Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
12.01.2004. Zerstörte Körper, bunte Körper, nackte Körper: Arno Widmann hat Bücher über den Bombenkrieg, chinesische Propagandaposter und das Wesen des Nackten vom Nachttisch geräumt.
Von der Würde

Jörg Friedrich hat nach seinem Aufsehen erregenden Bestseller "Der Brand" einen Bildband herausgebracht "Brandstätten - Der Anblick des Bombenkrieges". Auf Seite 240, der letzten Seite des Buches, steht:

"Eine Fotogeschichte des Bombenkriegs kann die Schrecknisse des Sterbens der Zivilbevölkerung nicht aussparen. Über die Grenzen der Darstellbarkeit von Körperzerstörung konnten sich Verlag und Autor nicht einigen. Jörg Friedrich und der Propyläen Verlag stimmen darin überein, dass die Gründe für eine Veröffentlichung ebenso stichhaltig sind wie diejenigen für Zurückhaltung. Die Würde der Opfer, die einen schrankenlosen Abdruck der fotografischen Überlieferung verbietet, und das historische Zeugnis des Grauens von Kriegen sind schwer gegeneinander abzuwägen. Dem einen Gut ist nicht zu entsprechen, ohne das andere zu verletzen. Verlag und Autor haben dazu unterschiedliche Auffassungen, übergeben jedoch den Band der Öffentlichkeit im gegenseitigen Respekt vor der Haltung des anderen; der Leser möge sich sein eigenes Urteil bilden.
Propyläen Verlag - Jörg Friedrich"

Worüber? fragt sich der Leser, bevor er sich ein eigenes Urteil zu bilden versucht, nach dieser Erklärung einigermaßen verdutzt. Sie ist völlig unverständlich. Distanziert sich der Verlag von dem Buch? Weil Fotos darin sind, die er lieber ungedruckt gesehen hätte? Was soll dann die Unterschrift des Autors? Ist das Buch, so wie es der Leser in Händen hält, das Ergebnis eines Kompromisses von Verlag und Autor? Aber das ist jedes Buch. Was soll dann die Erklärung? Die Philologen des deutschen Feuilletons haben sich für die erste Interpretation entschieden. Das eigentlich Interessante aber ist die Unentschiedenheit, die - um die Sache drastisch beim Namen zu nennen - Verlogenheit dieser Erklärung. Wenn der Verlag tatsächlich der Auffassung ist, das Buch hätte so, wie es jetzt ist, nicht gedruckt werden dürfen, er hätte darauf verzichten können, es zu veröffentlichen. Aber so hat er sich dazu entschlossen, gegen den Druck zu sein, es aber dennoch zu drucken.

Die Erklärung sagt auch das nicht offen. Jeder ihrer Sätze heuchelt. Der erste Satz zum Beispiel ist schon deshalb nicht wahr, weil es zig Bildbände gibt, die nichts als fallende Bomben zeigen und gerade die "Schrecknisse" nicht. Es ging nicht um die "Darstellbarkeit von Körperzerstörung", sondern es ging darum, wie nahe, wie deutlich, wie oft zerstörte Körper gezeigt werden sollen. "Stichhaltig" ist in diesem Zusammenhang eine unglückliche, ja verräterische Formulierung. Es ging niemals um einen "schrankenlosen Abdruck". Es ging immer nur um bestimmte, Verlag und Autor vorliegende Fotos. Ich sehe nicht, warum die Würde eines Menschen dadurch verletzt wird, dass man zeigt, was ihm angetan, wodurch seine Würde verletzt wurde. Die europäische Überlieferung jedenfalls sah das Jahrtausende lang deutlich anders. Jesu Würde wurde durch seine Darstellung als Gekreuzigter niemals in Zweifel gezogen. Im Gegenteil. Außerdem, wenn die Gründe für und die gegen eine Veröffentlichung gleich stark sind, dann versteht es sich von selbst, dass die Abwägung schwer fällt. Desto wichtiger ist, dass sie statt findet und desto interessanter wäre es gewesen, man hätte dem Leser mitgeteilt, wie die Abwägung zustande kam. Dass Autor und Verlag einander respektieren, freut den Leser, dass er sich eine eigene Meinung bilden darf, amüsiert ihn zu hören.

Die von Friedrich zusammengetragenen Fotos zeigen den Bombenkrieg von den unterschiedlichsten Seiten. Der Band beginnt mit Bildern der alten Innenstädte von u.a. Hamburg, Halberstadt, Würzburg, Köln, Augsburg und Lübeck. Verwinkelte Straßen, die einem ins Gedächtnis rufen, wie lange man noch eine Vorstellung davon haben konnte, was eine mittelalterliche Stadt war. Dann kommt das Kapitel "Angriff" mit den Fotos von Bomben werfenden Flugzeugen, von Leuchtbomben und Flakfontänen, von brennenden Häusern und Straßen. Es kommen Bombenkeller und Bunker, die Bergung der Toten, der Abtransport von Leichen und Leichenteilen. Das ist das mit fast fünfzig Seiten umfangreichste Kapitel. Danach geht es um die Versorgung der Bevölkerung während des Bombenkriegs mit Nahrungsmitteln, Wasser, Brennstoff und Medizin, um Trümmer und Trümmerleben. Die letzten Seiten konfrontieren Aufnahmen vor und nach den Bombenangriffen mit denen nach dem Wiederaufbau. Man sieht zum Beispiel das Nürnberger Pellerhaus von 1602 wie es 1935 aussah und man sieht es 1945 und was an seiner Stelle 1958 erbaut wurde.

Den Streit zwischen Verlag und Autor haben Aufnahmen im Bergungskapitel hervorgerufen. Ich weiß nicht welche. Aber ich kann jedem nur empfehlen, sich diese Seiten, diese Fotos sehr genau anzusehen. Die Texte zu lesen. Danach weiß man, was eine Aschleiche ist. Kleine Haufen aus Asche, zwischen denen ein paar Knochen zu erkennen sind. Das ist alles, was von einem Menschen übrig geblieben ist. Ein Augenzeuge erklärte: "Sehr viele Keller enthielten nur Aschleichen." Man kann mehrere Aschleichen bequem in einem Eimer wegtransportieren. Manche Leichen zerfielen, wenn man sie anfasste. Von anderen Toten schien alles erhalten, aber es lag in Stücken herum. Man sieht Leichen auf dem Rücken liegend, mit angezogenen Armen und Beinen.

"Fechterstellung" nannten die Anatomen die postmortale Anspannung der Arm- und Beinsehnen durch Hitzeeinwirkung. Man sieht ganze Straßenzüge, auf denen Leiche an Leiche liegt, große Scheiterhaufen, auf denen sie verbrannt wurden. Es sind diese Fotos, die einem die Realität des Krieges klar machen. Sie erschweren einem die Rede von der "Niederschlagung des Faschismus". Man wird daran erinnert, dass er nicht niederzuschlagen war, dass er nicht niedergeschlagen wurde, sondern dass Menschen umgebracht wurden. Die Deutschen, heißt es dann, seien aber nicht Opfer, sondern Täter gewesen. Die Bilder sagten nicht die ganze Wahrheit. Das stimmt. Aber nichts und niemand sagt die ganze Wahrheit. Man bekommt sie immer nur in Stücken. Täter und Opfer ist man immer nur in Beziehung auf eine Tat. Bei der nächsten Tat kann es schon wieder anders sein. Die Deutschen sind Opfer und Täter wie andere auch. Wie jeder Einzelne einmal Täter und einmal Opfer ist.

Man könne dergleichen nicht gegen einander aufrechnen, heißt es. Das mag stimmen. Jedenfalls wird man es nicht auf Heller und Pfennig tun können. Aber wir tun es dennoch unentwegt, und wir müssen es tun. Denn in dieser Aufrechnung bestimmen wir, wer wir sind, was wir getan, was wir gelitten haben. Das tut jeder Einzelne, und das tun auch die Völker. Es ist aussichtslos, ihm und ihnen das Aufrechnen verbieten zu wollen. Die menschliche Intelligenz sieht keine platonischen Entitäten. Sie ist auf Vergleiche, auf quantitative Vergleiche angewiesen. Sie vergewissert sich ihrer selbst im ständigen Vergleich mit den anderen. Dabei irrt sie sich gerne, aber sie kann sich auch korrigieren. Jörg Friedrichs "Brandstätten" ist ein unverzichtbarer Beitrag in diesem Prozess der Wahrheitsfindung.

Jörg Friedrich: "Brandstätten - Der Anblick des Bombenkrieges". Propyläen Verlag, München 2003. 240 Seiten, zahlreiche s/w Fotos, 25 Euro. ISBN 3 549 07200 7. Bestellen.


hong, guang, liang

Rot, hell und leuchtend - das waren die Grundprinzipien der chinesischen Plakatkunst während der Kulturrevolution. Sie trafen damals auch im Westen exakt den Zeitgeschmack. Sie waren Pop. Eine Weltkunst, die diesen Namen verdiente, würde Roy Lichtenstein und den mir nur aus diesem Buch bekannten Chen Zhenxin neben einander stellen. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Der dicke Band "Chinese Propaganda Posters", der bei Taschen erschienen ist, hilft kaum einen Schritt weiter. Er bietet Hunderte von Plakaten in knalligsten Farben, er datiert sie auch, er nennt auch, wo das möglich war, die Namen der Künstler, es werden auch die Texte der Plakate übersetzt, aber das Buch nimmt sein Thema nicht ernst. Die kleinen Vorworte von Anchee Min, Duo Duo und Stefan R. Landesberger sind nichts als persönliche Erinnerungen und ein paar hilflose Bemerkungen zu den von dem deutschen Fotografen Michael Wolf gesammelten chinesischen Plakaten.

Beim Betrachten des Bandes stellt sich schnell heraus, dass die chinesischen Plakatkünstler gute Kenner der sowjetischen Traditionen der Stalinzeit waren. Wie weit sie anknüpften an die Produktwerbung der Zeit vor 1949, weiß ich nicht. Alle Fragen dieser Art lässt das Buch nicht nur unbeantwortet, es stellt sie nicht einmal. Man fand das Material offenbar so hip, dass man es einfach so auf den Markt werfen wollte. Dabei hätte Wolf, der seit sieben Jahren in Asien und die meiste Zeit davon in China lebt, sicher einiges zu seiner Sammlung, zu den ästhetischen und politischen Implikationen der chinesischen Propagandaplakate, sagen können. Ist keiner der Maler mehr am Leben? Kann man keinen sprechen? Lässt sich nicht in Erfahrung bringen, wie sie gearbeitet haben? Was war vorgegeben? Nur das Thema oder jede Geste?

Es gibt ein Bild, das völlig herausfällt aus Wolfs Sammlung. Es macht klar, was in dieser Plakatkunst ganz und gar fehlt: der Bezug zur traditionellen chinesischen Malerei. Die Plakate waren - das wird durch diese eine Ausnahme klar - eine Revolution. Für uns sind sie es durch die Themen und durch die Aggressivität ihrer Bildsprache. Für das in der großen Tradition chinesischer Malerei aufgewachsene chinesische Publikum muss jedes Plakat nicht nur eine Ohrfeige, sondern ein Kinnhaken gewesen sein (Beispiel: Landschaftsmalerei, Bilder). Die Plakate waren in einem für uns kaum nachvollziehbaren Sinne modern. Auch sie - die doch unermüdlich die Autarkie Chinas "gegen Imperialismus und Sozialimperialismus" verteidigten - waren ein Medium ästhetischer Globalisierung. Man wüsste gerne, wie bewusst das geschah, ob es durchgesetzt wurde gegen jene, die die Propagandakunst nicht am sowjetischen Modell, sondern am westlichen orientieren wollten.

Schade, dass sich das Buch aus den von den Fotos aufgeworfenen Fragen herausjuxt. In einer Schlussbemerkung heißt es: "Für dieses Buch, das einen Teil von Michael Wolfs Sammlung chinesischer Propagandaposter zeigt, wurde die Einteilung nach den Kapiteln der "Worte des Vorsitzenden Mao Zedong" gewählt, um der Vielfalt der Plakate eine inhaltliche Struktur und einen roten Faden zu geben." Das ist ein dummer Witz, der im Englischen völlig daneben geht, denn da ist von einem "logical narrative thread" die Rede. Das berühmte Rote Buch hat eben keinen Roten Faden, kann also auch dieser Sammlung keinen geben. Abgesehen davon gibt es auch kein Neujahrskapitel bei Mao Zedong.

Wer sich ein Bild vom Sammler machen möchte: er findet ihn auf Seite 157. Dort wurde einem von zwölf strammen, vor Lebenslust aus ihren Windeln platzenden Babys der Kopf abgeschnitten und stattdessen - wenn ich mich nicht irre - der von Michael Wolf aufgeklebt.

"Chinese Propagandaposters - From the collection of Michael Wolf". With Essays by Anchee Min, Duo Duo and Stefan R. Landsberger. Texte in Englisch, Deutsch und Französisch, 245 x 370 mm, Taschen, Köln 2003. 320 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 29,99 Euro. ISBN 3822826197.


Gegengift

Francois Jullien ist Sinologe und Philosoph. Er studierte Sinologie, um ein völlig fremde Art, die Welt zu sehen, zu beschreiben und zu reflektieren, kennen zu lernen. Nur wer eine andere Perspektive auf die Welt versteht als die, in der er aufgewachsen ist, hat eine Chance, die Welt, wie sie wirklich ist, zu begreifen. In "Vom Wesen des Nackten" stellt sich Francois Jullien die Frage, warum es in der chinesischen Kunst keinen Akt gibt. Eines der wichtigsten Genres der europäischen Malerei hat es in China niemals gegeben. Die Antwort ist: Ziel der chinesischen Malerei war die Darstellung des Zusammenhangs der Dinge, die Schaffung einer Atmosphäre, in der der Felsen ein Lebewesen ist wie der ihn abbildende, darstellende Maler. Es ging also gerade nicht darum, das Abzubildende aus seinem Zusammenhang heraus zu reißen, es zu einem Objekt zu machen.

Schön war in der chinesischen Kunst niemals der Gegenstand, sondern dass er verbunden war mit dem Betrachter. Das Wesen des Aktes dagegen besteht gerade in der Trennung von Gegenstand und Betrachter. Nur durch sie entsteht jenes "interesselose Wohlgefallen", das pornografisches Begehren ausschließt. Erst die erbarmungslose Trennung von Gegenstand und Betrachter hat jenen Freiraum geschaffen, den man in Europa Kunst nennt. In ihm darf gegen gesellschaftliche Konventionen verstoßen, in ihm dürfen die Grundregeln außer Kraft gesetzt und in ihm darf die Gesellschaft in Frage gestellt werden.

Über Jahrhunderte war der nackte Körper tabuisiert. Niemand durfte ihn sehen. Die Aktmalerei war der Ort, an dem dieses Tabu gebrochen wurde. Man konnte vor den Bildern stehen und über den Reiz rosafarbener Brustwarzen sprechen, über das Schamhaar und darüber, ob es aufregender ist, beim Weg von der Klitoris zu den Brüsten mit der Hand über die schön gegliederte Senke eines flachen Bauches zu streichen oder über einen sich weich wölbenden Hügel. Man konnte darüber sprechen, weil es sich bei dem Bild um Kunst handelte. Die schuf einen Abstand zwischen der abgebildeten Frau und dem Blick, der so groß war, dass er ein Begehren ausschloss. Es gab auch in der chinesischen Malerei Nackte zu sehen. Aber das waren entweder Bilder, die für den pornografischen Blick und die pornografische Hand geschaffen worden waren, oder aber Genredarstellungen, in denen die Nacktheit zur Situation gehörte, also gerade nicht Thema des Bildes war.

Francois Jullien zeigt in seinem Buch an zwei Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert sehr überzeugend, wie fremd auch den besten Malern der nackte Körper war. Von Qiu Ying gibt es eine Bildrolle mit einer erotischen Szenenfolge. Eine Frau lässt den Rollvorhang hinunter. Der hinter ihr stehende Liebhaber nutzt die Situation, um sie zu umarmen. Die beiden bekleideten Körper sind anmutig geschwungen, und der Betrachter spürt, wie sehr sie beide dem entgegenfiebern, was passieren wird, wenn der Rollvorhang fällt. Das nächste Bild zeigt beide nackt. Die Frau sitzt auf einem Stuhl. Ihre Beine umklammern den vor ihr stehenden, in sie eindringenden Mann. Julliens beschreibt das so:

"Die beiden entblößten Körper erscheinen wie zwei auf dem Stuhl übereinander gestapelte Säcke. Sie haben nicht nur jegliche Konsistenz verloren, vielmehr ist der Körper selbst formlos - weder klar stilisiert noch deutlich anatomisch aufgegliedert. Der Körper hat keine Gestalt, das Fleisch keine Farbe. Dagegen wird das eigentlich Sexuelle wie üblich schonungslos zur Schau gestellt."

Dem heutigen Betrachter fällt freilich noch etwas auf, das dem Bild eine Schärfe gibt, die es fast unerträglich macht. Die auf den Pobacken des Mannes ruhenden Füße der Frau sind ebenfalls nackt. Sie wurden dem damaligen Schönheitsideal folgend gewaltsam verkürzt.

Der Übersetzer Gernot Kamecke hat sich dazu entschlossen, "le nu" von wenigen Ausnahmen abgesehen mit "das Nackte" zu übersetzen. Das verwirrt immer wieder. Man muss sich klar machen, dass Francois Jullien, wann immer er von "le nu" spricht zunächst nicht das Nackte, sondern den Akt meint. Allerdings nutzt Jullien die Doppeldeutigkeit des französischen Begriffs, um die philosophischen Weiterungen seiner Frage nach den Gründen des Fehlens einer Akt-Malerei in China entfalten zu können. Die Selbstverständlichkeit, mit der er dabei dem französischen Wortgebrauch folgt, hat etwas Rührendes. Jullien hatte sich zu Recht das Chinesische als Gegengift gegen seine Sprachgläubigkeit verschrieben.

Francois Jullien: "Vom Wesen des Nackten". Mit Photographien von Ralph Gibson, Sequenzia Verlag, München 2003. 194 Seiten mit zahlreichen s/w-Abbildungen, 24,90 Euro. ISBN 3935300425.