Vom Nachttisch geräumt

Das Leben im Allgemeinen und die Weltläufte

Von Arno Widmann
01.08.2018. In den Tage- büchern Hedwig Pringsheims kann man ganz wunderbar einer klugen und eigensinnigen Frau beim Leben zuschauen.
Hedwig Pringsheim war die Mutter von Katia Mann, also die Schwiegermutter von Thomas Mann. Sie führte von 1885 bis 1941 Tagebuch. 57 Jahre lang. Bis auf das Jahr 1886 ist alles erhalten. Die Tagebücher sind sehr kurze Notizen, die ohne Lektüre der Erläuterungen unverständlich bleiben. Hat man sich aber einmal eingelesen, lernt man das Personal kennen und meistert die Schwierigkeiten. Ohne das bleibt alles geheimnisvoll: "Welch herrlicher Frühlingsanfang! Karten von Ilse u. Frau Prof. Löwy und Hörner-Kirr; an Deneke. Wirtschaft, zum Schneider Fritsch u. Kommissionen. Brief von Mieze u. an sie beendet, Humboldt-Briefe gelesen u. Tommy's' Friedrich d. Große'." (21.3.1927)

Ein untypischer Tag, denn sie hörte keine Musik (bevorzugt Wagner). Die Herausgeberin Cristina Herbst stellt jedem Band eine Einleitung voran, in der nicht nur die Protagonisten der Aufzeichnungen, sondern auch die wesentlichen Themen vorgestellt werden. Es wird wohl keinen Leser geben, der nicht immer wieder auf diese ersten 50 Seiten zurückgreift, sich vergewissert, dass er die Namen nicht durch einander bringt. Für das Andere gibt es Fußnoten, die in diesem Fall zum Beispiel den Leser darüber aufklären, dass es sich bei "Tommy's Friedrich d. Große" wohl um Thomas Manns Essaysammlung "Friedrich und die große Koalition" handelt. Es fehlt auch nicht der Hinweis darauf, dass die bereits 1915 erschien. Sie war also einer von Thomas Manns Beiträgen zur "Weltkriegs I."-Propaganda. Die 70-jährige Hedwig Pringsheim blickt zurück auf die politische Entwicklung ihres Schwiegersohnes. Es ist schade, dass sie die nicht kommentiert hat. Dem Hedwig-Pringsheim-Leser stehen freilich ergänzend die Briefe zur Verfügung, die sie an Maximilian Harden oder Katia Mann schickte. Die helfen allerdings 1927 nicht weiter. Vor 13 Jahren veröffentlichten Inge und Walter Jens auch "Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim".

Christina Herbsts Edition der Tagebücher von Hedwig Pringsheim ist eine der schönsten, benutzerfreundlichsten Editionen, die ich kenne. Aber das wäre nicht viel wert, wäre da nicht Hedwig Pringsheim. Wie ärmlich kommt einem das eigene Leben vor, vergleicht man es mit ihrem. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht liest, Musik hört, sich mit Freunden trifft, über Theater, Kunst, die Kinder und Kindeskinder, das Leben im Allgemeinen und die Weltläufte diskutiert. Dabei manchmal - akribisch notierte - schlaflose Nächte mit Visionen und Wahnvorstellungen. Am Tag danach hilft sie ihrer Schwester Mieze, die mit dem italienischen Journalisten Gagliardi verheiratet war, bei Übersetzungen. Die älteste Tochter dieser Schwester heiratete übrigens 1913 Karl Korsch, den Mann, bei dem Bert Brecht den Marxismus erlernte. Hedwig Pringsheim schreibt übrigens "Wanvorstellungen". Das H in der Mitte lässt sie gerne weg. So schreibt sie auch "Weltbüne" und "one".

Meist notiert sie nur, was sie liest. Manchmal freilich hielt sie auch Urteile fest. So vermerkt sie am 26. September 1928 "Joyce's 'Dubliners' ausgelesen, nett, aber nicht eben bedeutend". Sie las die Sammlung von Kurzgeschichten wohl auf Englisch. Anlass war vermutlich, dass im Jahr zuvor Joyces "Ulysses" in einer deutschen Übersetzung erschienen war. In den Tagen danach liest sie unendlich gelangweilt auf Französisch "Le temps retrouvé". Am 10.10.1928 notiert sie: "'Krankheit der Jugend' (von Ferdinand Bruckner), ein recht ein unsympathisches, aber nicht talentloses Stück, ausgelesen, dann Proust'n seinen Bandwurm. Gegen Abend Katja, die gute Tochter. Abend Proust (fast unlesbar)…" Es ist wunderbar einer so klugen, interessierten Frau mit einem so eigenen Kopf beim Leben zuzuschauen. Sie nennt ihre Tochter Katia übrigens stets "Katja". Die Lektorenhartnäckigkeit, mit der wir an Katia festhalten, hat etwas Lächerliches.

Hedwig Pringsheim: Tagebücher 1923-1928, Band 7, hrsg. von Cristina Herbst, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 715 Seiten, 49,90 Euro