Vom Nachttisch geräumt

Klappt den Sargdeckel zu!

Von Arno Widmann
14.10.2015. Ein Gefängnis- tagebuch aus den Gründungsjahren der deutschen Demokratie: Erich Mühsams Tagebücher der Jahre 1919 bis 1921
Nach dem Palmsonntagsputsch am 13. April 1919, der Zerschlagung der Münchner Räterepublik, wird Erich Mühsam zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt. Dank einer Amnestie kommt er 1924 wieder in Freiheit. Die Bände sechs und sieben seiner Tagebücher reichen vom 27. April 1919 bis zum 5. Januar 1921, es sind die ersten Monate der Gefangenschaft. Es ist die Zeit seines Eintritts in die KPD und seines Austritts aus ihr. In den Aufzeichnungen vor dem Ersten Weltkrieg war Mühsam zu bewundern als der Mann, der oft ohne auch nur einen Pfennig sich durch die Boheme Münchens und Berlins schnorrte und nicht müde wurde, seine Gedichte und kleinen Texte zu veröffentlichen.

Dazu hielt er sich eine eigene Zeitschrift, die er sich vom Munde absparte, die er andererseits aber bei seiner Bettelei einsetzen konnte wie Penner ihren Hund. Es ist damit noch gar nichts gesagt über die Qualität von "Kain", Von der kann man sich im Netz leicht selbst überzeugen. Zu Mühsams herausragenden Eigenschaften gehörte die hoch entwickelte Fähigkeit zur Überschreitung von Schamgrenzen. Sein Nachruf auf August Bebel im Oktober 1911 bietet einen sehr anschaulichen Beleg dafür. Er beginnt mit einem Preislied auf den jungen Bebel und endet beim alten, der zum Beispiel statt weiter dem Kolonialismus prinzipiell entgegenzutreten, in der Marokko-Politik "gegen geeignete Mittel zur Kolonisation" nichts einzuwenden hat. Der Artikel endet mit den Worten: "August Bebel ist tot. Klappt den Sargdeckel zu!". August Bebel starb erst am 13. August 1913.


Mitglieder der ersten bayerischen Räteregierung in der Festungsanstalt, um 1920. In der Mitte vorn: Erich Mühsam

Der Mühsam der Tagebücher ist einerseits ein anderer, denn hier muss er nicht schreien, hier kann er nachdenken. Andererseits aber muss das Tagebuch ihm immer wieder alles ersetzen: nicht nur seine Zeitschrift, sondern auch seine Freunde. Manchmal vielleicht sogar auch seine Feinde. Vor allem aber die Realität. Die Wut auf die Sozialdemokratie und Noskes Zusammengehen mit der Reichswehr, um die Revolution niederzuschlagen, wurde gesteigert noch durch die eigenen Erfahrungen bei der Kooperation mit den Sozialdemokraten in der Münchner Räterepublik. Die Sozialdemokraten waren für ihn nichts als Verräter. Jedes Ereignis, von dem er hört oder liest - er bekam Zeitungen in den Gefängnissen, in denen er diese Jahre verbrachte -, kommentiert er. Täglich führt er sich schriftlich seine ganz private Lage und die der politischen Welt vor Augen. Der Leser hat den Eindruck: Mühsam muss das. Er kann nicht ohne.


August Sander: Revolutionäre (Alois Lindner, Erich Mühsam, Guido Kopp), 1929

Am 30. April 1919 erfährt er, dass seine Haftbeschwerde abgelehnt wurde, also erstattet er Anzeige wegen Hochverrat gegen u.a. den bayerischen Minister des Innern. Dann aber überlegt er, ob nicht der nächste Tag, der 1. Mai nämlich, die Verhältnisse wieder umstürzen und ihn und seine Genossen befreien wird.

Am 29. Juni 1919 notiert Mühsam, dass Noske den Kolonial-General Lettow-Vorbeck gegen die kämpfenden Hamburger Arbeiter zu Hilfe rief: "So verwendet er jetzt seine im Kampf gegen die Neger betätigten Feldherrntalente gegen die eigenen Landsleute." Am 11. Februar 1920 darf Mühsam "nach sechs Monaten endlich mal wieder meine geliebte, herrliche Frau (Kreszentia, 1884 - 1962) umarmen." Das notiert er, nachdem er detailliert beschrieben hatte, wie es ihm gelungen war, eine halbe Stunde mit ihr allein zu sein. Das Umarmen wird wohl ein embrasser gewesen sein. Er schreibt dann weiter: "Ich war glücklich zu sehn, wie aus ihr die Erlebnisse des Jahres eine vorbildliche Revolutionärin gemacht haben."

Die Notiz endet mit Überlegungen zum Tode des Dichters Richard Dehmel. Dass der, "der in jungen Jahren sich als Dichter des sozialen Leidens verpflichtet hatte, beim Erwachen des Volks 1918 gegen das Volk stand und bis zuletzt Partei nahm für Militarismus und Nationalismus. Für diesen Richard Dehmel habe ich keine Empfindung des Bedauerns. Sein Leben war vorbei, sein Tod kann es auch nicht mehr retten. Die Unsterblichkeit verdient man sich nicht durch sein Werk allein. Es gehört auch die menschliche Würde dazu, das Werk mit reiner Hand der Nachwelt zu übergeben. Was wird Dehmels Teil werden? Eine Anmerkung in der Literaturgeschichte und ein Achselzucken."

Die "reine Hand" scheint mir viel verlangt von einem Leben. Mühsam hat die vierzig schon überschritten und selbst ganz sicher keine reinen Hände mehr.

Erich Mühsam: Band 6 1919, Verbrecher Verlag, Berlin 2014, 463 Seiten, 28 Euro; ders.: Band 7 1919 - 1921, Verbrecher Verlag, 2014, 405 Seiten, 30 Euro