Magazinrundschau

Für Kinder, nicht für die Liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
01.08.2023. Liebe unter dem Schatten einer drohenden Sichelzellenanämie - davon erzählt Harper's in einer Reportage aus Nigeria. Eurozine ruft zur Dekolonisierung Osteuropas auf, auch wenn Habermas und Derrida das so nie gemeint hatten. So entblößt hat der New Yorker den männlichen Blick auf weibliche Körper noch nie gesehen, wie auf den Bildern der amerikanischen Malerin Lisa Yuskavage. Das Smithsonian Magazine amüsiert sich mit den Exzentrikern unter den englischen Gartenbesitzern. Susan Neiman erklärt, warum Links nicht gleich woke ist. Sudanesische Geschichte mal anders erzählt Africa is a Country.

Harper's Magazine (USA), 01.08.2023

Krithika Varagur schickt eine herzzerreißende Reportage aus Nigeria über das Paar Nkechi und Subomi Mabogunje, die beide Träger der Sichelzellenanämie (Sickle Cell Disease, SCD) sind, einer Erbkrankheit. Nigeria ist die Hauptstadt dieser Krankheit auf der Welt. Auf seine Einwohner entfallen etwa die Hälfte aller jährlich neu auftretenden Fälle weltweit. Für junge Paare ist es zumindest in den Großstädten fast schon üblich geworden, einen entsprechenden Test zu machen, bevor man sich enger bindet. "Angesichts der Bedeutung der Ehe in Nigeria, der relativ geringen Verbreitung von Pränataltests und des Abtreibungsverbots in den meisten Fällen festigt sich rasch eine gesellschaftliche Norm, die zwei Menschen mit Sichelzellgenen davon abhält zu heiraten oder sich auch nur zu verabreden. Aber nicht jeder trifft diese Entscheidung. Eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass eine von fünf Personen, die aufgrund ihrer vorehelichen Untersuchungen wussten, dass sie in einer AS-AS-Beziehung lebten, trotzdem heirateten. Einige Gesetzgeber haben versucht, in dieser Grauzone zu intervenieren. Staaten sowohl im Norden als auch im Süden haben Maßnahmen verabschiedet, um voreheliche Tests vorzuschreiben; im Jahr 2020 debattierte der nigerianische Senat über ein SCD-Management-Gesetz, das unter anderem auch voreheliche Tests fördern würde. Während dieser Diskussionen deutete Chukwuka Utazi, ein Senator aus dem Bundesstaat Enugu, an, dass er selbst eine genotypbedingte Trennung erlitten hatte. Er wisse, wie schmerzhaft eine solche Entscheidung sein könne. Aber in Afrika, so meinte er, 'heiraten wir für Kinder, nicht für die Liebe'. (In Nigeria wird die Intimsphäre bereits reglementiert: Öffentliche Zurschaustellung homosexueller Zuneigung ist zum Beispiel illegal, und die Strafen für gleichgeschlechtlichen Verkehr reichen von Gefängnisaufenthalten bis zur Hinrichtung durch Steinigung). Ein anderer Senator meldete sich zu Wort: 'Wir werden nicht zulassen, dass die Liebe uns das Beste aus unseren Ehen wegnimmt.' Heterosexuelle nigerianische Paare, die an diesen genetischen Scheideweg kommen, überlegen nicht nur, ob sie sich trennen oder heiraten sollen. Sie überlegen auch, was ein gutes Leben ausmacht, sowohl für sich selbst als auch für ihre zukünftigen Kinder. SCD ist kein Todesurteil - vor allem nicht in einer Stadt wie Lagos -, aber es ist in der Regel ein lebenslanges Urteil.... Ihre Bedenken sind im Großen und Ganzen auch für den Rest von uns relevant, die wir im Zeitalter der Gentests und ihrer neuartigen Entscheidungsfindungsmethoden leben. Werdende Eltern stellen sich die Frage: Auf welche Krankheiten sollten wir testen? Wie riskant ist es, ein bestimmtes Merkmal zu vererben?"
Stichwörter: Sichelzellenanämie, Nigeria

Africa is a Country (USA), 01.08.2023

Die sudanesische Bevölkerung hat 2018 den Diktator Al Bashir mit friedlichen Mitteln verjagt und selbst noch nach dem Militärputsch 2021 mittels Streiks und Sit-ins ihren Forderungen nach demokratischen Reformen Nachdruck verliehen. Warum wird diese Geschichte nicht gewürdigt und statt dessen nur die Geschichte vom kaputten Staat Sudan erzählt, fragt eine verärgerte Raga Makawi. "Zwischen 2019 und 2021 entwickelt sich im Sudan gleichzeitig zwei getrennte politische Prozesse: ein exklusiver und elitärer auf staatlicher Ebene, der von externen Akteuren und ihren Ideen und Übergangsprozessen beeinflusst wird, und ein basisdemokratischer, der von den lokalen Bedürfnissen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle angetrieben wird. Die Vorherrschaft der von außen auferlegten Timeline über das Lokale in der globalen politischen Vorstellungswelt ist bezeichnend für das Fortbestehen des kolonialen Erbes. Afrikanische Diskurse werden nach wie vor von außen und losgelöst von der Politik vor Ort (und jeglicher Form lokaler Rechenschaftspflicht) entwickelt, was erhebliche Auswirkungen auf die Form und den Inhalt des demokratischen Prozesses hat. Während die Versöhnung von externen und lokalen Vorstellungen eine ferne Hoffnung bleibt, ist die Forderung, der lokalen Timeline die Anerkennung zu geben, die sie verdient, ein wichtiger Schritt, um das Schicksal der sudanesischen Bevölkerung zu verändern."

Außerdem: Frank Ejiofor empfiehlt Babatunde Apalowos "romantischen" Film "All the Colours of the World Are Between Black and White" über das von Hohn und Gewalt geprägte Leben eines homosexuellen jungen Mannes in Lagos.
Stichwörter: Sudan, Country

Eurozine (Österreich), 24.07.2023

"Das ist immerhin eine kleine Sensation: ein gemeinsamer Essay von Jürgen Habermas und Jacques Derrida über 'unsere Erneuerung'", kommentierte am 31. Mai 2003 der Perlentaucher. Die beiden riefen mal wieder zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit auf, ihrem Alter geschuldet verwechselten sie allerdings Zeitungen mit Öffentlichkeit. Im Hintergrund tobten damals niemals getoppte Demos in Europa: Der Krieg gegen den Irak, wo immerhin ein Höllenhund vom Erdboden gefegt wurde, empörte das westliche Publikum um einiges mehr als von Putin gedecktes Giftgas in Syrien oder sein Krieg gegen die Ukraine. Und Habermas und Derrida meinten mit "europäischer Öffentlichkeit" noch ein "Kerneuropa", ohne die Länder Osteuropas. Eurozine bringt mit Hilfe der Zeit-Stiftung eine Artikelreihe unter dem Titel "Lessons of War" (organisiert vom einstigen Eurozine-Chef Carl Henrik Fredriksson), die zwanzig Jahre danach an Habermas' und Derridas Artikel anknüpft. Eröffnet wurde die Reihe von einem Text Daniel Cohn-Bendits und Claus Leggewies (hier). Den jüngsten Essay bringt Veronica Anghel, Forscherin an der Johns Hopkins School of International Studies, die über "die Macht kleiner Länder" schreibt. Den starken Willen osteuropäischer Länder wie Georgien, Moldau oder eben die Ukraine zum Westen zu gehören und nicht mehr als Manövriermasse und "Pufferzone" betrachtet zu werden, liest sie als ein Symptom der einst auch von den beiden Philosophen geforderten Dekolonisierung im Geiste: "Die Ukrainer haben sich für die europäische Identität entschieden, die Habermas und Derrida forderten. Nun ist es an der Zeit, dass Europa sich mit den Ukrainern identifiziert und auf den Ruf der Ukraine nach Vereinigung antwortet. Diese Entscheidung mag dem pazifistischen Argument von Habermas und Derrida im Zusammenhang mit der Irak-Invasion widersprechen. Aber sie steht im Einklang mit ihrer übergeordneten Botschaft. Sollte Europa beschließen, dass eine freie und intakte Ukraine nicht mehr in seinem Interesse liegt, und aufhören, die Ukraine zu unterstützen, wird die Ukraine den Krieg verlieren. Das Ergebnis wird nicht eine fügsame Bevölkerung sein, die bereit ist, ihre Souveränität und ihr Territorium im Austausch für ihre persönliche Sicherheit aufzugeben. Vielmehr wird ein schwer bewaffnetes und kriegsgestähltes Land in sozialem und politischem Chaos versinken. In diesem Szenario gewinnt Russland, und Europa verliert."
Archiv: Eurozine

New Yorker (USA), 07.08.2023

The Ones That Shouldn't: The Gift. © Lisa Yuskavage. Courtesy the artist and David Zwirner

So entblößt hat Ariel Levy den männlichen Blick auf weibliche Körper noch nie gesehen, wie auf den Bildern der amerikanischen Malerin Lisa Yuskavage, die er für den New Yorker porträtiert. Sie nimmt beim Malen selbst diesen dezidiert männlichen Blick ein, um dessen objektivierende Sicht zu entlarven. So auch bei einem Gemälde, das von David Lynchs Film "Blue Velvet" inspiriert ist: "'Ich dachte, Warum stelle ich mir nicht einfach vor, dass er es ist, der malt?' Das Resultat ist ein verstörendes Bild mit dem Titel 'The Gifts.' Vor einem algengrünen Hintergrund steht eine nackte weibliche Figur, deren Arme entweder fehlen oder hinter dem Rücken gefesselt sind, sie schwebt über einer Flut wogender Wellen. Es sieht aus, als würde die Frau mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen werden, als Gallionsfigur eines Schiffes zu dienen. 'Dann habe ich ihr diese albernen, billigen Blumen in den Mund gestopft', sagt Yuskavage. 'Und ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen.' Die Figur sieht verstört aus, traumatisiert. Sie hat Yuskavage an eine Robbe in einer PETA-Werbung erinnert, die schon weiß, dass sie gleich zu Tode geknüppelt wird. 'Ein Mann würde seiner Figur das niemals in die Augen legen, verraten, dass sie diese Angst hat', sagt sie. 'Aber weil ich eine Frau bin, kann ich das nicht ignorieren.' Diese Arbeit ist anders als die Bilder in ihrer ersten Ausstellung. Die schlammigen Töne wurden ersetzt durch lebhafte, gesättigte Farben; die weibliche Figur ist aggressiv exponiert, anstatt sich zu verstecken. Yuskavage ist begeistert: 'Ich habe mich beim Malen so gut gefühlt - ich dachte mir, das muss richtig sein.' Entweder das, oder sie wäre dabei, den Verstand zu verlieren."
Archiv: New Yorker

Salon.com (USA), 29.07.2023

Ja, die Ukraine führt einen postkolonialen Krieg, meint auch Alaric DeArment. Leider aber verharrte gerade auch die akademische Linke des Westens in der imperialistischen russischen Eigensicht, die die Ukraine als Teil "Eurasiens" und der Putin natürlicherweise zukommenden Einflusszone verortete (und beides sind Begriffe, die eigentlich in der extremen Rechten populär sind). Aber das mit dem Kolonialismus muss man wörtlich nehmen, erklärt DeArment: "Russlands Eroberung Sibiriens ab den 1580er Jahren führte beispielsweise zur Versklavung der einheimischen Bevölkerung, die gezwungen wurde, unter Androhung des Todes Tribut in Form von Pelzen, den so genannten Yasak, zu zahlen, was zu einer Hungersnot führte, da die Menschen die Yasak-Quoten erfüllen mussten, anstatt sich selbst zu ernähren - ein System, das einige Historiker mit der Versklavung des Kongo durch den belgischen König Leopold II. verglichen haben. Russische Kosakenbanden vergewaltigten und mordeten, während orthodoxe Missionare die einheimischen Religionen ausrotteten und Alkoholismus und Pocken die lokale Bevölkerung dezimierten. Heute leben die Indigenen in Sibirien und im Fernen Osten Russlands häufig in Armut, während Moskau die natürlichen Ressourcen ihres Landes abbaut, um die Taschen der Oligarchen zu füllen und den Glanz von Städten wie Moskau und St. Petersburg zu befeuern - während die Männer der indigenen Bevölkerungsgruppen auch noch das Kanonenfutter sind, das Russland an die ukrainische Front schickt."
Archiv: Salon.com

Substack - Yascha Mounk (USA), 01.08.2023

Immer mehr Linke fühlen sich vom Wokeism abgestoßen - sind sie nicht mehr links? Doch, sagt die amerikanische Philosophin Susan Neiman in einem lesenswerten Gespräch mit Yascha Mounk über ihr demnächst auch auf Deutsch erscheinendem Buch "Links ist nicht Woke". Doch gehe es in woken Kreisen nun mehr um den Standpunkt, von welchem eine Meinung aus geäußert wird und nicht um das Argument selbst. Aber ohne politischen Universalismus geht es nicht, beharrt Neiman. Ganz abgesehen davon, dass es universalistische Prinzipien in vielen Kulturen auch außerhalb des Westens gibt: "Was mich an dieser postkolonialen Kritik an der Aufklärung besonders ärgert, ist, dass sie eigentlich aus der Aufklärung selbst kommt. Sie wird normalerweise nicht von Leuten geäußert, die mehr als 10 Wörter in einem Wikipedia-Artikel über die Aufklärung gelesen haben, aber die Idee, dass Europäer die Welt auch aus anderen als europäischen Perspektiven betrachten sollten, stammt direkt aus der Aufklärung, wie Sie sicher wissen. Die Aufklärung übernahm, beginnend mit Montesquieu, die Trope, Europa aus der Perspektive fiktiver Perser, Chinesen, indigener südamerikanischer Priester, Tahitianer und so weiter zu kritisieren. Der gesamte Vorwurf des Eurozentrismus ist eine Erfindung der Aufklärung. Die Denker der Aufklärung waren unglaublich interessiert an Berichten und Ideen, die aus außereuropäischen Ländern kamen, insbesondere über Dinge wie das Patriarchat, patriarchalische Ehegesetze und Eigentumsverhältnisse, und die Behandlung von Frauen, die in anderen Kulturen anders war. Das Merkwürdige daran ist, dass diese Denker tatsächlich etwas riskierten, in einigen Fällen sogar ihr Leben. Der Philosoph Christian Wolff, der großen Einfluss auf Immanuel Kant hatte, auch wenn nur wenige Menschen von ihm gehört haben, studierte Konfuzius und Mencius und hielt eine Vorlesung, in der er argumentierte, dass die Chinesen ein perfektes Moralsystem hatten, auch wenn sie keine Christen waren. Und dafür wurde ihm befohlen, nicht nur seine Stelle an der Universität, sondern den gesamten Staat Preußen innerhalb von 48 Stunden zu verlassen, oder er würde hingerichtet. Das war kein Twitter-Sturm, ok, diese Leute haben sich für einen echten Universalismus eingesetzt. Und der steht überall in den Texten der Aufklärung, falls sich jemand die Mühe macht, sie zu lesen."

Sight & Sound (Großbritannien), 21.07.2023

Der frühere Filmkritiker, Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader war immer der Außenseiter unter den Hollywood-Insidern. Darauf, dass die Branche in den letzten ein, zwei Jahrzehnten von ihren Mavericks und Haudegen kaum mehr etwas wissen wollte, hat er gut reagiert: Eingeigelt in einer Nische zwischen Festivals, Streaming, unabhängigen Finanziers und kleinen Kinostarts hat er die letzten sechs Jahre drei Filme gedreht, die eine lose Trilogie formen und in ihrer spröden Form an Schraders Anfänge als Filmtheoretiker über den "transcendental style" zurückführen - eine Form, die er bis dahin (in den Filmen Ozus, Dreyers und Bressons) nur beschrieben, aber in eigenen Werken nicht umgesetzt hat. Nach dem Festivalrun (unser Resümee) erreicht sein aktueller Film "Master Gardener" nun auch die Öffentlichkeit - und um bissige Kommentare ist Schrader auch im Alter nicht verlegen: "Die Krise beschränkt sich nicht allein auf die Filmkritik. Sie ist eine Krise der Filmkultur und umfasst das Publikum, die Finanziers, die Künstler und die Kritiker. Es gab mal eine Zeit, als die Filmkritik aufblühte. Aber das lag daran, dass das Publikum bessere Filme wollte. Es gab da einen Wandel von 'Lass' mal ins Kino gehen' zu 'Komm, wir schauen uns einen Film an'. Wie bekommt man raus, was man sehen will? Man liest! Das machte Filmkritik zu einem intellektuellen Beruf der Elite, geschaffen vom Markt. Als sich dieser Markt und als sich Print wandelte, verging das. Heute gibt es mehr Filmkritiker als jemals zuvor in der Filmgeschichte. Jeder hat ein Blog. Aber nur eine Handvoll kann davon leben und es ist schwierig, dies ein Leben lang aufrecht zu erhalten. Wenn man also über diese vierbeinige Kreatur namens Filmkultur spricht, dann wird ein einzelnes Bein dieses Pferd nicht mehr vom Boden bringen. Die Filmkritik schafft das nicht alleine. Wenn das Publikum mit einem Mal Hunger auf engagiertere Filme bekäme, könnte sich das vielleicht ändern. Als wir in den Sechzigern und Siebzigern durch zahlreiche kulturelle Krisen gingen - der Anti-Militarismus, die Bürgerrechte, Frauenrechte, Schwulenrechte, sexuelle Freiheit - blühten die Filme auf, weil die Leute wissen wollten, was eigentlich gerade los ist. Um was es geht es beim Partnertausch? Darüber gibt es einen Film, 'Bob & Carol & Ted & Alice' von 1969. Aber wenn das Publikum keine wichtigen Filme will - Filme, die, auch wenn sie schlecht sind, wichtige Themen ansprechen -, dann ist es auch schwierig, gute Filme zu drehen."
Archiv: Sight & Sound

Smithsonian Magazine (USA), 07.07.2023

Wussten Sie, dass reiche Landbesitzer im England des 18. Jahrhunderts in ihren Gärten Eremiten zu Dekorationszwecken anstellten? Auch Shoshi Parks hat das erst aus dem Buch "English Garden Eccentrics: Three Hundred Years of Extraordinary Groves, Burrowings, Mountains and Menageries" des Landschaftsarchitekten Todd Longstaffe-Gowan erfahren, das diese kurzlebige Mode mit einem Beispiel illustriert, erzählt er: "Der Ehrenwerte Charles Hamilton, ein britischer Aristokrat und Parlamentsabgeordneter des 18. Jahrhunderts, war in seiner Anzeige eindeutig. Der ornamentale Einsiedler, den er für das Leben in den weitläufigen Gärten seines Anwesens Painshill in Cobham, England, einstellte, musste schweigsam sein und durfte niemals mit den Dienern sprechen, die ihm seine täglichen Mahlzeiten brachten. Er musste ein Gewand aus Ziegenhaar tragen und durfte sich weder die Haare noch die Nägel oder den Bart schneiden. Schuhe waren nicht erlaubt. Nur wenn der Einsiedler die Vertragsbedingungen erfüllte und sieben Jahre lang in Einsamkeit lebte, ohne einen Fuß außerhalb des Anwesens zu setzen, wurde er mit 500 bis 700 Pfund (heute etwa 95.000 bis 130.000 Dollar) belohnt. Mr. Remington (Vorname unbekannt), der Mann, der für diese Aufgabe eingestellt wurde, hielt nur einen Bruchteil dieser Zeit durch. Drei Wochen nach seiner Ankunft wurde er beim Trinken in einer örtlichen Kneipe entdeckt - so die Legende. Remington war einer der wenigen Männer, die von der im 18. Jahrhundert in England herrschenden Begeisterung für ornamentale Einsiedler profitierten - oder, wie in seinem Fall, nicht profitierten. Der kurzlebige Trend, der etwa zwischen 1727 und 1830 seinen Höhepunkt erreichte, war eine der denkwürdigsten Erscheinungen, die aus der Abkehr von perfekt beschnittenen, geometrisch ausgerichteten Gärten und der Hinwendung zu wilden, ungezähmten Gärten folgte".
Stichwörter: Englischer Garten

HVG (Ungarn), 15.07.2023

Literarische Werke, die Homosexualität zeigen, müssen in ungarischen Buchhandlungen künftig in blickdichter Folie eingeschweißt sein. In einem Radius von 200 Metern um Kirchen oder Schulen dürfen diese Bücher gar nicht verkauft werden - so eine neue Regierungsverordnung. "Das Ganze dient dazu, dass sich in den Bücherläden die verdächtigen Brillenträger ärgern, worüber sich die Regierungsunterstützer wiederum freuen, obgleich sie ja gar nicht in Buchhandlungen gehen. Aber auch ihnen muss irgendwie Freude bereitet werden", spottet der Publizist Árpád W. Tóta. "Das bekommen sie (und wir alle) anstatt eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens: Das Wissen, dass es auch anderen schlecht geht. Dies ist die einzige öffentliche Dienstleistung des ungarischen Staates auf höchstem Niveau. Lehrer und Ärzte kann er nicht gewährleisten, jedoch einen Feind."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn, Homosexualität

New York Magazine (USA), 17.07.2023

In den USA bereiten sich Firmen auf den Spermageddon vor - zumindest wird so die Entwicklung bezeichnet, nach welcher Männer immer weniger Spermien pro Ejakulation abgeben. Dazu gibt es verschiedene Theorien (zum Beispiel bei Zeit online); viel wichtiger ist aber die Frage, ob man daraus Kapital schlagen kann, wie Simon van Zuylen-Wood in einer Reportage erzählt, in der auch ein junger Unternehmer, Khaled Kteily, zu Wort kommt, dessen Firma Legacy das Sperma seiner Kunden testet und einfriert: "Das Herzstück des Geschäfts, der Gewinnbringer, sind nicht die Nahrungsergänzungsmittel und auch nicht die Tests. Es ist das Einfrieren. Ursprünglich hatte das Unternehmen sein Marketing auf alleinstehende Männer ausgerichtet, die befürchteten, später vielleicht zeugungsunfähig zu werden, bevor es seinen Schwerpunkt auf Paare verlagerte. Der Vorteil dieser Umstellung war, so Kteily, dass die Einfrierrate bei ihnen höher war. Der Nachteil: Paare, die sich um eine Schwangerschaft zu einem späteren Zeitpunkt bemühten, neigten dazu, die Firma zu bitten, die Proben aufzutauen und für die Verwendung vorzubereiten, was mehr Zeit und Geld kostete, als er gehofft hatte. ´Jetzt haben wir eine Flut von E-Mails an Kliniken im ganzen Land hin und her geschickt´, sagt Kteily. Er sah sich mit einem Paradoxon konfrontiert: Je häufiger die Kunden den Dienst nutzten, desto weniger Geld verdiente er. Nützlicher waren für ihn die Kunden, die nicht unbedingt schwanger werden wollten, Legacy stattdessen als eine Art Versicherungspolice nutzten wollten, falls doch."

Samurai Jeans, SHOGUN - Double Natural Indigo 17oz Selvedge Denim von dc4 in Berlin
Im Hintergrund, von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt findet eine kleine Moderevolution statt, vor allem in der Männermode. Neu ist das Phänomen nicht, aber es wächst und wächst: Es geht weniger um Nachhaltigkeit als um Vintage. The Cut, Modemagazin des New York Magazine bringt zwei Artikel dazu. Im einen schildert Justine Harman den Kult um Vintage-Jeans. Die meisten Vintage-Jeans befinden sich heute im Besitz von Japanern, die seit Jahren einen wahren Kult um Jeans treiben (und heute, nebenbei bemerkt, die besten Jeans herstellen). Levi's-Jeans aus den fünfziger oder sechziger Jahren können 1.000 Dollar oder mehr kosten. "Letzten Herbst tauchten sogar noch ältere Jeans auf, als ein bekannter Wiederverkäufer namens Brit Eaton ein Paar 'in Minen gefundene' Levi's aus dem 19. Jahrhundert mit einer Tasche und Schnallenverschluss versteigerte, die, wie er betonte, 'wahrscheinlich die ältesten Levi's sind, die je bei einer Auktion verkauft wurden'. Ganz recht, 'in einer Mine gefunden'. In den letzten Jahren hat eine kleine Gruppe selbsternannter Denim-'Archäologen', die mit wenig mehr als Stirnlampen und Überheblichkeit bewaffnet sind, damit begonnen, sich in verlassene Silberminen abzuseilen, in der Hoffnung, die nach einer Schicht zurückgelassenen Denims zu finden. 'Einige dieser Jungs haben das Geschäft verändert, indem sie Stücke ausgegraben haben, die normalerweise nicht gehandelt wurden', sagt der Vintage-Jeans-Händler und Sammler Larry McKaughan. 'Sie setzten buchstäblich ihr Leben aufs Spiel.'" Die Jeans wurden für 87.000 Dollar versteigert.

Sunflower Lace Long Sleeve Shirt von Bode
Einen anderen Aspekt von Vintage repräsentiert die hierzulande noch nicht so bekannte amerikanische Marke Bode, die vor allem hinreißende Hemden macht und sich dabei von Vintage-Tischdecken, Geschirrtüchern und ähnlichen Vorbildern inspirieren lässt. Viele dieser Hemden sind bestickt, berichtet Brock Colyar. "Eine Reihe von Bode-Boys erzählen, dass die Marke sie dazu gebracht hat, zum ersten Mal Blumenmuster und durchsichtige Oberteile zu tragen... Es ist sicher kein Zufall, dass Harry Styles einer von ihnen ist. Luis Carlos Zaragoza, ein Influencer in L.A., erzählt mir, dass er eines der Tischtuch-Shirts von Bode nur gekauft hat, weil er Styles darin gesehen hat. (Als er das Hemd einmal in einem Einkaufszentrum trug, fragte ihn eine alte Dame, wo er es gekauft habe. Sie besaß die Tischdecke im Original-Design.) Harry Lambert, Styles' Stylist, sagt, der Popstar habe die Marke auf Instagram gefunden. 'Die Marke Bode sagt etwas aus, ohne es herauszuschreien. Sie sagt: Ich stehe auf Mode. Ich stehe auf die Art, wie ich gekleidet bin. Ich putz mich gern heraus. Aber es fühlt sich nicht so an, als wäre es eine große Anstrengung, sie zu tragen. Darum stehen Heteros so sehr darauf, glaube ich. Lauren Sherman, die Modekorrespondentin von Puck, drückt es mir gegenüber unverblümt aus: 'Bode sagt: 'Du kannst ein Spitzenhemd tragen und trotzdem Mädchen vögeln.'"