Vom Nachttisch geräumt

Tischbowling mit der Avantgarde

Von Arno Widmann
14.10.2015. Ein rasend schneller und blitzgescheiter Ritt durch die New Yorker Kulturlandschaft der 50er und 60er Jahre.
Es ist handlich. Für einen Bildband womöglich zu handlich. In einer Buchhandlung hätte ich das Buch wahrscheinlich übersehen. Gepriesen sei der Verlagsprospekt! Wer jetzt an einem Samstagnachmittag sich in einen der Liegestühle gegenüber dem Bodemuseum setzen möchte, der wird nach zwei, zweieinhalb Stunden aufstehen und beflügelt sein von Annie Cohen-Solals Führung durch die New Yorker Kunstszene der 50er und 60er Jahre. Die 1948 in Algier geborene Autorin gehört, so formuliert es das englischsprachige Wikipedia, "zu jener jüdischen Diaspora, die das Land während des algerischen Unabhängigkeitskrieges verließ".

Richtung Paris. Dort studierte sie Literaturwissenschaften, Sie unterrichtete u.a. an der Freien Universität Berlin, an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Derzeit ist sie Professorin für Amerikanische Studien an der Universität von Caen und Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Baltimore. Ich hatte von ihr außer ihrer weltberühmten Sartre-Biografie (mehr), die in diesem Jahr 30 wird, nur ihr Buch über den Kunsthändler Leo Castelli gelesen. Aber ihre Seiten in "New York 50s & 60s" haben mich so angefixt, dass ich hinübergegangen bin in die Burgstraße und mir bei Walther König ihr neuestes Buch über Rothko gekauft habe. Das ebenfalls fast 500 Seiten umfassende Buch über den Aufstieg der amerikanischen Malerei von 1867 bis 1948 habe ich mir in der englischen Fassung bestellt. Sie kostet weniger als halb so viel wie die französische. Auf Deutsch ist das Buch nicht zu haben.


John Raitt und Jan Clayton in "Carousel". Foto: Photofest

Aber Schluss damit. Hier geht es erst einmal um die mit 142 meist farbigen Abbildungen versehenen 125 Seiten über die Zeit zwischen Jackson Pollock und Andy Warhol. Angesichts dieser Relation von Text und Bild ist unfassbar, was Annie Cohen-Solal an Information und Reflexion hineingesteckt hat. Sie erzählt von Mondrians Begeisterung über Jackson Pollocks Bilder, sie erzählt von Konkurrenzkämpfen der Kritiker, von der Rolle der Galeristen, aber eben auch von der Entwicklung eines Mark Rothko. Sie schafft auf knappstem Raum Platz für kleinste Details und den großen Panoramablick. Und die Fotos! Nicht nur in bester Farbqualität Arbeiten von Jasper Johns, Franz Kline, Robert Rauschenberg, George Segal, Frank Stella und all den anderen, sondern auch s/w-Fotos der einschlägigen Happenings - eine inzwischen fast vergessene Kunstform - und privatere Aufnahmen, auf denen man zum Beispiel John Cage, Merce Cunningham und Robert Rauschenberg zusammen in Dillon"s Bar beim Skee-Ball-Spielen - eine Art Tisch-Bowling - sieht. Oder hübsch beisammen in Warhols Factory: Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, James Rosenquist, Andy Warhol und Tom Wesselmann.

Neben Annie Cohen-Solals Beitrag über "Bildende Kunst" gibt es den von Paul Goldberger über "Architektur und Design" und über "Darstellende Kunst" von Robert Gottlieb. Jeder der Beiträge hat mehr als einhundert Seiten. Allein der übers New Yorker Nachtleben, ein Unterkapitel des Abschnitts "Darstellende Kunst", hat 30 Seiten.

New York 50s & 60s - Kunst Kultur Lebensstil, Verlag Christian Brandstätter, Wien 2014, aus dem Englischen von Barbara Sternthal, 392 Seiten, 450 Abbildungen, 49,90 Euro