Vom Nachttisch geräumt

Das Leben ist eine Einwanderungsgesellschaft

Von Arno Widmann
09.09.2015. ... und eine Informations- gesellschaft. Kann man alles lernen von den Ameisen, Bakterien und Pilzen, die Monika Offenberger in ihrem Buch "Symbiose" beschreibt.
Wer seinen Blick auf die Welt korrigieren möchte, der lese "Symbiose" von Monika Offenberger. Zum Kampf aller gegen alle gehört auch, dass jeder sich mit jedem verbündet. Auf dem Umschlag sieht man eines jener berühmten Fotos, das eine Antilope zeigt, die sich von einem Vogel ruhig im Fell stochern lässt. Der Madenhacker killt die für die Antilope lästigen bis gefährlichen Mitbewohner. Er nährt sich von ihnen. Ist der Vogel auf Antilopen spezialisiert? Auf diese Antilope? Oder hackt er überall nach den Leckerbissen, die die Maden nun einmal für ihn sind? Der Leser des Buches erfährt es. Wie er auch erfährt, dass das nur eine der Formen der Symbiose ist, wenn man das denn überhaupt Symbiose nennen möchte. Es gibt die zwischen Blumen und Bienen. Beide sind auf einander angewiesen, haben aber nur wenige Sekunden miteinander zu tun. Und es gibt lebenslängliche Verbindungen, bei denen man den einen vom anderen Partner kaum noch unterscheiden kann.


Blattschneiderameisen auf ihrem Pilz. Bild: Uni Bamberg

Schon aus dem Schulunterricht wissen wir, dass Blattschneiderameisen Pilze züchten, von denen ihre Larven leben. Inzwischen weiß die Wissenschaft oder glaubt doch zu wissen, dass diese Symbiose etwa 50 Millionen Jahre jung ist und dass die Ameisen genau wissen, womit sie die Pilze nähren müssen, damit es den Larven gut geht, wenn sie Hyphen und Fruchtkörper der Pilze zu sich nehmen. Man hat das, berichtet Offenberger, durch Laborexperimente herausgefunden. Die Ameisen brachten den Pilzen zunächst auch vergiftete Blätter. Nach einer Weile rührten die Ameisen die präparierten Blätter nicht mehr an. Offenbar hatte der Pilz, der Kunde also, die Lieferungen abgelehnt und nun weigerten sich die Ameisen, die vergifteten Blätter den Forschern abzunehmen. Wie die Kommunikation zwischen Pilz und Ameise funktioniert, ist dem Buch nicht zu entnehmen. Offenbar aber war kein Massensterben der Pilze nötig, um die Ameisen davon zu überzeugen, dass sie auf das Biozeichen achten müssen. Wie es zu einer so engen Symbiose kam, weiß man nicht.

Aber wo das Rettende ist, wächst die Gefahr auch. Es gibt einen Schimmelpilz, der sich einnistet in den Gewächshäusern der Ameisen. Er versucht ihnen die Ernten zu ruinieren. Es gibt ihn nur dort. Er ist womöglich so alt wie die Symbiose. Ein Mitesser, den die Ameisen in 50 Millionen Jahren nicht loswurden. Sie haben gegen alle möglichen anderen Feinde antimokrobielle Substanzen entwickelt. Aber gegen Escovopsis ist ihnen noch nichts eingefallen. Zwischen alles Leben schiebt sich anderes Leben. Es kämpft und paart sich. Letzteres nicht nur intra- sondern auch interspecies.

Schon etwas vom Wood Wide Web gehört? Chinesische Wissenschaftler, so Offenberger, haben herausgefunden, dass Tomatenpflanzen über das sie verbindende Netzwerk von Mykorrhizapilzen einander vor Mehltaupilzen warnen. Die benachrichtigten Tomaten mobilisieren Abwehrstoffe gegen die Angreifer. Jede Hardware scheint in der Natur Träger einer Software zu sein, die wir erst langsam aufzuspüren beginnen. Wir reden davon, dass wir uns auf dem Weg in eine Informationsgesellschaft befänden. Rührend. Das Leben ist von Anbeginn an eine Informationsgesellschaft.


Symbiose von Plattwurm und Alge. Bild: Frontiers in Microbioglogy. Mehr zum Thema hier.

Ich hatte noch nie vom Plattwurm gehört. Er ist nur fünfzehn Millimeter lang und lebt an den Stränden an beiden Seiten des Ärmelkanals. Kommt die Flut, bohrt er sich in den Sand, tritt sie zurück, kommt er wieder hervor und streckt sich in die Sonne. Er tut das, damit die ihn bewohnenden Algen ihre Arbeit verrichten können. Offenberger beschreibt das so: "In einem einzigen Plattwurm fand ein Forscher geschätzte 40.000 Algen. Symsagittifera roscoffensis (der Plattwurm) und (die Alge) Tetraselmis convolutae sind perfekt auf einander eingespielt. Sobald der Wurm vollends besiedelt ist, hört er auf zu fressen, bildet Mundöffnung und Speiseröhre zurück und überlässt seine Ernährung den Algen. Die Symbionten bauen dazu ihre Zellwände und Geißeln ab und bilden lappenförmige Auswüchse. Damit schieben sie sich zwischen die Muskelzellen des Wurms und vergrößern so ihre fotosynthetisch aktive Oberfläche. Wurmlarven, die im Labor ohne Algen gehalten werden, verhungern, auch wenn man ihnen noch so viel andere Nahrung anbietet. Bringt man sie mit den falschen Algen in Kontakt, leben sie mit ihnen mehr schlecht als recht. Gibt man ihnen anschließend die richtigen Partner, dann kündigen die Würmer diese Notgemeinschaft auf: Sie werfen die fremden Untermieter hinaus und überlassen deren Platz den natürlichen Symbionten."

Die Eukaryontenzelle gibt es jetzt - das jetzt gibt der Sache eine trügerische Präzision - seit eineinhalb Milliarden Jahren. Sie ist die Zelle, die wir kennen. Sie hat einen Zellkern, Mitochondrien und andere Organellen. Vor ihr gab es Archaeen und Bakterien. "Bis eines dieser altmodischen Archaeen, das durch Gärung sein Leben fristete, begann, sich ein fortschrittliches atmendes Bakterium einzuverleiben. Statt seine Beute einfach zu verdauen, hielt sie es dauerhaft in sich gefangen und benutzte sie als Energielieferanten." Und so leben sie noch heute. Milliardenfach in jedem von uns, in jedem Pilz, in jedem Wurm. Symbiose findet nicht nur zwischen Lebewesen statt. Sie konstituiert sie auch. Ohne Immigration gebe es nicht einmal unsere Zellen.

Monika Offenberger: Symbiose - Warum Bündnisse fürs Leben in der Natur so erfolgreich sind, dtv, München 2015, 159 Seiten, farbige Abbildungen,16,90 Euro