Vom Nachttisch geräumt

Die Moral der Lemminge

Von Arno Widmann
09.09.2015. Folgt einer hehren Prinzipienreiterei, ohne die Folgen zu analysieren: Michael J. Sandels Überlegungen zu einer gerechten Gesellschaft in "Moral und Politik".
Michael J. Sandel ist einer der bekanntesten Philosophen der Welt. Einer der angesehensten auch. Seit 1980 lehrt er in Harvard Politische Philosophie. Ein intellektueller Gigant. So riesig, dass ich ihn nicht sehen kann. "Moral und Politik - Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft" heißt sein gerade bei Ullstein auf Deutsch erschienenes Buch. Wäre er nicht der Gigant, der er doch wohl ist, ich hätte auf Seite sieben mit der Lektüre aufgehört. Er reiht Beobachtungen an einander, statt sie auf einander zu beziehen. Er konstatiert, die Bürger seien frustriert von der Politik. Ein paar Zeilen weiter spricht er vom Aufkommen der Protestbewegungen. Reflexion wäre der Versuch, beide Beobachtungen zu verbinden und vielleicht dahinter zu kommen, dass Politik nicht gleich Politik ist. Dass man also mit der einen aufhören kann, weil man es vorzieht, die andere zu machen.

Sandels Buch ist eine Zusammenstellung von Ad-hoc-Kommentaren. Es ist hübsch zu lesen, wie er die vermehrte Zulassung von Lotterien, Spielcasinos, Wettgeschäften aller Art als Teil des Siegeszuges der Spekulationsökonomie betrachtet. Aber wenn er dann die Backen aufbläst und als Höhepunkt der Amoralität den Hedgefonds-Manager John Paulson anprangert, der doch tatsächlich die Unverschämtheit besaß, ab 2005 auf den Zusammenbruch der Immobilienblase zu setzen und so an deren Zusammenbruch drei bis vier Milliarden Dollars verdiente. Dieser Zocker habe ein "handfestes Interesse am Unglück anderer" entwickelt, schreibt Sandel.

Ich halte das für kompletten Blödsinn. Hätten mehr wie John Paulson gehandelt, weniger Menschen wären ruiniert worden. Allerdings hätte auch Paulson einen viel geringeren Schnitt gemacht. Ich muss gestehen, dass ich die Verhinderung eines Bankrotts von Hunderttausenden für eine sehr moralische Option halte. Ganz sicher moralischer als die Verdammung des plötzlichen Reichtums eines Einzelnen.

Sandel diskutiert diese verschiedenen Betrachtungsmöglichkeiten nicht einmal. Er wägt sie nicht gegeneinander ab und kommt dann zu seinem Schluss. Moral ist aber nichts anderes als das Abwägen der Folgekosten einer zu treffenden Entscheidung. Es geht bei der Moral gerade nicht darum, Prinzipien aufzustellen und dann zu überprüfen, ob ihnen gefolgt wurde oder nicht. Dergleichen führt zu so ungeheuerlichen Absurditäten wie jener, die Kant - einem Vorwurf Benjamin Constants antwortend - in seinem 1797 publizierten Aufsatz "Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen" so formulierte: auch "die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgte Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet", wäre ein Verbrechen.

Zurück zu Sandels Paulson-Beispiel. Hätte sich Paulson verhalten wie alle anderen, hätte er weiter auf ein Wachstum des Immobilienmarktes gesetzt, hätte er dazu beigetragen die Blase weiter anwachsen zu lassen, er hätte dazu beigetragen, dass noch mehr Anleger noch tiefer gefallen, dass die Krise noch brutaler sich ausgewirkt hätte. Er wäre freilich Sandels moralischem Vernichtungsurteil entkommen. Denn er wäre den anderen Marktteilnehmern, ein Lemming unter Lemmingen, in den Untergang gefolgt. Ich mag nicht weiterlesen.

Michael J. Sandel: Moral und Politik - Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft - Wie wir das Richtige tun, aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter, Ullstein, Berlin 2015, 351 Seiten, 22 Euro.