Vom Nachttisch geräumt

Es liegt am Vortragskünstler

Von Arno Widmann
09.09.2015. Beschwören die Schönheit der Theorie und andere Räusche: Philipp Felsch und Oskar Roehler
Preisen wir Philipp Felsch. Sein Buch "Der lange Sommer der Theorie" ist eines der schönsten Bücher des Jahres. Es ist voller Einsichten in eine gar nicht so lange zurück liegende Epoche der Westberliner Geschichte. Es ist spannend geschrieben. Ich jedenfalls konnte es nachts kaum aus der Hand legen. Allerdings war ich dabei. Die meisten Bücher, die meisten Personen, ja sogar die meisten Ereignisse, von denen Felsch erzählt, habe ich gelesen, gekannt und erlebt. Niemals hätte ich so aufgeregt und erregend davon erzählen können wie der erst 1972 geborene Philipp Felsch, der bei nichts dabei war, der sich alles hat anlesen und nacherzählen lassen müssen. Aber wie jeder Autor weiß, entsteht nichts aus der Anschauung. Sie muss erinnert werden, um eine Gestalt zu bekommen. Am besten vielleicht von denen, die sich der Erinnerung der anderen bedienen für ihre Erzählung.

Der Merve-Verlag, also Heidi Paris und Peter Gente, das Posthistoire-Seminar, Dietmar Kamper, Jacob Taubes. Darum herum Adorno, Enzensberger, Habermas e.a. Ganz wichtig die französischen Stichwortlieferanten: Althusser, Barthes, Baudrillard, Deleuze, Derrida, Foucault, Guattari, Lyotard und Virilio. Wem all diese Namen nichts bedeuten, der wird auch mit diesem Buch nichts anfangen können? Falsch. Seinen Sog entwickelt das Buch nicht aus diesen Namen, sondern aus der Beschwörung einer vergessenen Schönheit: der der Theorie. Philipp Felsch erzählt von einer Zeit, in der eine Generation, die ein paar Jahre mit einer von einer mehr oder weniger marxistischen Theorie angeleiteten Praxis verbracht hatte, noch einmal die Freuden des Lesens, die Schönheit des Gedankens, die Lust am Denken entdeckt. Es gab einen Hunger auf Ideen, auf alte, längst abgelegte und neue, noch nie gehörte. Die Ordnung der Dinge löste sich auf im Rhizom eines wilden Denkens. Nein. Aufgelöst wurde nichts. Für ein paar Jahre schien alles neben allem stehen zu können. Carl Schmitt breitete sich aus in den Köpfen neben John Cage. Der Feminismus war dort und seine Verachtung. Alles schien denen interessant, die wieder interpretieren wollten, nach dem ihre Versuche der Weltveränderung gescheitert waren.


Peter Gente (zweiter von links) liest Mille Plateaux von Gilles Deleuze und Felix Guattari, Polen, 1994. Abb. aus: "Der lange Sommer der Theorie", C.H. Beck

Philipp Felsch weckt Nostalgie nach dieser Zeit, nach dieser Haltung. Man liest das Protokoll einer Sitzung des Posthistoire-Seminars von Dietmar Kamper und Jacob Taubes und stößt darin auf ein paar Bemerkungen von Sybille Lewitscharoff. Sie war damals noch keine berühmte Autorin. Sie war noch nicht die geworden, die sie ist. Nach einem die Zuhörerschaft langweilenden Duchamp-Vortrag meinte sie: "Ein Dozent sollte entweder schön, klug oder witzig sein. Dieser war nichts davon." Das war sehr prätentiös und hübsch frech formuliert. Man könnte den Spruch datieren. Lewitscharoff hat die alte Trias vom Wahren, Schönen, Guten postmodern aufgefrischt. Wir liebten solche Frechheiten damals sehr, aber kaum jemand konnte sie so artig spitzmäulig artikulieren wie Sybille Lewitscharoff. Und wie wunderbar gemein sie war: "Würde ein dicker Sachse diesen Vortrag in sächsischer Mundart vortragen, wäre es gut. Es liegt am Vortragskünstler." Sie hatte schon damals den szenischen Blick. Sie verstand schon damals, dass alles von der Umgebung abhängt, in der etwas gesagt und getan wird. Aber nicht das Soziologiestudium hatte ihr das beigebracht, sondern die noch versteckt in ihr lebende Erzählerin. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass viele ihrer Generation lange Umwege gingen, bis sie bei sich ankamen. Oder auch nicht.

Der Hinweis auf Sachsen war freilich auch eine hämische, rassistische Pointe. Sie erhellt aber auch eine große, sehr signifikante Abwesenheit in Felschs Buch: die DDR. Sie spielte in den von Felsch reanimierten Debatten, die damals im von den Mauern der Deutschen Demokratischen Republik eingekreisten Westberlin geführt wurden, keine Rolle. Zwischen Ludwig Wittgenstein und Christoph Wulf steht im Personenverzeichnis keine Christa Wolf. Auf Romy Haag und Jürgen Habermas folgt keine Nina Hagen. Auch Wolf Biermann kommt nicht vor. Zwischen Martin Heidegger und Rudolf Heinz steht kein Christoph Hein. Der einzige diesem Kreis satisfaktionsfähig erscheinende DDR-Bürger war Heiner Müller. Die Welt ist ein purloined letter. In der Erzählung von Edgar Allan Poe aus dem Jahre 1844 liegt der gesuchte Brief so vor aller Augen, dass niemand ihn sieht. So ging es großen Teilen der intellektuellen Öffentlichkeit Westberlins mit der DDR. Es gab auch andere. Aber die hatten nur wenig Berührung mit den Debatten ums Posthistoire.

Man legt Felschs Buch immer wieder bei Seite und fragt sich, was aus den Gedanken von damals wurde. Gingen sie ein in unser Denken heute oder sind sie eingegangen? Spielten sie irgendwo, irgendwann eine Rolle? Welchen Metamorphosen unterlagen sie und welche halfen sie in Gang zu setzen? Philipp Felschs Buch ist eine Erzählung, deren Reiz darin besteht, von einer fremden, wohl selbst den Akteuren von damals inzwischen exotisch vorkommenden Welt zu erzählen. Felsch stellt sich nicht die Frage nach den Neben- und Nachwirkungen.

Wer Philipp Felschs "Langen Sommer" preist, der darf Oskar Roehlers "Mein Leben als Affenarsch" nicht übersehen. Erst ganz am Ende erzählt Felsch von der Paris Bar, vom Dschungel und den anderen Treffpunkten, in denen die Damen und Herren des Posthistoire ihre Debatten zugleich fortsetzten und vergaßen. Oskar Roehlers großartiger Roman spielt auch in den 80er Jahren in Westberlin. Er spielt nicht in Seminaren. Er erzählt von anderen Räuschen. Die damals ebenso real waren, wie der der Theorie. Roehler erzählt von Sex, Drugs und Punk. Das alles gab es auch in der Merve-Welt. Aber wie artig kommt das bei Felsch vor und wie todessehnsüchtig, wie selbstzerstörerisch, wie gierig bei Roehler. Der Hunger aufs Leben, aufs Selbstsein kann so stark werden, dass er Selbst und Leben auffrisst. Das liest man nicht bei Roehler, das erfährt man nicht von ihm, sondern das erlebt man mit ihm. So sehr, dass man aufhört weiter zu lesen. Weil man es nicht erträgt.

Felsch konnte ich kaum aus der Hand legen. Roehler musste ich. Und immer wieder griff ich danach und immer wieder ließ ich es fallen und griff wieder danach. Ich brauchte Wochen und hatte es erst zur Hälfte gelesen. Ist Roehler schön, klug oder witzig? Nein, er ist es nicht. Er ist eine Gewalt. Für solche wie ihn wurde das Buch erfunden. Es gibt ihm die Möglichkeit, sich uns zu zeigen, ohne dass wir schreiend davon rennen. Aus Angst vor Infektion. Wir müssen das Buch nur zuklappen. Aber er hat den Gedanken an all das, was aus den schönsten Motiven an Entsetzlichem geschehen kann, schon eingesenkt in unser Nervensystem. Wir versuchen ihn zu verdrängen, aber loswerden tun wir ihn erst einmal für eine lange Zeit nicht mehr. Wer wissen will, was für ein Biotop für Wiedergänger aller Art Westberlin vor dem Fall der Mauer war, muss beide Bücher lesen. Neben- und gegen einander.

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie - Geschichte einer Revolte 1960 - 1990, C.H. Beck, München 2015, 327 Seiten, viele s/w Fotos, 24,95 Euro.

Oskar Roehler: Mein Leben als Affenarsch, Roman, Ullstein, Berlin 2015, 223 Seiten, 18 Euro.