Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
29.12.2005. Unser Autor reist mit Thomas Friedman durch die moderne und mit dem Städel-Jahrbuch durch die antike globalisierte Welt. Er staunt über das Rätsel persischer Dichtung, bewundert die Schönheitssehnsucht von Henze und Bachmann und lässt sich von Kazuyoshi Nomachi Gläubige auf der ganzen Welt zeigen.
Globalisierung für Provinzler

Er übertreibt. So sagen viele, so hoffen die meisten Leser von Thomas Friedmans "The world is flat". Das Buch erschien Anfang des Jahres, und ich hatte gehofft, es käme noch in diesem Jahr auf Deutsch, aber jetzt muss ich doch auf die englische Ausgabe hinweisen. Denn Friedman lesen muss man. Friedman übertreibt nicht. Ich sage das nicht, weil ich es wüsste, sondern weil ich - das sei dem kritischen Leser zur Warnung für die Lektüre dieses Hinweises mitgegeben - zu denen gehöre, die glauben, dass nichts falscher ist als die tröstende Redensart: Nichts wird so heiß gegessen, wie es auf den Tisch kommt. Das ist die Erfahrung eines bürgerlichen Familienvaters, der über sämtliche in Rede stehenden Zutaten und Aktionen bestimmt. Es kommt nur auf den Tisch, was er will. Am Tisch sitzen nur, die er zulässt. Gegessen wird, wann er will, und er nimmt dazu das Besteck, das er möchte. Die Wirklichkeit der Weltwirtschaft aber sieht anders aus.

Selbst ein Bill Gates scheitert mit dem Versuch, über alle Faktoren seiner Produktion zu bestimmen. Thomas Friedman war Reporter und ist jetzt Kolumnist der New York Times. Er war unterwegs um sich, so der Untertitel seines Buches, "the globalized world in the 21st century" anzusehen. Bei seiner Ankunft im indischen Bangalore fragt ihn sein Führer Rao schon nach wenigen Minuten, ob er nicht für ihn seine Steuererklärung machen könne? Der indische Führer für den amerikanischen Journalisten. Friedman sagt seinem neuen Bekannten, er habe bereits einen Steuerberater. Rao erklärt ihm, er habe eine kleine Firma, die als Subunternehmer für amerikanische Steuerberater oder für kleinere und mittlere Betriebe die Steuererklärungen anfertige. In diesem Jahr seien es mehrere Tausend gewesen. Im nächsten werde er ordentlich wachsen.

Die Zahlen geben ihm Recht. 2003 wurden um die 25.000 amerikanische Steuererklärungen in Indien verfasst. 2004 waren es 100.000 und 2005 werden es wohl 400.000 sein. Friedman fragt, wie Rao auf die Idee zu diesem Geschäft kam. Rao hatte in den USA bei der Citigroup gearbeitet. Als er sich entschloss, nach Indien zurückzukehren, hatte er ein paar Verträge mit großen Firmen in der Tasche. Er verdiente sein Geld, aber erst als kleine und mittlere Unternehmen ihn ansprachen, ob er nicht auch Programme für ihre Buchhaltung entwickeln könnte, da sah er, wo das wirkliche Geschäft lag. Seine ganz persönliche Globalisierung hatte bei der größten Bank der Welt begonnen und war innerhalb von sieben Jahren bei Rechtsanwälten und Ärzten um die Ecke angekommen.

Friedman macht klar: es geht nicht mehr um Schweinebäuche und Stahl, um Kapitalmärkte und Großindustrie. Globalisierung ist nicht mehr Sache des Big Business. Die Globalisierung ist bei den Kleinen angekommen. Rao ist einer dieser Kleinen. Er hat als Einmann-Multi begonnen. Weil er lieber zu Hause ist, lieber mit seiner Familie, mit dem vertrauten Klima, den bekannten Straßen, dem gewohnten Essen, den alten Gewohnheiten. Rao ist aus lauter Heimweh ein "global player" geworden. Die Globalisierung ist etwas für Provinzler. Der "Duft der großen weiten Welt" war gestern. Das Internet riecht nicht. Es ist von allen Orten der Welt fast gleich weit entfernt. Es kennt nur eine Sprache. In ihm sind fast alle fast gleich. Es ist das Schwere, das leicht zu machen ist.

Keine Angst, so schreibt Friedman nicht. Er sieht sich um, fragt, hört zu und schreibt auf. Er redet mit denen, die die Globalisierung betreiben. Er übersieht nicht eine Sekunde lang die Opfer. Aber er weiß auch, dass, wer heute Opfer der Globalisierung ist, gestern, als ihre Kritiker sie noch Imperialismus nannten, von ihr lebte. Es gibt inzwischen einen globalen Arbeitsmarkt, macht Friedman klar, gegen den Zäune und Visazwang machtlos sind. Mit der Zusammensetzung der internationalen verändert sich auch die der nationalen Arbeitskraft. Das dafür immer wieder - auch von Friedman - bemühte Beispiel sind die Callcenter. Sie können überall auf der Welt sein. Es ist in vielen Fällen eine Arbeit, die nach kürzester Einweisung jeder machen kann. Man kann sie dank der modernen Telefontechnik nebenbei machen.

Das erschließt völlig neue Möglichkeiten. Friedman erzählt von David Neeleman, dem Gründer und Vorstandsvorsitzenden der Billigfluglinie JetBlue Airways. Wer dort einen Flug buchen oder eine andere Auskunft haben möchte, der gerät - von wo aus auch immer er anruft - an eine meist weibliche Stimme aus der Gegend von Salt Lake City. Neeleman beschäftigt 400 Angestellte, die kein einziges Büro brauchen, weil sie alles von zu Hause aus machen. Es sind viele Mütter und Hausfrauen dabei, Rentnerinnen und Rentner, die, während sie kochen, waschen, aufräumen, putzen und fernsehen, Kundenberatung machen. Man kann sich vorstellen, was die Ersparnis von Büroraum für 400 Menschen bedeutet, und man kann sich auch vorstellen, dass, wer sein Geld neben der Hausarbeit verdient, mit weniger zufrieden ist. Ganz abgesehen davon, dass er sich nicht zusammenschließen kann mit anderen, um mehr zu erkämpfen. Wobei der letzte Punkt vielleicht so wichtig nicht ist. Das Telefon kann schließlich auch von den Angestellten zur Kommunikation genutzt werden. Vorausgesetzt, sie haben von einander die Telefonnummern.

David Neeleman hat noch einen anderen Grund für sein Konzept. Er ist Mormone. Seines Erachtens sollte die Frau Heim und Herd nicht verlassen. Das ist ihr Ort. Da gehört sie hin. Es sei denn, sie besucht einen der Fortbildungskurse von Neelemans Firma. Seine Angestellten arbeiten 25 Stunden die Woche. Friedman sagt uns nicht, ob das mit arbeitsrechtlichen Bestimmungen in Salt Lake City zu tun hat. Der Verdacht, dass so noch einmal der Lohn gedrückt werden kann, drängt sich allerdings auf. Neeleman erklärt Friedman, warum er niemals nach Indien outsourcen würde. Es sind keine patriotischen Gründe. "Unternehmer sourcen lieber nach Indien aus als in die Wohnungen hier. Ich verstehe das nicht. Sie scheinen zu denken, die Leute müssten bei der Arbeit vor ihnen oder irgendeinem von ihnen bestimmten Boss sitzen. Die Steigerung der Produktivität, die wir hier erzielen, macht die billigeren indischen Lohnkosten mehr als wett."

Friedmans Buch ist voll solcher schlagenden Beispiele. Welcher Büroarbeiter, eingeschlossen der Schreiber dieser Zeilen, träumt nicht davon, von zu Hause aus zu arbeiten? Oder vom Strand, vom Garten aus? Die eine oder andere von Neelemans Hausfrauen arbeitet vielleicht noch für zwei, drei andere Firmen. Sie wird dann gut verdienen. Sie wird mehr arbeiten, als sie es jemals in einem Büro tat, aber sie wird es vielleicht lieber tun. Wer der Auffassung zuneigt, das Büro sei eine Erfindung von Männern, die den Familienbanden entkommen wollten, wird diese Entwicklung mit Entsetzen betrachten. Er wird von Isolierung, von Einsamkeit und Grünem Witwenkoller sprechen. Aber man darf nicht vergessen, es geht nicht nur um die Frauen. Es geht um die Arbeitskraft insgesamt. Mann und Frau werden beide zu Hause sitzen und arbeiten.

Wer jetzt einen Schreck bekommt, darf nicht vergessen, dass das Jahrhunderte, Jahrtausende lang, gängige Praxis war. Die Internet-Service-Gesellschaft wäre auch ein Stück Restauration. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat die Trennung von Arbeits- und Wohnort als entscheidendes Charakteristikum einer "vaterlosen Gesellschaft" beschrieben. Arbeits- und Wohnort können jetzt via Satellit und Tiefseekabel wieder zusammenkommen. Ob es die Menschen dann auch tun oder ob sie weiter auseinander driften, ist im Augenblick nicht klar abzusehen. Als die Internet-Aktien boomten, schien uns diese Zukunft, die doch dieselbe war, schöner und näher zugleich. Das Geld floss und die Globalisierung war eine Freude für jeden, der ein paar Mark übrig hatte, um sie einem jungen Mann hinter einem Bankschalter zur Verfügung zu stellen. Inzwischen haben in Deutschland auch die jungen Männer hinter den Bankschaltern - so viele wurden in den letzten Jahren geschlossen - Angst vor der Globalisierung.

Sie haben Recht. Wer Friedmans Buch liest, dem wird klar, dass Globalisierung nichts anderes ist, als das Zusammenleben in immer mehr, in immer besser mit einander verschalteten kommunizierenden Röhren. Schon lange ist vom Weltmarkt die Rede. Aber heute wird auf ihm deutlich mehr gehandelt, als noch vor zehn Jahren. Immer mehr Produkte und Dienstleistungen können global abgerufen werden. Das senkt den Preis. Heute kann man über zwei, drei Anbieter Millionen antiquarische Bücher aus aller Welt bestellen. Mit einem Knopfdruck vergleicht man den Preis, und siehe da, es kommt billiger, sich Conzes Memoiren aus Australien kommen zu lassen als in ein Berliner Antiquariat zu gehen. Die Differenz sind 20 Euro bei einem Preis von 40 Euro. Selbst bei so kleinen Beträgen lohnt sich die Weltreise.

Wir haben das der viel gescholtenen "bubble era", der Zeit des Internetbooms zu verdanken, der am Ende Hunderte von Milliarden Dollar verbrannte. "Ohne diesen Boom hätte es nie das Geld gegeben, um Hunderte von Millionen Dollar in Meereskabel, und Breitband-Verbindungen zu investieren", lässt sich Friedman von Nandan Nilekani, dem Chef eines der größten Informationstechnologiekonzerne Indiens, erklären. Es ist dieser nüchterne Blick auf den Zusammenhang von Aufschwung und Katastrophe, der Friedmans Buch immer wieder so großartig macht. Friedman nimmt uns auch die von unseren Politikern immer wieder geschürte Illusion, wir könnten dem Wettbewerb durch Qualitätssteigerung entkommen. Die Schweiz hat der Krise ihrer Uhrenindustrie nicht durch noch bessere, noch teurere Uhren gegensteuern können, sondern in erster Linie durch die Swatch. Vor allem aber musste das Land darauf sehen, unabhängiger von der Uhrenindustrie zu werden.

Vor zwanzig Jahren wurden die japanischen Automobile als billigere, aber schlechtere Varianten amerikanischer oder deutscher Modelle angesehen. In den Augen vieler Verbraucher hat sich dieses Bild inzwischen umgekehrt. Es ist absehbar, dass man bald dasselbe über chinesische Halbleiter sagen können wird. Außerdem geht es immer um ein Preis-Leistungsverhältnis. Das Publikum, das von allem immer nur das Beste zu nehmen sich leisten kann, ist notwendig sehr klein. Die Globalisierung, die wir heute erleben, ist ja gerade keine der Luxusgüter, sondern die des Massenverbrauchs und der von jedem überall benötigten Dienstleistungen.

Die Idee zum Titel des Buches kam Friedman, als ihm Nandan Nilekani erklärte: "Das Spielfeld der Weltökonomie ist dabei, eingeebnet zu werden, der Abstand zwischen den USA und Indien verringert sich." Von dort bis zu Friedmans Titel ist es ein weiter Weg. Und soviel weiß man: Flach wird die Welt solange sie von Menschen bewohnt wird, niemals werden. New York sieht heute, wenn man den Berichten der zwischen beiden Städten Pendelnden, glauben darf, schon mächtig alt aus gegen Shanghai, aber ob die chinesischen Bauern jemals das Niveau der amerikanischen erreichen werden, darf bezweifelt werden. Nicht nur, weil das der amerikanischen sich senken wird, sondern auch, weil es die Volkswirtsutopie eines gleichmäßigen, ausgeglichenen Wachstums nicht gibt. Schon gar nicht bei globalem Wettbewerb. Das ist auch falsch an dem Bild von den kommunizierenden Röhren. Es macht zwar klar, dass es keinen Sinn hat, an die Ewigkeit der bestehenden Unterschiede zu glauben, es nährt aber fatal die Vorstellung der Erreichbarkeit eines Gleichgewichts.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der werden Röhren überschwemmt, andere platzen, manche verschmelzen mit einander für ein paar Momente, manche für Jahrhunderte. Es sind ja auch nicht nur zwei, sondern Milliarden. Die neuen Technologien, das macht Friedman klar, bieten den Einzelnen gigantisch viel mehr Möglichkeiten, als sie jemals hatten. Sie können weltweit miteinander kommunizieren. Sie können Wissen und Fertigkeiten in einem nie gekannten Ausmaß erwerben. Sie haben dadurch ganz neue Möglichkeiten zu dem, was früher Freiheit hieß. Gleichzeitig aber sind sie durch den Computer, der sie ihnen ermöglicht, auch stärker unter Kontrolle als jemals zuvor. Sie bewegen sich im Netz. Es registriert jede ihrer Bewegungen. Aber es gibt kein Zurück mehr.

Wir können - selbst wenn wir es wollten - nicht aussteigen aus der Globalisierung. Wir müssen uns klarmachen, dass wir zu ihren Verlierern gehören. Wahrscheinlich nicht für immer und ewig, aber doch für die nächsten zwanzig Jahre. Der Lebensstandard, den Europa nach dem Krieg erreicht hatte, der ist nicht zu globalisieren. Wir wissen das seit langem, aber vor der ökologischen Schranke hat sich jetzt - dankenswerter Weise müssen wir sagen - die der Konkurrenz gestellt. Wenn auch nur zweihundert Städte in China so aussähen wie Shanghai heute, wäre unser Klima kollabiert. Dass die Welt flacher wird, ist nicht nur eine gute Nachricht.

Thomas Friedman: "The World is Flat". A brief history of the globalized worls in the 21st century. Allan Lane (Penguin Books), London 2005. 488 Seiten, gebunden, 24,95 Euro. ISBN 0713998784.


Pharaos Ende und unser Anfang

Im Jahre 2000 kauft der Städelsche Museums-Verein eine Pharaonenstatue aus Rosengranit. Sie stammt aus jahrhundertealtem italienischem Besitz. Die Statue, dieser Auffassung sind die Experten, entstand zu Lebzeiten Alexander des Großen, oder doch schon kurz nach seinem Tode, und zeigt den makedonischen Welteroberer als Pharao. Oder anders herum gesagt: Die Pharaonenstatue ist in Wahrheit eine Alexanderstatue. Das kostbare, 167 cm große Prunkstück soll eine eindrückliche Ausstellung bekommen. Jetzt, fünf Jahre später, ist es soweit. Der Städel, das große Museum in Frankfurt/Main, stellt die Neuerwerbung in den Zusammenhang einer Ausstellung von fast 400 Objekten aus 75 Ländern. Vergleichbares hat man nicht gesehen. Die Ausstellung zeigt tausend Jahre Beziehungen zwischen Ägypten und Griechenland und Rom. Zu ihrer Vorbereitung fanden zwei Symposien statt, deren Erträge nicht nur im Katalog zur Ausstellung, erschienen im Wasmuth-Verlag, zu sehen, sondern vor allem im Städel-Jahrbuch 2004 in Erfahrung zu bringen sind. Einundvierzig Beiträge auf fast sechshundert zweispaltig bedruckten Seiten mit einer Unmenge schwarz/weiß-Abbildungen.

Die ersten 260 Seiten beschäftigen sich mit dem Einfluss Ägyptens auf Griechenland und Rom, die verbleibenden mit dem Einfluss Griechenlands und Roms auf Ägypten. Es ist die umfangreichste Arbeit zum Thema. Eine Arbeit, die zusammen mit der Ausstellung hoffentlich bald neue Generationen auf dieses Thema lenkt und ihm so endlich den völlig falschen Ruch der Abwegigkeit, des Exotischen nimmt. Jede Zeile dieses Bandes erzählt von Phasen einer Globalisierung, die wir solange nicht verstehen, solange wir sie nur als eine Frage nach den "Beziehungen zwischen..." betrachten. Man versteht die Beziehungen zwischen Ägypten und Griechenland nämlich nicht, wenn einem nicht klar ist, wie eng der ganze östliche Mittelmeerraum Jahrtausende lang zusammenhing. In Wahrheit kann man nicht schreiben, dass der griechische Kouros auf ägyptische Vorbilder zurückgeht, wenn man nicht dazu sagt, dass auch eine Reihe vorderasiatischer und keltischer schreitender Männer ägyptische Ahnen hatten. So richtig es ist, dass die Beiträger dieser Symposien das frühe Griechenland aus seiner splendid isolation, in die die klassizistische europäische Tradition es gestellt hatten, herausnehmen, so falsch ist es, Griechenland nicht hineinzustellen in seine geografische Umgebung, sondern so zu tun, als habe es Wüsten durchqueren müssen, um erst in Ägypten wieder auf zivilisierte Menschen zu stoßen, von denen das eine oder andere zu übernehmen sich lohnte.

Neben Überblicksartikeln stehen Detailstudien. Zum Beispiel die Ausführungen von Ursula Höckmann zu den Kourosstatuetten im ostgriechischen Naukratis. Sie machen den Laien damit vertraut, wie schwierig es ist festzustellen, was von wo wann übernommen wurde. Wurden die Kouroi in Naukratis hergestellt oder waren sie etwa von Zypern dorthin importiert worden? Dass der ganze Typus ursprünglich aus Ägypten stammt, sagt wenig darüber aus, aus welchen Quellen sich die Einzelstücke speisten. Der Leser lernt, darauf zu achten, wie die untere Begrenzung der Brustmuskulatur, die Augen oder das Schläfenhaar gearbeitet sind. Wessen Interesse an diesem Band jetzt erstirbt, der begeht einen Fehler. Es ist gut, sich den Blick für die Details der Verarbeitung schärfen zu lassen. Auch wenn man nicht vorhat, Archäologe zu werden. Spaß macht die Beschäftigung ganz gleich womit erst, wenn man wenigstens an ein paar Stellen mit den Details vertraut ist. Man amüsiert sich dann umso mehr, wenn die Autorin am Ende ihrer akribischen Beobachtungen zu dem Schluss kommt, dass es natürlich auch sein könnte, dass sich in den Kourosstatuetten von Naukratis aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts zyprisch-phönikische Tradition und neuerliche ägyptische Anregungen miteinander vermischt haben. Dass also keineswegs klar ist, dass direkter ägyptischer Einfluss vorlag. Andererseits liegt kein Grund vor, an seiner Möglichkeit zu zweifeln. Man muss sich die Beziehungen deutlich enger vorstellen, als uns unsere Gymnasiallehrer glauben machen wollten.

Der Band hilft, in unserem Geschichtsbild wieder zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört. Griechenland war nichts Apartes für sich. Nicht das frühe und früheste, nicht das klassische. Wer weiter liest und vordringt zum Hellenismus, jener Phase der antiken Kultur, die mit den Eroberungszügen Alexander des Großen beginnt und in Wahrheit erst mit den islamischen Eroberungen endet, der wird eingeführt in eine Welt, die der unseren mehr gleicht, als die unsere vor fünfzig Jahren der von heute. Man lese den Artikel von Paul Edmund Stanwick über "Regional Styles in Ptolemaic Royal Portraits" (mehr). Nein, zunächst betrachte man die Steinköpfe. Da ist eine Offenheit für die unterschiedlichsten Stile und Stiltraditionen, ein freies Spiel mit den Überlieferungen, wie wir es aus den Diskussionen über die Postmoderne kennen.

Vor zwanzig Jahren wurde uns beigebracht: das sei der neueste Stand der Entwicklung, dass alle Überlieferungen uns gleich verwertbar erscheinen, dass nichts sich als Zentralikone mehr vordränge. Exakt das ist Hellenismus. Die verschiedensten Traditionen werden in dieselbe Statue gepackt - es entstehen Figuren, in denen Aphrodite, Astarte, Isis mitsamt ihrer Attribute eins sind - und gleichzeitig bleiben sie gleichberechtigt nebeneinander stehen. Der Synkretismus verlangte nicht, dass die alten Götter in seinen Amalgamen verschwanden. Er schuf neue hybride Gottheiten, wie er neue hybride Stile schuf. Daneben ließ er die alten Gottheiten und Stile bestehen. Er machte die Welt nicht ärmer, sondern reicher.

In Stanwicks Artikel stoßen wir auf Sphinx-Köpfe, die ganz im Stil der frühen Dynastien gearbeitet wurden, und daneben gibt es einen vollwangigen Jünglingskopf, der zu Buddha gehören könnte, oder einen jungen Mann, der von einem griechischen Sarkophag zu stammen scheint. Es wurde damals für ein Publikum produziert, das die Unterschiede der Stile abschmeckte, das sein Vergnügen bezog aus dem freien Spiel mit allen Überlieferungen. Man wird diesen Bildern nicht gerecht, wenn man nicht auch die Ironie in ihnen sieht, die sich weigert, sich festlegen zu lassen auf das Entweder Oder. Wir haben es hier mit einem wunderbar blühenden Sowohl Als Auch zu tun. Nicht aus Desinteresse an der Wahrheit, sondern aus dem Wissen darum, dass auch die Wahrheit tausend Gesichter hat. Astarte mag Isis und Aphrodite sein. Aber Isis und Aphrodite sind auch Astarte. Die ewige Debatte "wer wen?", "wer hat die Oberhand?", "wer das Sagen?", ist hier nicht stillgestellt, aber sie wird so lebhaft geführt, dass mal Isis, mal Aphrodite, mal Astarte oben sind. Am Ende übrigens hat für ein paar Jahrhunderte die Vierte im Bunde, Maria, gesiegt.

Vom Verschwinden des Pharaos handelt Günther Hölbls Beitrag "Die römischen Kaiser und das ägyptische Königtum". Eine kluge Abhandlung über die Auflösung einer Religion. Der römische Kaiser war zunächst an die Stelle des Pharaos getreten. So gibt es zum Beispiel ein Sandsteinköpfchen einer Sphinxstatuette mit den Zügen Vespasians. Ein, wenn es echt ist, frappierendes Beispiel dafür, dass auch einander noch so fern stehende Traditionen mühelos zusammengezwungen werden können. Die Fremdherrscher stießen natürlich bei Teilen der Priesterschaft nicht auf Gegenliebe. So bildeten sich Reformgruppen, die die Meinung vertraten, der Pharao, einst der einzige Mittler zwischen irdischer und himmlischer Welt, sei für die Riten nicht mehr nötig. Das war ein nahe liegender Schluss. Schließlich standen schon die persischen Könige, die Ägypten besetzt gehalten hatten, für die alten Rituale nicht mehr zur Verfügung.

Hölbl zeigt an ptolemäischen Tempelreliefs, die dem ungeschulten Auge ganz und gar traditionell vorkommen, wie dort der Pharao seine Funktion verloren und nur noch den Titel behalten hat: "Der Gott Thot führt die königliche Aktion der Verehrung aus. Von links her kommt Caligula, ausgestattet mit Kartuschen und einem Horusnamen, er hat jedoch keinerlei Bedeutung innerhalb des Reliefs." Hölbl schließt seinen Artikel mit den Sätzen: "Das Ende vom ägyptischen Königtum zeigt uns die letzte Buchisstele aus dem 57. Jahr der Ära Diokletians, d.i. 340 n. Chr., als Constantius II. regierte. Der Stiergott, der sich statt eines opfernden Königs mit einer Lotosblume zufrieden geben muss, wurde geboren, wie es heißt im 'Jahr 33 unter der Majestät des Königs von Ober- und Unterägypten, Herrn der Beiden Länder Diokletianos, Sohn des Re, Herrn der Diademe Kaisaros', das war 316/17, als Licinus den Osten des römischen Reiches beherrschte. Der Beitrag endet somit mit dem ewigen König Diokletian, der nicht mehr abgebildet wird und auf den sich die koptische, sog. 'Ära der Märtyrer' noch heute bezieht."

Wer den still vor sich hin dämmernden Stier mit seinen kräftigen Vorfahren vergleicht, der hat die Ahnung der Möglichkeit einer heiteren Götterdämmerung. Er denkt auch an Dürrenmatts Romulus-Drama, in dem ein großmütiger Mann dem Fanatismus der hereinbrechenden Barbaren kampflos und mit heiterer Ironie den bedeutungslos gewordenen Thron überlässt. Man kann beim Lesen in diesem Buch und beim Betrachten der mehr als 550 Abbildungen erfahren, was Globalisierung bedeutet, wie sie in der Antike künstlerisch gestaltet wurde und wie sie zu Grunde ging. Ein Lehrbuch also für die Gegenwart.

"Fremdheit - Eigenheit". Ägypten, Griechenland und Rom. Austausch und Verständnis. Herausgegeben von Bol, Kaminski, Maderna. Städel-Jahrbuch, Neue Folge Bd. 19. Frankfurt/Main 2004. Mit mehr über 500 s/w Abbildungen, 586 Seiten, gebunden, 89 Euro. ISBN 37913980970116.


Die Sonne geht auf wie Schmähung

Eines der bekanntesten persischen Gedichte des 20. Jahrhunderts ist "Ghom" von Nader Naderpur (1929-2000). Es entstand schon in den fünfziger Jahren. Es musste 1979 - die Mullahs waren gerade an die Macht gekommen - aus einer Neuauflage von Naderpurs erstem Gedichtband gestrichen werden. So wie Naderpur das Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit, die Stadt Ghom sah, so durfte man sie nicht mehr sehen. Im Gottesstaat sind Gottespriester heilige Männer, ihre Überwürfe und Turbane stehen für ein gottgefälliges Leben. "Ghom / So viele tausend Frauen, / So viele tausend Männer, / Die Frauen, ein Tuch auf dem Kopf, / Die Männer, den Aba auf den Schultern, / Eine goldene Kuppel / Mit alten Störchen, / Ein freudloser Garten / Mit vereinzelten Bäumen. / Kein Lachen erklingt dort, / Kein Gespräch ist zu hören. / Ein halbleeres Becken / Mit grünlichem Wasser, / So viel alte Krähen / Auf zahllosen Steinen. / Die Menge der Bettler / Auf Schritt und Tritt, / Helle Turbane / Finstere Mienen."

Ein harmloses Gedicht. Aber es ist überdeutlich, dass Ghom kein Ort des Lebens, der Freude ist, sondern eines traurigen Elends. Uninteressant, abgestorben. Utopien sehen anders aus. Naderpur sieht nichts als Unglück am heiligen Ort. Er sieht die Massen der Gläubigen, aber er sieht nicht ihren Glauben. Man denkt an die Fotos von Shirin Neshat und daran, was sie aus demselben Anblick gemacht hat. Wie viel ästhetisches Kapital sie aus der Einförmigkeit schlug, wie viel Kraft ihre Gläubigen auszustrahlen schienen. Ihre Fotos entstanden Jahrzehnte nach Naderpurs Gedicht, aber es ist der gleiche Anblick. Naderpur kam damals aus dem modernen Teheran ins gläubige Ghom und erschrak über das, was er sah. Die Abas, die Umhängemäntel der Männer und die Kopftücher der Frauen erzeugten eine Einförmigkeit, die ihn erschreckte.

Shirin Neshat kam Anfang der achtziger Jahre aus den USA nach Persien und war nach den grellen Farben des Pop begeistert von dem puren Schwarz-Weiß dieser Religion. Sie war sehr naiv begeistert von einer anderen Ästhetik als der, in der sie aufgewachsen war. Naderpur empfand keinen exotischen Reiz, sondern erkannte nichts als Unterdrückung, Gewalt, Armut und Todessehnsucht. Er hat klarer gesehen. Aber fruchtbarer war wahrscheinlich doch der falsche Blick, die Täuschung, der Shirin Neshat erlag.

Naderpurs Gedicht findet sich in Kurt Scharfs Anthologie "Der Wind wird uns entführen - Moderne persische Dichtung". Mehr als zweihundert Seiten mit über einhundert Gedichten, mit einer Einführung, mit Kommentaren und einem Nachwort von Said. Mehr als zwanzig Autoren werden vorgestellt. Für den des Persischen nicht kundigen Leser ist es schwierig, das zeigt auch Naderpurs Gedicht, das einen literarisch konventionellen Eindruck macht, sich klar zu werden über den ästhetischen Rang der Gedichte. Er wird Verse wie diese festhalten, die hingetuscht scheinen: "Der Storch / Stand wie ein weißer Zufall / Am Rande des Teichs"

Und er wird sich freuen, dass er sich nicht täuschte. Der Autor dieser Chinoiserie Ssohrab Ssepheri (1928 bis 1980) war tatsächlich auch Maler, und er interessierte sich für den fernen Osten, er bereiste Japan. Schon ist das Interesse geweckt und der inflammierte Leser bedauert, das lange Gedicht "Der Klang vom Gang des Wassers" nicht ganz lesen zu können. Der Leser schweift weiter und findet immer wieder neue Zeilen, die ihm aber kaum mehr als eine Ahnung vermitteln von einer möglichen Schönheit.

In einem Gedicht, das "Liebeslied" überschrieben ist, finden sich Zeilen wie diese "Die Sonne geht auf wie Schmähung", "jedes hübsche Fensterchen gibt einen Blick auf eine Folterszene frei". Das imponiert dem Leser. Er liest weiter in den Gedichten von Ahmad Schamlu (1925-1980) und er erfährt, dass der Autor sich von seinem arabischen Vornamen und seinem türkischen Nachnamen - überall ist Multikulti - distanzierte und als Autor unter dem persischen Namen "Bamdad", was "Morgenröte" bedeutet, publizierte. Das klingt so viel altmodischer, traditioneller als seine Gedichte. Bamdad scheint ein Konvertit gewesen zu sein. Denn zunächst hatte er Dichten bei der Lektüre von Lorca, Eluard, Rilke, Pasternak und Langston Hughes gelernt. Erst später wandte er sich dann so entschieden der persischen Tradition zu. Naderpur dagegen war aufgewachsen mit den klassischen Dichtern der persischen Tradition. Die französische, die westliche Literatur kam erst später hinzu.

Auch der jüngste Autor der Anthologie, der 1968 geborene Aliresa Abis übersetzt. Auch er interessiert sich für Ostasien. Bei ihm sieht das so aus: "Von gelber Hautfarbe / Ich schaue durch das Fenster auf die Straße / Und ich erinnere mich an eine Gasse in Rangun nach Mitternacht / Ein kleines Cafe / Den Raum im Obergeschoss / Die Treppe die neben der Bühne nach oben führte / Und ein junges Mädchen von gelber Hautfarbe / Bis du dein Bier ausgetrunken hast / Sind die Pommes frites bereit nach Mitternacht / Und die Holztür am Ende der Treppe"

Ein Genrebildchen wie von einem Niederländer gemalt. Das Bier findet sich in der vom Autor überprüften englischen Übersetzung. Auf Persisch, also in der im Iran erschienenen Version seines Gedichts, trinkt der Erzähler eine Tasse Kaffee. Diese kleine Mitteilung fügt dem Gedicht sofort einiges Gewicht hinzu. Dem ahnungslosen Leser geht durch den Kopf, dass es bei dem Gedicht auch in irgendeiner Weise um Rassismus geht. Er weiß aber nicht, ob der Reiz der gelben Hautfarbe nur erotisch heraufbeschworen wird oder ob es so viel sagt, wie das stolze "black is beautiful" der amerikanischen Schwarzen. Wer etwas gerne nicht versteht, dem wird dieser Band viel Freude machen.

"Der Wind wird uns entführen". Moderne persische Dichtung. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Kurt Scharf. Mit einem Nachwort von Said. Verlag C.H. Beck, München 2005. 202 Seiten, gebunden, 24,90 Euro. ISBN 3406528139. Bestellen.


Ich bin verrückt nach Schönheit

Es ist eines der ergreifendsten Bücher der letzten Jahre. Man kann den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann (1926-1973) und Hans Werner Henze (1926) nicht lesen, ohne mitgenommen zu werden von der Begeisterung Henzes, ohne sich zurückzusehnen nach einer Jugend, in der alles neu schien und gleichzeitig alles neu zu machen war. "Illustres zartes Bachtier" spricht Henze Anfang Oktober 1954 Ingeborg Bachmann an. Ein andermal ist sie die "große und nicht schlecht erleuchtete Bachstelze" oder später auch "liebes Ingelchen". Die Dichterin ist weniger einfallsreich. Sie sagt meist nur "lieber Hans". Der Enthusiasmus ist in diesem Briefwechsel eindeutig der männliche Part. Die Lebensfreude auch und die Lust auf Luxus und Arbeit. Die Selbstverständlichkeit, mit der Henze davon ausgeht, dass er sein Genie achten und pflegen, ja verwöhnen muss, um in nimmer müder Arbeit die schönsten Resultate aus ihm herauspressen, nein, nein, entlassen zu können, ist beneidenswert.

Spät erst begreift der nicht Henze-Kenner, dass Henze so schreibt, um seiner Freundin eine Stütze zu sein, dass er ihr ein Ansporn sein möchte, weil er weiß, dass sie seine Selbstzweifel nicht brauchen kann, weil sie von den ihrigen fast aufgefressen wird. Brief um Brief lädt er sie ein, zu ihm zu kommen in seine Wohnung in Neapel, sich vom Personal verwöhnen zu lassen, vom Blick auf den Golf. Er war aus Bielefeld geflohen, süchtig nach Schönheit, nach der, die die Welt ihm bietet und nach der, von der er ahnt, dass er sie der Welt zu bieten hat. Alles muss stimmen. Wenn er in London ist, sieht er sich um nach Teppichen und Nippes für seine Wohnung. Sie muss ihm passen wie seine Handschuhe. Alles muss sich ihm anschmiegen. Jede Faser seines Hemdes, jede Freundschaft, jede Minute seines Lebens muss so sein, dass sie ein Fest ist. Wenn das nicht klappt - so etwas kann nicht klappen -, dann erfindet er Freundschaften, Bekanntschaften, Glanz und Größe. Er tut es für sich, weil er es braucht, um sich wohl zu fühlen, und es arbeitet sich besser, wenn man sich wohl fühlt.

Er tut es auch für seine Freundin. Um ihr zu imponieren, sagt er im Vorwort. Das ist nur die halbe Wahrheit. Er will ihr Mut machen, ihr zeigen: Erfolg ist möglich. Und schön ist er auch. Wenn er sich groß denkt und ein wenig größer noch darstellt, dann ist das ja keine wirkliche Lüge. Jedenfalls nicht für jemanden, der 1948 in Hamburg Margot Fonteyn tanzen sieht, sie aus der Entfernung seines Zuschauerplatzes aus anbetet und schon zehn Jahre später tanzt sie im Royal Opera House in London seine Undine. Dass auch die hochfahrendsten Träume in Erfüllung gehen, das ist Henzes sehr frühe Lebenserfahrung. Aber ebenso vertraut sind ihm Situationen wie diese: "Mein Fehler, von den Mitmenschen alles und uneingeschränkt zu konsumieren, erklärt sich vielleicht aus meiner Angst vor der Einsamkeit. Gestern Abend brachte mich Francesco nach Hause, und dann hatte ich Angst, allein hinaufzugehen, so dass wir noch einmal fort gegangen sind, und erst nach sechs Wodka konnte ich hinaufgehen. Dann habe ich geschrien, geheult, geflucht in dieser schweigenden Leere um mich herum. Ich arbeite nichts."

Das ist ein ganz untypischer Brief. In den anderen schreibt er Ingeborg Bachmann zum Beispiel: "Leider hast Du noch immer nicht begriffen, wie schön es ist zu arbeiten, und wie nichtarbeiten viel mehr ermüdet als arbeiten. Ich weiß es, ich Glücklicher, und das ist auch der Grund, warum ich mich nie beklage." Hans Werner Henze liebt Ingeborg Bachmann. Er will einen Kokon bauen um sie und ihr Genie. Er will sie einlagern in seinen Bau und ihr alles zukommen lassen, und sie soll dann fruchtbar sein und Poesie über ihn ausschütten wie Honig. So schreibt er es an keiner Stelle, aber das ist der sich aus diesem Briefwechsel aufdrängende Eindruck. Henze bewundert und verehrt Ingeborg Bachmann. Er will sie beschützen. Er liebt ihre Gedichte. Ihre Schönheit nährt die seiner Kompositionen.

Ingeborg Bachmann schreibt ihm am 4. Oktober 1956: "Ich habe immer an Dich geglaubt, und an Dich werde ich glauben bis ans Ende meines Lebens. Und wo und wann sich unsere Wege auch immer kreuzen werden, es wird ein Fest sein. Ich habe eine neue Idee für ein Buch, Gedichte, die ich vor mir sehe, nur dass ich sie noch nicht lesen kann. Ich werde schreiben. Könnte man doch für immer in ein Reich aus Schönheit, Klängen und Worten treten. Ich bin verrückt nach Schönheit."

Schön, schön, schön. Hans Werner Henze hat mit seiner Schönheitssehnsucht fast von Anfang an immer wieder die Musikkritik gegen sich aufgebracht. Auch das ist nachzulesen in den Briefen und in den Anmerkungen zu ihnen. Von einer "restaurativen Klangkulisse" schrieb ein Kritiker bereits 1955. Aber Henze hat seine eigenen Vorlieben und er ist selbstbewusst genug, ihnen zu folgen und nicht dem, was gerade schick ist in seinen Kreisen. Am 24. März 1958 schreibt er an Ingeborg Bachmann, er sei gerade aus Zürich nach Neapel zurückgekehrt, habe die Post durchgesehen, dann eine Platte aufgelegt "'Serenade für Tenor, Horn und Streicher' von Benjamin Britten, die mir wirklich sehr gefiel, dann das Klavierkonzert von Schönberg, das mich sehr deprimierte, also der schöne Britten, den muss man verachten, weil er doch nicht atonal schreibt, und dieses scheußlich klingende Schönberg-Stück muss man verehren....??....??"

Der Rigorismus der Donaueschinger Moderne war nichts für Henze. Zu keinem Zeitpunkt seines Lebens. Er war nicht gewillt, auf Schönheit zu verzichten, auf die bellezza und schon gar nicht darauf, ein Verführer zu sein. Vielleicht fürchtet er die Einsamkeit nicht nur, weil niemand da ist, der ihn liebt, sondern mehr noch, weil niemand da ist, den er verliebt machen könnte. Sein Aussehen, sein Wissen, sein Können, sein Charme - alles liegt in solchen Momenten brach. Arbeiten sollten diese Talente. Am besten alle zugleich.

Henze und Bachmann schrieben einander auf Italienisch und Englisch. (Der Band bietet vorne die deutschen Übersetzungen und in einem Anhang die Originale.) Man wird darin einen Versuch sehen müssen, Deutschland zu entkommen. Wenigstens in dieser der Schönheit geweihten Beziehung. Henze ist einer der besten deutschsprachigen Autoren - wer seine Essays gelesen hat, weiß das schon lange; die anderen erfuhren es bei der Lektüre seiner großartigen Autobiografie - und Ingeborg Bachmann war es sowieso. Ihre italienischen Briefe bleiben weit unter ihren sprachlichen Möglichkeiten. Aber das macht nichts. Henze schwelgt in der neuen Sprache. Er scheint sie zu singen, setzt sich über elementare Regeln hinweg und genießt den Gestus des Neapolitaners. Es ist ein Maskenspiel, bei dem man dem Naziton, der einem in der Muttersprache immer wieder auch von den eigenen Lippen kommt, entgeht, in dem man aber auch freier von der Liebe und der Kunst sprechen kann.

In der eigenen Sprache sind diese Wörter und alles, das mit ihnen zusammenhängt, eins mit der Bedeutung, die man ihnen im Laufe des Lebens zu geben gelernt hat. Die kleinsten Nuancen geben Auskunft. Jeder weiß sofort über einen Bescheid. In der Fremdsprache dagegen sind diese Wörter noch nicht privat geworden. Sie sind allgemein geblieben. Sie verraten nichts über einen und desto mehr kann man mit ihnen über sich verraten. Den Satz "Ich bin verrückt nach Schönheit" hatte Ingeborg Bachmann nicht geschrieben. Sie schrieb Henze: "Vado pazza per la bellezza".

Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze: "Briefe einer Freundschaft". Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze. Herausgegeben und kommentiert von Hans Höller. Piper Verlag, München, Zürich 2004, 538 Seiten, gebunden, 24,90 Euro. ISBN 3492046088. Bestellen.


Unterwerfungsseligkeit

Seine Oberfläche hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit fließendem Blut. Mekka, der riesige runde Platz, auf dem die Kaaba steht, hell erleuchtet, Millionen gebeugte Rücken in fabelhaft geordneten Reihen, ringsum Hochhäuser, dahinter die subtropische Nacht. So schön kann Unterwerfung aussehen. Der japanische Fotograf Kazuyoshi Nomachi war in der Sahara, in Tibet, Indien, Äthiopien, in Mekka und Medina, am Nil, im Rift Valley, in den Anden und hat einen Bildband daraus gemacht, der heißt "Camera Humana - Menschen Religionen Landschaften". Zu den sehr farbenprächtigen, satten Fotos hat Kazuyoshi Nomachi kleine einführende Texte geschrieben, in denen er mitteilt, was ihm auffiel. Zum Beispiel das: "In Tibet trifft man auf zutiefst gläubige Pilger, die sich fünf, zehn oder gar zwanzig Jahre im Schneckentempo fortbewegen, um einen heiligen, Tausende von Kilometern entfernten Ort zu erreichen. Sie tragen Holzklötze an den Händen, die sie über dem Kopf zusammenschlagen und dabei psalmodieren sie das Mantra 'Om Mani Padmehum'. Mit schweißgebadetem und staubverkrustetem Gesicht werfen sie sich nieder, stehen wieder auf, bleiben stehen und werfen sich dann abermals nieder. So kommen sie nie weiter als eine Körperlänge voran."

Sie tun das zur Buße. In der Hoffnung, in der nächsten Inkarnation ein besseres Leben zu erlangen. Kazuyoshi Nomachi ist fasziniert von diesen Akten des Glaubens. Dass sie einen auch anwidern können, dieser Gedanke kommt ihm nicht einmal für eine Sekunde. Das ist unser Glück, denn nur so konnte er jahrelang um die Welt reisen und in den entlegensten Winkeln Gläubige fotografieren. Natürlich ist er begeistert - wir sind es auch - vom Natronsee im Norden von Tansania. "Seine Oberfläche", schreibt er, "hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit fließendem Blut." Er erklärt uns auch, wie es zu diesem Effekt kommt: "Durch Bewegungen in der Erdkruste steigt Natriumcarbonat auf, von dem sich rote Algen ernähren, die Spirulina heißen. Sie sind für die charakteristische Färbung des Sees verantwortlich." So gut können wir heute noch nicht erklären, woher die religiöse Unterwerfungsseligkeit kommt, die uns Menschen treibt.

Es gibt ein Foto in diesem beeindruckenden Band, das man niemals vergessen sollte: ein paar nackte, den Fotografen anlachende Männer. Im Vordergrund hockt einer mit einer Kalaschnikow. Im Text daneben heißt es: "Tief im Inneren Afrikas" - so hieß es in den Büchern, die wir als Kinder mit vor Aufregung roten Ohren lasen - "kommen die Menschen problemlos ohne Hosen aus, aber nicht, so sagen sie, ohne Gewehre. Eine Kalaschnikow ist für sechs Kühe zu haben." Es sind wunderschöne Bilder, die die Hässlichkeit der Welt zeigen.

Kazuyoshi Nomachi: "Camera Humana - Menschen, Religionen, Landschaften". Frederking & Thaler, München 2005. Format: 25,5 x 25,5 cm, ca. 320 Farbfotos, 1 Karte, 504 Seiten, gebunden, 19,90 Euro. ISBN 3894054689. Bestellen.