Vom Nachttisch geräumt

Wo wir die ganze Nacht wach sind

Von Arno Widmann
10.02.2020. Leben von dem, was sie nicht aussprechen: die Gedichte von Elizabeth Bishop
Die amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop (1911-1979) bedauerte in ihrem letzten Interview: "Ich habe den Eindruck. Dass die Leute nicht genug von der originären Erfahrung mitnehmen, die ein Gedicht ihnen bietet." Steffen Popp schreibt im Nachwort zu seiner Übersetzung ihrer Lyrik: "Unter ihren Szenerien und Interieurs liegen Kristalle, Albträume und Visionen; das ganze Instrumentarium der Moderne mit seinen unmöglichen Blicken, Spiegeln und Uhren hält diese Abenteuer in Gang."

"Schlaflos" ist ein einfach nur schönes Gedicht, bis es den Leser mit den letzten drei Worten unversehens aus der Dunkelheit anspringt. Es sei ganz zitiert:

Der Mond im Kommodenspiegel
schaut Millionen Kilometer
(und, stolz vielleicht, auf sich selber,
doch nie, nie lächelt er),
weit erhaben über Schlaf, oder
vielleicht schläft er tags.

Vom Weltall verlassen,
schickte er es zur Hölle,
und suchte sich Wasser
oder Spiegel, darin zu ruhen.
So wickle Kummer in Spinnweben
und wirf ihn in den Brunnen

in jene umgekehrte Welt,
wo rechts immer links ist,
wo die Schatten der wahre Körper sind,
wo wir die ganze Nacht wach sind,
wo die Himmel flach sind wie das Meer
tief ist jetzt, und du mich liebst.

Elizabeth Bishop starb am 6. Oktober vor 40 Jahren. Zur Erinnerung an sie hier noch eines meiner Lieblingsgedichte: "Eine Kunst" heißt es in Popps Übersetzung und auf Englisch beginnt es mit der Zeile: "The art of losing isn't hard to master". Also:

Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht schwer;
so viele Dinge, scheints, sind geradezu bereit
für das Verlorengehn, sie fehlen dir nicht sehr.

Verlier was jeden Tag. Das Durcheinander
verlorener Türschlüssel nimm hin, die vertane Zeit.
Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht schwer.

Dann üb Verlieren weiter, und verliere schneller;
Orte, und Namen, und wohin deine Reise
gehen sollte. Nichts davon schmerzt dich sehr.

Ich verlor Mutters Uhr. Und sieh: das letzte oder
vorletzte dreier geliebter Häuser gab ich preis.
Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht schwer.

Verlor zwei Städte, hübsche. Und, größer,
einiger meiner Reiche, zwei Flüsse, einen Erdteil.
Ich misse sie, aber nicht wirklich sehr.

- Selbst dich verlieren (scherzende Stimme, Geste,
die ich lieb) ändert nichts daran. Kein Zweifel,
Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht zu schwer,
auch wenns so aussieht (Schreib es!) wie Desaster.

Merkwürdig dass das Sich-Verloren-Gehen nicht vorkommt. Oder wird es nicht ausgesprochen, um so noch lauter in den Leser einzudringen? Dichtung lebt von dem, was sie nicht ausspricht. In diesem Sinne, dafür hat uns Sigmund Freud die Augen geöffnet, sind wir alle Dichter. Das "offene Geheimnis" ist unser aller Medium. Dichter tun nichts anderes als wir. Sie verstehen sich allerdings auf Techniken und Verfahren, von denen wir nur wenig wissen. Sie haben gelernt, wie klar ein Text sein muss, um für den Bruchteil einer Sekunde Licht zu werfen auf das Wurzelwerk der Wirklichkeit, ohne uns in der Illusion zu wiegen, wir wüssten Bescheid. Dichter lehren uns, wie wichtig es ist, Bescheid zu wissen, und wie wenig damit getan ist.

Elizabeth Bishop: Gedichte, hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort von Steffen Popp, Carl Hanser Verlag, München 2018, 351 Seiten, 32 Euro
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