Vom Nachttisch geräumt

Feine Gesittung und Poesie

Von Arno Widmann
21.02.2017. Muss bürgerliche Erwerbsmaschine werden, bevor er heiraten darf: Sigmund Freuds Brautbriefe.
Sigmund Freuds Brautbriefe, 1882 -1886,  erscheinen seit 2011 erstmals vollständig. Fünf Bände sollen es werden. Jeder wohl um die 600 Seiten. Vor mir liegt der neueste, im November 2015 erschienene dritte Band. Ich habe nicht einmal ihn ganz gelesen, geschweige denn die zwei vorangehenden. 1968 lasen wir sehr interessiert die kleine, in der Fischer-Bücherei vorgelegte Auswahl aus den Briefen. Ich weiß noch, wie sehr mich damals irritierte, mit welcher Selbstverständlichkeit Sigmund Freud seiner Braut Welt und Leben erklärte, wie er ihr sagte, was sie zu lesen und zu denken hatte. Da schrieben nicht zwei Gleichberechtigte von ihren Lektüren, ihren Gedanken, sondern da war Freud, der stand oben und er teilte der unter ihr Stehenden mit, was sie von diesem und jenem zu halten hatte.

Ich schämte mich damals für Freud. So sehr hatte ich mich mit ihm identifiziert. Jetzt blättere ich in der Korrespondenz, die mit vielen Anmerkungen versehen, kaum Fragen offen lässt und wieder fällt mir das Gefälle zwischen Braut und Bräutigam auf. Ich geniere mich nicht mehr, sondern schaue genauer hin. Zum Beispiel nach dem Altersunterschied: Sigmund Freud (1856-1939), Martha Bernays  (1861-1951). Er ist so gewaltig nicht. Das von Oben nach Unten der Beziehung wird eher noch unangenehmer.  Aber es gibt dann doch auch andere Töne darin. Am 3. Januar 1884, gleich zu Beginn des Bandes, schreibt Freud: "Von Gottfried Keller habe ich nur den Narren auf Manegg und den zweiten Band gelesen, zufällig auch die köstliche Einleitung und die Schilderung des Mädchenschwarms. Du musst mir eigentlich recht viel von ihm erzählen, denn ich werde jetzt immer faser und ungebildeter, ich arbeite jetzt ums Brot, kein Mensch fragt mich mehr, "was bist Du?", sondern was kannst Du, was schreibst Du, wie lang kannst Du arbeiten? Ich verlege mich also darauf, Erwerbsmaschine zu werden, für die Bildung und feine Gesittung und die Poesie lassen wir ein zartes Prinzeßchen sorgen."

Martha war die Tochter eines Mannes, der wegen eines betrügerischen Bankrotts ein Jahr im Gefängnis verbracht hatte. So war die Familie 1869 aus Hamburg nach Wien gekommen. 1882 hatten Martha und Sigmund sich kennengelernt und heimlich verlobt. Noch im selben Jahr zog Emmeline Bernays - der Vater war 1879 in Wien gestorben - mit ihren Töchtern Martha und Minna zurück nach Hamburg. So kam es zu dem umfangreichen Briefwechsel der Brautleute. Freud brauchte eine Stellung, um eine Familie ernähren zu können. Von den Schwierigkeiten, sie zu erlangen, handelt ein Gutteil seiner Briefe. Zum Beispiel der vom 20. Juli 1884, in dem er schreibt: "Ich bekomme vom ersten August an 45 Florin, habe eine verantwortliche, selbständige Stellung, die Oberleitung der Abteilung, und bin genötigt zu arbeiten, um mich in ihr mit Ehren zu erhalten. Das Arztwerden wird mir so erleichtert. Wenn ich Kurse lesen will, habe ich die volle Verfügung über das Material. Ich muss freilich sehr angestrengt arbeiten, kann nur hie und da vom Spital weggehen, aber ich bin eigentlich froh, dass ich keine Zeit habe zu räsonnieren, sonst würde ich mich gleich unglücklich fühlen, von Dir noch auf so lange Zeit getrennt zu sein."

Es sind diese Schilderungen - manchmal über zwei Seiten lang -, die einem eine deutliche Vorstellung vermitteln, von den Schwierigkeiten, die Ausgang des 19. Jahrhunderts einer bürgerlichen Hochzeit entgegenstanden. Im selben Brief stellt Freud die Frage: "Was ich durch mein Avancement profitiere?" und antwortet darauf: "Das magst Du daraus schließen, dass mich der Direktor sitzen heißt, wenn ich zu ihm hinaufkomme." Wer je zu seinem Chef kam, und der sagte nicht, "Nehmen Sie doch bitte Platz", der weiß, dass manches sich nicht geändert hat.

Der junge Wissenschaftler schreibt am 9. Mai 1884 seiner Braut nachts: "Mein herziger Schatz, Triumph, freue Dich mit mir. Es ist also doch aus dem Kokain was Schönes geworden. Was sehr Schönes. Denke Dir, es ist, wie ich vermutet hatte, ein Mittel gegen die Morphiumgewöhnung und die schauderhaften Zustände bei der Morphiumentziehung". Nun, dieser Triumph blieb wohl keiner. Am 30. April hatte Freud das erste Mal selbst Kokain genommen. Er war begeistert. Er konnte besser und mehr arbeiten. Bald musste er erfahren, dass die Droge keinesfalls frei von schädlichen Nebenwirkungen war. Da hatte er allerdings sein Loblied "Über Coca" - auch ein Produkt der Verlobungsjahre - bereits veröffentlicht.

Sigmund Freud, Martha Bernays: Warten in Ruhe und Ergebung , Warten in Kampf und Erregung - Die Brautbriefe Band 3, herausgegeben von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 617 Seiten, s/w Abbildungen, 48 Euro.