Vom Nachttisch geräumt

Blick zurück - nach vorn

Von Arno Widmann
17.08.2017. Was Amerika ausmacht, lernte Gloria Steinem von einem Taxi- fahrer, erzählt sie in "My Life on the Road".
1967 sitzt Gloria Steinem, damals schon eine der berühmtesten Journalistinnen der USA, in einem Diner in Virginia. Ein alter Mann, der zufällig am selben Tresen sitzt wie sie, erzählt: "Im Zweiten Weltkrieg war ich in Indochina, so wurde Vietnam damals genannt, und ich habe Ho Chi Minh nicht nur gesehen, sondern kennengelernt. Wir haben gegen die Japaner gekämpft, so wie er. Wir waren Verbündete. Er war unser Held, denn seine Guerillas haben die von den Japanern abgeschossenen Piloten aus dem Dschungel gerettet. Ho hat so viel Zeit mit den Amerikanern verbracht, dass man ihn irgendwann an den Camel-Zigaretten in seiner Brusttasche erkennen konnte. Er hat Präsident Roosevelt verehrt, der Churchill mit dem Ausspruch verärgerte, der Kolonialismus müsse nach dem Krieg ein Ende haben. Ho kannte sogar unsere Unabhängigkeitserklärung auswendig. Nach diesem Beispiel wollte er die französischen Kolonialherren nach Hause schicken. Aber nach Roosevelts Tod änderte sich alles. Truman ist Ho Chi Minh in den Rücken gefallen und hat sich mit den Franzosen verbündet, weil Frankreich sich andernfalls geweigert hätte, der NATO beizutreten. Aber haben wir nicht selbst eine Revolution gebraucht, um uns von Großbritannien zu lösen? Haben wir nicht einen Bürgerkrieg ausgefochten, damit unser Land nicht in Nord und Süd zerfällt? Tja, nichts anderes versucht Ho Chi Minh jetzt - und wir kämpfen auf der falschen Seite."


Gloria Steinem on the road

Der von Gloria Steinem zitierte alte Mann hatte Recht. Der Ost-West-Konflikt blendete viele. Kuba wurde zunächst mehr durch ihn als durch Fidel Castro auf die Seite der Sowjetunion gedrängt. Wir teilen uns die Welt ein. Wir müssen es tun. Sonst können wir nicht handeln. Aber wir übersehen leicht, dass diese Einteilung, so sehr sie uns Durchblick verschafft, ihn uns gleichzeitig verwehrt. Hätte die amerikanische Regierung 1967 auf den alten Mann gehört, die Geschichte der USA und die des Westens insgesamt hätte sich anders entwickelt.

Gloria Steinem erzählt in ihrem Buch immer wieder davon, wie sehr unsere Wahrnehmung uns täuschen kann. Sehr ergreifend ist die Geschichte von dem tätowierten weißen Veteranen, der sie und ihren schwarzen Freund zum JFK-Flughafen fährt. Sie hat ein wenig Angst vor ihm. Er sieht in seinem weißen Unterhemd aus wie ein rassistischer Haudegen. Aber als sie zahlen, schiebt er ein Foto durch die Öffnung in der Trennscheibe zwischen Fahrer und Fahrgast: "Das bin ich mit meiner Frau bei unserer Hochzeit. Seit vierzig Jahren waren wir keine Nacht getrennt, bloß während der Zeit, als ich in Korea war. Sie ist meine beste Freundin und mein größter Schatz, aber glauben Sie mir - alle waren gegen unsere Ehe. Ihre Familie ist jüdisch und aus Polen eingewandert, meine ist katholisch und stammt aus Sizilien. Die Schwiegereltern haben das erste Mal miteinander geredet, als das erste Enkelkind zur Welt kam. Ich erzähle ihnen das, weil heute unser Hochzeitstag ist. Und wenn ich das sagen darf: Sie beide erinnern mich an uns." Er schenkt ihnen die Taxifahrt und am Ende ruft er ihnen nach: "Wissen Sie, ich und meine Frau und Sie beide - das ist es doch, was dieses Land ausmacht."

Ich traue Gloria Steinem nicht. Sie hat diesen Taxifahrer erfunden, um einer schönen, ergreifenden Geschichte willen, denke ich. Aber das ist nun wirklich eine Erfindung. Ich habe nämlich keine Ahnung. Ich mag nur nicht von meinen Emotionen ergriffen werden. Aber gleichzeitig weiß ich natürlich auch, dass ich darum lese, und ich weiß auch, dass das Leben manchmal den Klischees widerspricht, in dem es sie durch die richtigen Leute aussprechen lässt. Ich mag das Buch und wünsche ihm viele Leserinnen. Auch solche, die wissen, dass Gloria Steinem ein paar Jahre lang die berühmteste Feministin der Welt war. Was noch einmal ein ganz anderes Thema wäre.

Gloria Steinem: My Life on the Road, aus dem Amerikanischem von Eva Bonné,  btb, München 2016, 384 Seiten, 9 s/w Abbildungen, 16,99 Euro