Magazinrundschau - Archiv

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Magazinrundschau vom 27.06.2023 - Aeon

Costica Bradatan gönnt sich eine Auszeit vom pragmatisch-positiven Denken und lässt sich von Emil Cioran in Nihilismus unterweisen: "Wenn wir die Welt verstehen wollen, müssen wir aufhören zu handeln: Wir müssen sie betrachten. Kontemplation und Aktion sind Erzfeinde. Das Nichtstun bringt einen Blickwinkel hervor, aus dem man alles mit kosmischer Gelassenheit betrachten kann. Der Müßiggang führt zu einem tiefen Blick und einer wahrhaft philosophischen Perspektive. Cioran gewann seine größten Einsichten nicht aus Büchern oder schicken Schulen, sondern aus ziellosen Spaziergängen durch Paris und aus seinen Nächten mit schrecklicher Schlaflosigkeit. Er lernte die Philosophie nicht von Professoren, sondern aus Gesprächen mit Bettlern, Säufern und Prostituierten. Auf den Spuren anderer großer Müßiggänger der kontemplativen Tradition - wie Herman Melvilles Bartleby oder Iwan Gontscharows Oblomow - war Cioran in einer guten Position, um die Weiten des Nichts zu erforschen, die unserer Entstehung vorausgehen und die ihr folgen werden. Der Leere ins Gesicht zu sehen, war seine alles verzehrende Aufgabe, auch wenn er die meiste Zeit seines Lebens arbeitslos war. Nachdem er auf diese Weise "die Offenbarung der universellen Bedeutungslosigkeit" erfahren hatte, beschloss Cioran, dass die bestmögliche soziale Existenz das Leben eines Parasiten wäre - eines Verlierers. In einer bedeutungslosen Welt, so stellte er fest, 'ist nur eines wichtig: zu lernen, der Verlierer zu sein'. Das Verlierertum anzunehmen, das Beste daraus zu machen, mit ihm eins zu werden, wurde das große Projekt seines Lebens."

Magazinrundschau vom 25.04.2023 - Aeon

Die VerGANGENheit heißt gerade auch in der deutschen Sprache nicht umsonst so. Alle unsere Begriffe und Auffassungen von Zeit und Zeiterfahrung gründen in unserer Art der Fortbewegung und wahrnehmungsbedingten Raumstrukturierung - also darin, wie wir körperlich determiniert sind, schreibt der Psychologe David Borkenhagen: Die Zeit schreitet voran, das Gestern liegt hinter uns. Von dieser Beobachtung aus ist es sehr reizvoll, sich einmal näher mit dem Oktopus zu befassen, empfiehlt er. Dieser verfügt ja nicht nur über eine erstaunliche operative Intelligenz, die ihm auch planvolles Taktieren für Zukunftsszenarien gestattet, sondern kennt zugleich mit seinem Nahezu-Rundumblick und seiner totalen Fortbewegungsflexibilität kein Hinten und Vorne. "Wenn die körperlichen Interaktionen mit unserer Umgebung die menschlichen Metaphern für Zeit begründen, dann kann man sich ausmalen, auf welche Metaphern ein Oktopus wohl zurückgreifen würde. Dass er mit Objekten vor und hinter seinem Körper auf völlig gleichberechtige Weise umgehen kann, lässt vergangene Ereignisse auf rein metaphorischer Ebene ebenso manipulierbar erscheinen wie zukünftige. Ausdrücke wie 'Lassen wir die Vergangenheit hinter uns' wären für den Oktopus ohne Belang. Ja mehr noch, da der Oktopus seine visuelle Perspektive auf seine Umgebung verändern kann, indem er nach oben schwimmt, mögen alle Ereignisse in der Zeit - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - von einem metaphorischen, weiten Fluchtpunkt aus betrachtet werden, was es gestatten würde, Muster in Ereignissen zu erkennen, die sich über lange Perioden erstrecken. Wenn Menschen sich solche, vom Oktopus inspirierte Zeit-Metaphern aneignen würden, könnte unser Verhältnis zur Vergangenheit an Bedeutung gewinnen. Die Vergangenheit könnte sich lose mit der Gegenwart verbinden und uns gestatten, unsere Aufmerksamkeit von unserer kulturell bedingten Obsession mit zukunftszentriertem Fortschritt zu lösen." Ein überaus anregendes philosophisches Gespräch über Kraken, Oktopusse und deren beeindruckende Intelligenz findet sich im übrigen im Archiv des Dlf Kultur.
Stichwörter: Oktopus, Zeit, Psychologie

Magazinrundschau vom 02.02.2021 - Aeon

Der britische Jurist Bernard Freamon, Spezialist für islamisches Recht, blickt auf die sechs superreichen arabischen Stadtstaaten am Persischen Golf und sieht - Sklavenhaltergesellschaften. "Sklaverei und Sklavenhandel bildeten einen wichtigen Teil ihrer Handelsgeschichte, insbesondere nach dem Aufkommen des Islam. Afrikaner, Belutschen, Iraner, Inder, Bangladescher, Südostasiaten und andere aus den Küstenregionen des Indischen Ozeans wurden stetig und unfreiwillig in immer größerer Zahl in den Golf transportiert, um dort als Hausangestellte, Dattelpflücker, Seeleute, Steinmetze, Perlentaucher, Konkubinen, Wächter, Landarbeiter, Hilfsarbeiter und Viehzüchter zu arbeiten. Historiker haben festgestellt, dass es im 18. und 19. Jahrhundert, während der Blütezeit des Sklavenhandels im Indischen Ozean, einen großen Aufschwung des Sklavenhandels in der Region gab. Viele Familien am Persischen Golf wurden durch diesen Aufschwung sehr wohlhabend. Dies ist der Hintergrund für das, was sich als ein sehr hässlicher und trauriger Aspekt des spektakulären Aufstiegs der zeitgenössischen Gesellschaftsordnungen in den sechs Stadtstaaten am Golf herausstellt. Jeder von ihnen ist ein Beispiel - und vielleicht das einzige Beispiel, das heute auf der Welt existiert - für das, was der Soziologe Moses Finley (1912-86) eine 'echte Sklavengesellschaft' nannte." Im Folgenden macht Freamon das vor allem an der Behandlung der Migrantenarbeiter fest.

Magazinrundschau vom 26.02.2019 - Aeon

Der Arabist Bruce Fudge liest dreißig Jahre nach seinem Erscheinen nochmal Salman Rushdies Roman "Die Satanischen Verse", der über der Rushdie-Affäre fast in Vergessenheit geriet und doch ein epochales Werk war. Rushdie schrieb ihn noch mit einem fast ans 18. Jahrhundert erinnernden Aufklärungsoptimismus, so Fudge. Eine seiner Ideen ist, dass sich das fiktionale Erzählen als weiße Magie gegen die schwarze der heiligen Texte stellen sollte. Und es gibt sozusagen eine Vorläufer-Figur des Erzählers im Roman selbst: "Die 'Satanischen Verse' erzählen unter anderem in stark fiktionalisierter Weise die Geschichte des Ibn Abi Sarh, des Schreibers von Mohammed, der die Offenbarung aufschrieb, wenn der Prophet sie rezitierte. Verschiedene Quellen sagen uns, dass Ibn Abi Sarh beim Diktat noch weiterschrieb, nachdem Mohammed aufgehört hatte zu sprechen, um Sätze mit Wörtern zu beenden, die er für die richtigen hielt. Als seine Ergänzungen entdeckt wurden, schüttelte man ihn. Wie sollten dies die Worte Gottes sein? Sie waren seine eigenen! Er verschwand und lief über zu den Feinden des Propheten. Nachdem die Muslime Mekka erobert hatten und der Islam triumphierte, verlangte Mohammed, dass Ibn Abi Sarh neben anderen Apostaten getötet werden sollte. Man überzeugte ihn, gegenüber seinem ehemaligen Schreiber Gnade walten zu lassen, aber später drückte er sein Bedauern aus, dass seine Gefolgsleute ihm nicht einfach den Kopf abgeschnitten hatten."

Magazinrundschau vom 15.05.2018 - Aeon

Immer stärker werden die Konvulsionen des amerikanischen Rassismus-Diskurses, der ja schon dazu geführt hat, dass auch hierzulande wieder unbedarft von Rassen gesprochen wird. Tim Whitmarsh warnt jetzt davor, rassische Kategorien auch dem Denken des antiken Griechenlands überzustülpen. Die Marmorstatuen waren nicht weiß, und Homer hat nicht in Schwarz und Weiß gedacht, selbst wenn er Achill dunkel nennt. "Einen Griechen weiß zu nennen, bedeutete, ihn zu effiminieren. Und Odysseus, umgekehrt, als schwarz zu beschreiben, hieß, ihn mit dem rauen Outdoor-Leben zu assoziieren, das er auf dem felsigen Ithaka verbrachte. Zu fragen, ob Achill und Odysseus weiß oder schwarz waren, hieße, Homer falsch zu verstehen. Seine farblichen Begriffe sollen Menschen nicht in rassische Kategorien einteilen, sondern sie als Individuen charakterisieren, seine subtilen poetischen Assoziationen verflüchtigen sich, wenn wir blond durch braun ersetzen, gebräunt durch schwarz (oder umgekehrt). Für die Griechen war die Welt einfach nicht in Schwarz und Weiß geteilt. Das ist eine bizarre Idee der modernen westlichen Welt, ein Produkt vieler verschiedener historischer Kräfte, vor allem des transatlantischen Sklavenhandels und der kruderen Aspekte der Rassentheorie des 19. Jahrhunderts. In Rom oder Athen sprach niemand von schwarzen oder weißen Völkern. Griechen bemerkten zwar eine unterschiedliche Schattierung in der Pigmentierung, und sie unterschieden sich selbst von den dunkleren Völkern Afrikas und Indien, manchmal auch in aggressiven, abwertenden Begriffen, die wir heute rassistisch nennen würden; aber sie unterschieden sich selbst auch von den helleren Völkern des Nordens. Die Griechen dachten von sich selbst nicht als weiß." Und wenn, dann waren die anderen höchstens Barbaren!

Magazinrundschau vom 20.03.2018 - Aeon

Nicht nur Menschen können von links nach rechts wechseln - auch Begriffe können es, lernt man von Martin Jay, Professor für Europäische Geschichte in Berkeley. Der vielleicht populärste Begriff in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren, das Elend des Kapitalismus zu beschreiben, war "Entfremdung", ein Begriff, den heute kein Linker mehr benutzen würde: "In der Blütezeit des marxistischen Humanismus konnte Entfremdung verstanden werden als Teil einer kapitalistischen Produktionsart, die jede Möglichkeit nicht entfremdeter Arbeit hintertrieb. Aber dann begann die Linke 'Klasse' weniger wichtig zu finden und sich mit Kultur statt Produktionsbedingungen zu befassen. Als linke Politik begann, die Toleranz der Unterschiedlichkeit zu feiern, wurde sie wachsamer, was die Stigmatisierung des Fremden anging - den Fremden im Innern eingeschlossen. Statt 'abgerundete Ganzheit' oder das Eintauchen ins warme Bad der gemeinsamen Einheit zu suchen, ging es bei diesem politischen Wechsel darum, die Tugenden wechselnder Identitäten und die Zerstreuung in einer Diaspora anzuerkennen. Feindschaft gegenüber dem fremden 'Anderen' sowohl außer- wie innerhalb ist jetzt auf die Seite der populistischen Rechten gewandert."

Magazinrundschau vom 25.10.2016 - Aeon

Benjamin Peters erzählt auf Aeon die Geschichte des sowjetischen Internets, von dem sich dessen Mastermind Wiktor Gluschkow nicht weniger versprach als einen Siegeszug des "elektronischen Sozialismus" auf Grundlage der Kybernetik - und dabei an den Borniertheiten der sozialistischen Elite scheiterte. "Die Kräfte, die das OGAS-Projekt zum Erliegen brachten, ähneln jenen, die auch die Sowjetuntion in die Knie zwangen: Subversive Minister, am Status-Quo hängende Bürokraten, nervöse Fabrikchefs, verwirrte Arbeiter und sogar einige Wirtschaftsreformer opponierten dagegen, weil es in ihrem institutionellen Eigeninteresse lag. ... Der Sowjetstaat scheiterte daran, seine Nation zu vernetzen, nicht etwa, weil er zu rigide oder zu sehr von oben nach unten durchregierte wurde. Sondern weil er in der Umsetzung zu unentschlossen und zu tückisch war. Darin liegt eine gewisse Ironie. Die ersten globalen Computernetzwerke entstanden in den USA dank einer gut regulierten, staatlichen Finanzaustattung und kollaborativer Forschungszusammenhänge, während zeitgleich (und davon bemerkenswert unabhängig) die nationalen Netzwerkversuche der UdSSR wegen unregulierter Wettbewerbe und institutioneller Grabenkämpfe zwischen den sowjetischen Administratoren strauchelten. Das erste globale Computernetzwerk verdankt seine Existenz Kapitalisten, die wie kooperative Sozialisten handelten, und nicht Sozialisten, die sich wie konkurrierende Kapitalisten benahmen."

In einem Telepolis-Kommentar widerspricht Marcus Hammerschmidt letzterem allerdings ein wenig: "Viel eher hatten sich im sowjetischen Staatsapparat quasifeudale Strukturen breitgemacht, bei denen die einzelnen Minister und Parteigranden ihre Kompetenzbereiche wie kleine Könige verteidigten."

Magazinrundschau vom 17.05.2016 - Aeon

Wenn es um Künstliche Intelligenz geht, werfen selbst Technik-Visionäre wie Stephen Hawking, Bill Gates und Elon Musk Schreckensszenarien über denkende, die die Menschheit versklavende Computer an die Wand, stöhnt Luciano Floridi, Professor für Philosophie und Informationsethik in Oxford. Ultraintelligenz, also Künstliche Intelligenz, die die menschliche Intelligenz übersteigt, kann zwar nicht logisch ausgeschlossen werden, sei jedoch höchst unplausibel: "Digitale Technologien können mehr und mehr Dinge besser als wir, da sie auf immer mehr Daten zurückgreifen und ihre Leistung verbessern, indem sie ihren eigenen Output als Input für die nächsten Operationen analysieren. AlphaGo, das von Google DeepMind entwickelte Computerprogramm, besiegte im Brettspiel Go den weltbesten Spieler, indem es auf eine Datenbank mit 30 Millionen Zügen zurückgreifen und seine Leistung in tausenden Partien gegen sich selbst steigern konnte. Es ist wie ein Zwei-Messer-System, das sich selbst schleifen kann. Was ist der Unterschied? Derselbe wie zwischen Dir und einer Spülmaschine, wenn es um den Abwasch geht. Was folgt daraus? Dass jede apokalyptische Vision bezüglich AI getrost verworfen werden kann. Wir, nicht Technologie, sind und werden in absehbarer Zeit das Problem sein."

Dazu passend geht Adrienne Mayor der Frage nach, was Entwickler von Künstlicher Intelligenz aus der griechischen Mythologie lernen können.

Magazinrundschau vom 03.05.2016 - Aeon

Steven Nadler, Professor für Philosophie und Judaistik in Wisconsin, gehörte im Jahr 2012 zu einem Beraterstab der Jüdischen Gemeinde von Amsterdam, die überlegte, den berühmten Bann gegen Baruch Spinoza, der von der portugiesisch-jüdischen Gemeinde im Jahr 1656 verhängt worden war, aufzuheben. Es war die strengste Strafe, die diese Gemeinde je gegen ein Mitglied verhängt hatte. Aber auch im Jahr 2012 beließ sie es noch bei dem Bann. Leicht fasslich erklärt Nadler, warum der leider so schwer lesbare Spinoza heute notwendiger ist denn je: "Spinoza wird oft als Pantheist bezeichnet, aber Atheist wäre die korrektere Beschreibung. Spinoza vergöttlicht die Natur nicht. Natur ist nicht der Gegenstand ehrfürchtiger Scheu oder religiöser Verehrung. 'Der weise Mann', sagte er, 'versucht die Natur zu verstehen, nicht sie anzuglotzen wie ein Dummkopf. Die einzig angemessene Einstellung zu Gott oder der Natur ist der Wunsch, sie durch den Intellekt zu begreifen."

Magazinrundschau vom 05.01.2016 - Aeon

Psychische Erkrankungen werden heute viel sensibler behandelt als vor hundert Jahren, aber sie werden auch noch benutzt, jedes aufmüpfige Verhalten als "krank" zu charakterisieren. Das hat eine Tradition, nicht nur in Ländern wie Russland oder China, sondern auch im Westen, erklärt Carrie Arnold. Gezeigt hat ihr das eine Auswertung der Akten der Psychatrie 1885-1973 im Ionia State Hospital in Michigan durch den Psychiater und Soziologe Jonathan Metzl. Bis in die 1950er hinein wurden vor allem weiße Hausfrauen als schizophren eingewiesen, die an Depressionen litten und "ihren Haushalt nicht in Ordnung halten konnten", stellte dieser fest. Als die Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern an Fahrt gewann, änderte sich das: "Als 1968 die zweite Ausgabe des psychiatrischen Handbuchs (DSM) erschien, hatten Psychiater die Kennzeichen für Schizophrenie verändert: von Symptomen wie Stimmungsschwankungen, leichte Bereitschaft zu weinen oder Verwirrtheit hin zu Zeichen von Größenwahn, Feindseligkeit und Aggression - oder anders gesagt: von weißen Ehefrauen aus der Vorstadt hin zu schwarzen Männern aus der Großstadt. Die Forscher dachten womöglich, dass die neue Terminologie ihnen helfen würden, wissenschaftlicher in ihrer Diagnose zu werden. Aber als sie in den Kliniken und in der Gesellschaft angewandt wurde, zeigte sich plötzlich, dass sie benutzt wurde, überproportional viele schwarze Männer als schizophren zu behandeln, besonders, wenn sie Teil der politischen Protestbewegung waren, sagt Metzl."