Vom Nachttisch geräumt

Auf Wiedersehen heute Abend!

Von Arno Widmann
14.10.2015. Der Dirigent des 20. Jahrhunderts - mal Führer, mal Mystiker, mal Aufklärer, mal weise. So beschreibt ihn ein Band über "Kommunikation im Musikleben - Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert".
Dreihundertzwölf Seiten, 14 Artikel von ebenso vielen Autoren. Themen sind zum Beispiel "Macht und Ohnmacht "ästhetischer Polizei" im Konzert nach 1900", "Musik als emotionale und gemeinschaftsbildende Praxis auf Parteitagen der SPD", "Musikleben im spätkolonialen Léopoldville und Brazzaville" oder "Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland, circa 1950 - 1985". Der erstgenannte Aufsatz zeigt, wie vehement der Kampf um andächtige Stille im Konzertsaal geführt wurde. Er zeigt auch, mit welcher Wucht die scheinbar doch nichts als innigen "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", Wackenroders Versuch der Etablierung einer Kunstreligion, ins bis dahin doch fröhliche Musikleben dringen.

Die strikte Unterscheidung von U und E, von Unterhaltungsmusik und Ernster Musik, beginnt ihren Siegeslauf vor 220 Jahren. Aber ich möchte diesen Hinweis doch ganz kurz halten. Der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel hat den Band nicht nur mit herausgegeben, sondern auch einen sehr lesenswerten Beitrag verfasst über "Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts zwischen Selbstdarstellung und Metierbeschreibung". Er versucht eine Generationenbündelung. Die um 1890 geborenen Dirigenten, die alle Umbrüche des 20. Jahrhunderts auf der Folie einer Kindheit und Jugend in der "Welt von Gestern" erlebt haben, zeigten "ein besonderes Bedürfnis, dem Publikum unmystifizierte Einblicke in die alltägliche Praxis der Vorbereitung, des Probens und der Aufführung von Musik zu geben: ein gleichsam handwerkliches Ethos der Transparenz, das im Gegensatz zu dem Schamanenkult einer späteren Epoche stand, als Herbert von Karajan und Leonard Bernstein das Musikleben in der Alten und der Neuen Welt charismatisch überstrahlten."

Wie ernst die ernstesten unter den ernsten Musikern es mit der ernsten Musik nehmen, darüber klärt Sven Oliver Müller vom Berliner Max Planck Institut für Bildungsforschung mit einer Knappertsbusch-Anekdote auf: "Einem zur Einstudierung einer Beethoven-Sinfonie versammelten Orchester erklärte er bündig: "Sie kennen das Werk, ich kenne das Werk. Auf Wiedersehen heute Abend!"".

Und hier probt der 1891 geborene, sachlich beseelte Hermann Scherchen mit dem Toronto Chamber Orchestra Bachs "Kunst der Fuge":



Kommunikation im Musikleben - Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, hrsg. von Sven Oliver Müller, Jürgen Osterhammel und Martin Rempe, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 312 Seiten, 5 s/w Abbildungen und zwei Tabellen, 49,99 Euro.