberschicht gehören. Landbesitzer, Politiker, Pädagogen, Anwälte, Ärzte und Schriftsteller. Habe ich nicht Glück, eine von ihnen zu sein?"

Aeon (UK), 26.06.2023

Costica Bradatan gönnt sich eine Auszeit vom pragmatisch-positiven Denken und lässt sich von Emil Cioran in Nihilismus unterweisen: "Wenn wir die Welt verstehen wollen, müssen wir aufhören zu handeln: Wir müssen sie betrachten. Kontemplation und Aktion sind Erzfeinde. Das Nichtstun bringt einen Blickwinkel hervor, aus dem man alles mit kosmischer Gelassenheit betrachten kann. Der Müßiggang führt zu einem tiefen Blick und einer wahrhaft philosophischen Perspektive. Cioran gewann seine größten Einsichten nicht aus Büchern oder schicken Schulen, sondern aus ziellosen Spaziergängen durch Paris und aus seinen Nächten mit schrecklicher Schlaflosigkeit. Er lernte die Philosophie nicht von Professoren, sondern aus Gesprächen mit Bettlern, Säufern und Prostituierten. Auf den Spuren anderer großer Müßiggänger der kontemplativen Tradition - wie Herman Melvilles Bartleby oder Iwan Gontscharows Oblomow - war Cioran in einer guten Position, um die Weiten des Nichts zu erforschen, die unserer Entstehung vorausgehen und die ihr folgen werden. Der Leere ins Gesicht zu sehen, war seine alles verzehrende Aufgabe, auch wenn er die meiste Zeit seines Lebens arbeitslos war. Nachdem er auf diese Weise "die Offenbarung der universellen Bedeutungslosigkeit" erfahren hatte, beschloss Cioran, dass die bestmögliche soziale Existenz das Leben eines Parasiten wäre - eines Verlierers. In einer bedeutungslosen Welt, so stellte er fest, 'ist nur eines wichtig: zu lernen, der Verlierer zu sein'. Das Verlierertum anzunehmen, das Beste daraus zu machen, mit ihm eins zu werden, wurde das große Projekt seines Lebens."
Archiv: Aeon

Eurozine (Österreich), 21.06.2023

"Wir glauben, dass die Demokratie noch nicht endgültig gestorben ist, solange es noch Tunesier gibt, die um sie kämpfen." Das ist auch schon der größte Hoffnungsschimmer, den Larbi Sadiki und Layla Saleh anzubieten haben in ihrem Überblicksessay über den Verfall der demokratischen Strukturen in Tunesien seit dem de-facto-Coup des Präsidenten Kais Saied im Juli 2021. Schritt für Schritt hebelt Saied seit seiner Machtübernahme Prinzipien der Gewaltenteilung und der politischen Kontrolle aus. Dabei galt Tunesien vorher als die einzige demokratische Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings von 2011. Sadiki und Saleh zeichnen freilich nach, wie die durch Parlamentswahlen in den Jahren 2014 und 2019 nur scheinbar stabilisierte tunesische Demokratie von Anfang an mit Geburtsfehlern behaftet war. Das betrifft zum einen institutionelle Probleme wie die Abwesenheit einer - konstitutionell durchaus vorgesehenen - Verfassungsgerichtsbarkeit. Mindestens genauso ist laut den Autoren freilich die Vernachlässigung sozialer Faktoren, die sich in einem weitverbreiteten Misstrauen gegenüber parlamentarischen Prinzipien niederschlägt: "Die Probleme und Kämpfe der Marginalisierten drehen sich um Fragen nach 'Brot und Butter'. Aber seit der Präsidentschaft Hedi Nouiras in den 1980ern wurden die neoliberalen Modelle wirtschaftlicher Entwicklung vermittels kapitalistischer Wertschöpfung nicht auf eine stärkere Inklusion der Bevölkerung hin erweitert. Politische Souveränität wurde über eine sichere Ernährung gestellt. Die Marginalisierten verfügen durchaus über eine politische Kultur. Und diese ist durchaus demokratisch: Sie protestieren und sterben für ihre Rechte und Forderungen. Sie sind nicht intolerant; aber sie finden sich nicht damit ab, als Bürger zweiter Klasse in Regionen zu leben, in denen Wasser und Elektrizität rationiert sind und Schulen und Krankenhäuser basalen Ansprüchen nicht genügen."

Der russische Journalist Wladimir Kara-Mursa , der zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, macht sich aus dem Gefängnis heraus Gedanken über Russlands Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten. Fatalisten, die eine stabile Demokratisierung des Vielvölkerstaates für unmöglich halten, widerspricht er vehement und verweist auf eine lange "europäische Tradition" im Land, die sich als Teil einer Demokratiebewegung auf Augenhöhe mit westeuropäischen Staaten begreift. Ansonsten macht er sich bereits Gedanken über die Zeit nach Putin: "Die zentrale Lektion, die unser Land aus dem Scheitern der demokratischen Reformen der 1990er gelernt hat, ist, dass das Böse wiederkehrt, wenn es nicht verstanden, verurteilt und bestraft wird. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes hätten alle Archive geöffnet werden müssen. Die Verbrechen des vorherigen Regimes hätten bestraft und die verantwortlichen Institutionen, wie der KGB, konsequent zerschlagen werden müssen. Das hätte nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen geschehen müssen, sondern auch, um einen Rückfall in den Autoritarismus zu verhindern."
Archiv: Eurozine

Novinky.cz (Tschechien), 20.06.2023

Štěpán Kučera unterhält sich mit dem tschechischen Politologen Jaroslav Bílek über die diversen Formen von hybriden Regimen, unter denen er Regierungen versteht, die sich auf halbem Weg zwischen einer vollständigen Demokratie und einer traditionellen Diktatur befinden - in beide Richtungen: "Die häufigste Form von hybriden Regimen", so Bílek, "sind gegenwärtig die sogenannten Wahlautokratien, für die typisch ist, dass sie auf dem Papier und aus sehr weiter Entfernung demokratisch aussehen, deren führende Politiker aber mehr oder weniger autoritär regieren. Hier kommt es zur Beschränkung der Pressefreiheit, der politischen Rechte Einzelner oder der Opposition. Eine irgendwie vorhandene Opposition kann in diesen Ländern zwar jedes Mal an den Wahlen teilnehmen, ihre Siegchancen sind jedoch dadurch vermindert, dass die Regierung die Spielregeln zu ihrem eigenen Vorteil ummünzt." Bíleks Befürchtung ist, dass Wahlautokratien so schnell nicht verschwinden werden, zu abstrakt seien für viele Menschen die Demokratie und ihre Werte: "Außerdem tritt immer offener zutage, dass die geopolitisch einflussreichen Staaten und mächtigen internationalen Institutionen zwar rhetorisch Demokratien unterstützen, in der Praxis aber eher im eigenen Interesse agieren. Ein typisches Beispiel dafür sind die jüngsten Wahlen in der Türkei. Es besteht kein Zweifel, dass die gegenwärtige Türkei eine Wahlautokratie ist, was den amerikanischen Präsidenten Joe Biden jedoch nicht daran gehindert hat, als einer der Ersten dem Wahlsieger zu gratulieren, weil die Türkei ein wichtiger Partner für die USA ist. Und die Europäische Union hat trotz aller Bekenntnisse zur Demokratie die Entwicklung einer Autokratie in einer ihrer Mitgliedstaaten - Ungarn - zugelassen."
Archiv: Novinky.cz

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.06.2023

Der bisherige Generaldirektor der Ungarischen Staatsoper darf weiter im Amt bleiben, obwohl selbst die von der Regierung beauftragte Findungskommission seine Bewerbung an letzter Stelle platzierte. Das kann Gábor Gadó nur gallig kommentieren: "Wenn es der Ministerpräsident nicht anders macht, was können wir dann vom Generaldirektor der Ungarischen Staatsoper erwarten? Frisch in seinem Amt bestätigt, verfügte er als erstes, dass dem leitenden Dirigenten mit "sofortiger Wirkung" gekündigt wurde, denn dieser hatte sich ebenfalls um den Posten des Generaldirektors beworben. Die Findungskommission bewertete diese Bewerbung weitaus besser, als die des amtierenden Generaldirektors, der übrigens auf dem letzten Platz der Bewerberliste landete. Die prompte Entlassung wurde mit dem üblichen Personalkarussell nach Regierungswechseln verglichen, aber es heißt auch, dass der Künstler weiterhin als Gastdirigent tätig sein kann. Das Verblüffende an der Geschichte ist weniger, dass der Generaldirektor die unterschiedlichen Praktiken einer Kündigung verwechselte. Die hässliche Nachricht der Kündigung zeigt die Essenz des Systems: Bei der Staatsoper und darüber hinaus soll jeder begreifen, dass ein Sieger alles darf und der Verlierer lediglich im stillen Abgang etwas Hoffnung finden kann."
Stichwörter: Ungarische Kulturpolitik

HVG (Ungarn), 22.06.2023

In einem Interview mit Boróka Parászka spricht die Schriftstellerin Andrea Tompa unter anderem über das in Ungarn dominierende Siebenbürgen-Bild, ihren Roman "Omertà" und die Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen, die weder die rumänische noch die ungarische Seite annehmen möchte: "Sichtbar und oft propagiert ist das homogene, sagenumwobene und dörfliche Siebenbürgen. Wir aber, die über Siebenbürgen schreiben, von András Visky bis Gábor Vida, zeigen ein anderes. Diese Welt ist weder homogen noch archaisch und überhaupt nicht dörflich. Ich bevorzuge es über die Geschichte der ungarischen Gesellschaft in Rumänien zu sprechen, denn es geht nicht um die Alleinstellung von Siebenbürgen oder um das Inselhafte, sondern darum, dass diese Region Teil Rumäniens ist ... Mein Eindruck ist, dass Geschichten wie in meinem Buch in den Künsten nicht sichtbar sind, nicht einmal im Film. Interessanterweise spricht der rumänische Film und insbesondere das Kino von Radu Jude immer öfter über den Holocaust, wenn auch aus seiner Perspektive Siebenbürgen keine Rolle ist. Und der Holocaust in Nord-Siebenbürgen fehlt sowohl in der ungarischen wie auch in den rumänischen Holocaust-Narrativen."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 03.07.2023

Wie unterschiedlich Kinder in den USA und in China lernen, erlebten die Zwillingstöchter von Schriftsteller Peter Hessler am eigenen Leib, als sie für zwei Jahre an einer chinesischen Reformschule unterrichtet wurden. Das System an der Chengdu Experimental Primary School ist, obwohl es sich ursprünglich mal an John Deweys Prinzip des Learning by Doing orientiert hatte, streng konkurrenz- und leistungsbezogen - und von der Ideologie durchzogen, die Peking vorgibt. "Während das amerikanische Schulsystem Wert legt auf kleine Klassen, tendiert das chinesische System eher dazu, den Fokus auf Effizienz und Spezialisierung zu legen. Eine typische Grundschullehrerin in den USA unterrichtet alle Fächer, wohingegen Lehrerin Zhang nur Chinesisch unterricht. Sie wird dabei von einer Referendarin unterstützt, die ebenfalls nur dieses Fach unterrichtet, ein anderer Lehrer unterrichtet Mathematik, wieder ein anderer Englisch und so weiter. Den ganzen Tag über bewegen sich die Kinder kaum von ihren Plätzen. Das Mittagessen wird auf einem Metallwagen ins Klassenzimmer gebracht und die Kinder essen an ihren jeweiligen Tischen, wie kleine Workaholics. Während des Unterrichts sitzen sie mit beiden Füßen fest auf den Boden gestellt und den Armen akkurat über dem Tisch gefaltet. Wenn ein Lehrer ein Kind aufruft, steht es auf, bevor es spricht. Wenn eine Schülerin im Matheunterricht einen Strich in einem Gleich- oder Divisionszeichen oder ein Minus aufzeichnet, muss sie dafür ein Lineal benutzen. Eine Weile lang war es für die Mathelehrerin okay, dass die Zwillinge Cai Cai und Rou Rou die mathematischen Symbole freihändig geschrieben haben, aber dann hat sie begonnen, Punkte dafür abzuziehen und sie haben sich schnell daran gewöhnt, Lineale zu benutzen. Diese Disziplin ist Teil der allgemeinen Bedeutung, die der Effizienz zugeschrieben wird: Wenn Kinder ordentlich sind, verschwenden sie weniger Zeit. Das System verlässt sich auch auf die vollumfängliche Unterstützung der Eltern, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, in der Sache mitzureden. Ihnen wird, mit seltenen Ausnahmen wie Foto-Gelegenheiten, davon abgeraten, das Schulgelände zu betreten. In der App WeChat sind die Eltern sehr engagiert dabei, sich darum zu kümmern, dass etwa Gebühren bezahlt werden und administrativen Aufgaben nachgegangen wird, zudem schreiben sie über alle möglichen anderen Themen von Hausaufgaben bis Schuluniformen. Ich habe aber niemals gesehen, dass irgendjemand versucht hätte, die Lehrerin zu belehren. Es gibt keine Vorschläge, keine Beschwerden, keine Kritik. Die Botschaft, die die Schule vermittelt, ist klar: Wir haben hier die Kontrolle."

Deutlich launiger, wenn auch nicht ohne Ernst, lesen sich da die Ausführungen der populären Altphilologin Mary Beard zu den römischen Kaisern und ihrem Ab- und Weiterleben. Einige schillernde Charaktere haben sich da im Imperium angesammelt, erzählt sie fröhlich, nicht alle haben ein friedliches Ende gefunden: "Elagabalus war ein Teenager aus Syrien, der 218 n.Chr. Kaiser wurde, ein von Mutter und Großmutter orchestrierter Griff nach der Macht, wie man sich erzählt hat. Er ist schnell als extravaganter (und gelegentlich sadistischer) Gastgeber bekannt geworden. Auf seinen Dinnerparties wurden oft Delikatessen serviert, die sogar nach römischen Standards als exotisch zu betrachten sind, so wie Kamelfüße und Flamingohirne. Es hat zu seinem Arsenal an Partyspäßen gehört, Furzkissen (übrigens die ersten in der europäischen Überlieferung) auf Sofas zu verteilen, Fake-Essen aus Wachs oder Glas an weniger wichtige Gäste zu servieren, die dann den Abend damit verbracht haben, erhabeneren Gästen beim Genuss der Mahlzeiten zuzusehen, und zahme Löwen, Bären und Leoparden zwischen Besuchern freizulassen, die dabei waren, ihren Rausch auszuschlafen. Für manche war der Schock, sich beim Erwachen zwischen den Tieren wiederzufinden, so groß, dass sie wortwörtlich zu Tode erschrocken sind. Angeblich hat er seine Gäste auch einmal unter einem so grandiosen Blütenregen begraben, dass sie daran erstickt sind. Ist es da noch überraschend, dass Elagabalus von verärgerten Leibwachen gemeuchelt und sein Körper äußerst unfeierlich im Tiber versenkt wurde?"
Archiv: New Yorker