Bücherbrief

Die Fußpflegerin und die Blase

04.08.2019. Sally Rooney erzählt sinnlich und mit lebendigem Intellekt von den Gesprächen zweier Paare in der Bretagne, Lea Singer zeichnet ein zartes Psychogramm von Vladimir Horowitz' Beziehung zu seinem Klavierschüler, Katja Oskamp findet das pure Leben in Marzahn und Rebecca Solnit flaniert quicklebendig durch die Kulturgeschichte des Gehens. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats August.

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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Sally Rooney
Gespräche mit Freunden
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 384 Seiten. 20 Euro

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Sally Rooney wurde bisher vor allem in den englischsprachigen Medien gefeiert, als "wichtigste Stimme der Millennialliteratur" würdigte der Independent die 28-jährige irische Autorin etwa. Nach der Lektüre ihrer nun auch auf Deutsch vorliegenden "Gespräche mit Freunden" verstehen die deutschen KritikerInnen den Hype: Schlicht virtuos findet es SZ-Kritikerin Meredith Haaf, wie Rooney in ihrer Geschichte um zwei Paare, die in einem Sommerhaus in der Bretagne über Sex, Freundschaft, Kunst, Politik und Gender diskutieren und in ein komplexes Beziehungsgeflecht geraten, die Gefühle ihrer Figuren ausleuchtet. In der FAZ staunt Tilman Spreckelsen, wie Rooney das Ungesagte in den Dialogen oder Chats der beiden Frauenfiguren markiert und dabei zeigt, wie ein Bild vom jeweils anderen entsteht, das oft nicht der Wahrheit entspricht. NZZ-Kritikerin Angela Schader ist etwas zwiespältiger: Das unterkühlte Intellektuellenmilieu mit seinen cool-ironischen Posen geht ihr streckenweise auf die Nerven, ganz schön Federn lassen müssen die Freundinnen aber doch, meint sie, durchaus beeindruckt von dem "kalten Feuer" des Romans. Weitere Hymnen in Tagesspiegel und NDR.

Katja Oskamp
Marzahn, mon amour
Geschichten einer Fußpflegerin
Hanser Berlin. 144 Seiten. 16 Euro

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Sommerurlaub in Marzahn? Klingt gut, wenn man Katja Oskamps Reportage ins Gepäck legt. Verspricht zumindest Cornelia Geißler in der FR, die dank diese Buches der Dramaturgin und Autorin die "die Wirklichkeit" unseres Landes kennenlernt. Man könnte es gewissermaßen als Kontrastprogramm zu Sally Rooneys "Gesprächen mit Freunden" lesen. Oskamp hat sich während einer Lebenskrise aus ihrer Blase herausgewagt und - nach achtwöchiger Ausbildung - als Fußpflegerin in einem Kosmetikstudio in Marzahn anstellen lassen. Daraus entstand zunächst eine regelmäßige Zeit-Online-Kolumne. "Komponiert zu einem Buch ergibt sich etwas Eigenes und Besonderes mit großer Sogkraft", versichert Geißler und lauscht begeistert den Lebensgeschichten von RentnerInnen, Funktionären und anderen Plattenbau-Bewohnern. Sie bewundert zudem, mit welchem Einfühlungsvermögen Oskamp jedes Gespräch verdichtet, einen neuen Ton findet und nebenbei Vorurteile über Marzahn auflöst. Im Dlf-Kultur-Gespräch mit Joachim Scholl beruhigt Oskamp den sich gruselnden Redakteur: Fußpflege, Marzahn, alles kein Weltuntergang, im Gegenteil. Hier gibt's eine Hörprobe aus dem bei tacheles zusätzlich erschienenen Hörbuch.

Katerina Poladjan
Hier sind Löwen
Roman
S. Fischer. 288 Seiten. 22 Euro

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Viel Lob gab es für diesen Roman der deutsch-russischen Autorin Katerina Poladjan: Eine Buchrestauratorin in Jerewan stößt auf eine alte Familienbibel und erfährt so von den armenischen Wurzeln ihrer Familie. Wer sich darauf einlässt, dem bietet der Roman einen enormen Hallraum, staunt FAZ-Rezensent Fridtjof Küchemann. Poladjans dritter Roman führt nicht nur tief in die armenische Geschichte und in eine Kindheit, er macht das laut Küchemann auch mit der reizvollen vorsichtigen Suchbewegung einer verhalten bewegten Erzählerin und unter Verwendung sorgfältig gewählter Bilder. Das ist spannend und klug erzählt, versichert in der Welt Richard Kämmerlings. Und im Dlf Kultur lobt Olga Hochweis sowohl die präzise und dennoch poetische Sprache wie auch das vielschichtige Bild Armeniens, das Poldjan zeichnet.

Ocean Vuong
Auf Erden sind wir kurz grandios
Roman
Carl Hanser Verlag. 240 Seiten. 22 Euro

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Kein Buch wurde vergangenen Monat so gefeiert wie Ocean Vuongs Debütroman. Der junge amerikanisch-vietnamesische Autor lässt sein Alter Ego "Little Dog" einen Brief an seine durch den Vietnamkrieg traumatisierte, prügelnde und bildungsferne Mutter verfassen, in dem er ihr in einzelnen Szenen von seinem Leben, dem Studium oder seiner Beziehung mit dem opioidabhängigen und rassistischen Erntehelfer Trevor erzählt. In der FAZ lobt Miryam Schellbach die Feinfühligkeit, mit der Vuong das auf Unterwerfung beruhende Verhältnis der beiden jungen Männer schildert und bewundert, wie eindringlich der Autor die Ausweglosigkeit von Klasse, Sexualität und Herkunft zeichnet. Für NZZ-Kritikerin Angela Schader ist der Roman eine "elliptische Bestandsaufnahme" der USA nach der Jahrtausendwende mit teils demütigenden Lebensumständen. "Schmerzgeladen und fragil, fremd und schön", schwärmt sie. Große Sprachkraft und politisches Engagement attestiert in der SZ Insa Wilke dem zwischen Prosa, Essay und Lyrik mäandernden Text, den sie als Akt der Selbstermächtigung liest. Und im NDR staunt Lisa Kreißler: "Hier kommt einer, der die Wunden der Menschheit in einem solch elektrisierend mutigen Verfahren erkundet, dass es wehtut." Nur in der Zeit bemängelt David Hugendick sanft das ästhetisch manchmal rohe, mit stilistischen Brüchen arbeitende Schreiben.

Lea Singer
Der Klavierschüler
Roman
Kampa Verlag. 224 Seiten. 22 Euro

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Lea Singer ist das Pseudonym der Psychologin und Publizistin Eva Gesine Baur: Als Baur veröffentlicht sie Sachbücher, jüngst etwa eine Marlene-Dietrich-Biografie, als Singer belletristische Werke. Und gelegentlich kommt es zu Überschneidungen wie in diesem Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht: In der Zürcher Zentralbibliothek stieß Singer auf Briefe von Vladimir Horowitz, die der verheiratete Pianist in den dreißiger Jahren an seinen Klavierschüler Nico Kaufmann schickte. In der NZZ bewundert ein hingerissener Paul Jandl, wie die Autorin Fakten und Fiktion verzahnt, die berührende Geschichte einer verbotenen Liebe vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Katastrophe erzählt und mitreißend die Motive Musik und Tod verknüpft. SZ-Kritikerin Ekaterina Kel liest ein "zartes Psychogramm" und spürt Singers Respekt und Verehrung für ihre Figuren. Wie es der Autorin gelingt, ihren Stoff nicht reißerisch und mit Blick auf sexuelle Details, sondern mit großem Ernst und Taktgefühl anzugehen und den gesellschaftlichen Druck auf Homosexualität und die Folgen für die Betroffenen - die Schuldgefühle und Depression - zu thematisieren, findet FAZ-Kritiker Jan Brachmann beklemmend. Quellen und Interpretation, Wirklichkeit und Behauptung würde er während der Lektüre allerdings gern voneinander unterscheiden können. Weitere Besprechungen in NDR und SWR2.

Hier singt er 1934 "Non piangere, Liù" aus Pucchinis "Turandot" und man möchte einfach nur weinen:



Sachbuch

Jan Plamper
Das neue Wir
Warum Migration dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen
S. Fischer Verlag, 400 Seiten, 20 Euro

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Die Einwanderung in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte - das ist kurz und bündig die herzerfrischende These des in London lehrenden Historikers Jan Plamper. Seit 1945 sind Vertriebene aus Osteuropa, Russlanddeutsche, Arbeiter aus Italien, der Türkei, Vietnam oder Mosambik dazugekommen und haben Deutschland mitgeprägt. Den Rezensenten, froh, mal was Positives zu diesem Thema lesen zu können, gefiel besonders, dass Plamper die Einwanderung nach Deutschland mit der Auswanderung von Deutschen im 19. Jahrhundert nach Amerika gegenschneidet. Den Vergleich fand Stefan Reinecke in der taz erhellend. Im Dlf Kultur lobt Siglinde Geisel, dass Plamper auch Migranten auch selbst zu Wort kommen lässt. Alles in allem gefällt ihr diese "Utopie einer neuen deutschen Kollektividentität". Ein wenig mehr Platz, so findet der wohlwollende Rezensent Tomasz Kurianowicz, hätte Plamper vielleicht den tatsächlichen Problemen einräumen sollen, die sich aus bestimmten Migrationsschüben ergeben haben. Das hätte seine Argumentation für den Zeit-Kritiker nur umso überzeugender gemacht.

Theodor W. Adorno
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Ein Vortrag
Suhrkamp Verlag. 86 Seiten. 10 Euro

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Kaum ein Buch wurde in den letzten Wochen so häufig besprochen wie die neu edierte Rechtsextremismus-Vorlesung von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1967. Fast alle Rezensenten betonen die Aktualität von Adornos Ausführungen. Auf einen besonderen Aspekt macht Thomas Assheuer in der Zeit aufmerksam: Viel freier, als es heutige Soziologen wagten, schließe Adorno das "kollektive Imaginäre" in seine Reflexion ein. Es ist nicht die Deklassierung, sondern bereits die Angst vor der Deklassierung, so Assheuer mit Adorno, die anfällig mache für Einflüsterungen der Rechtsextremen. "Innere Vorwegnahme" lasse das Befürchtete dann als "erlösendes Unheil" (so Adornos Vokabel) erscheinen. Viel verschmockter lesen sich allerdings Adornos Ideen zu Faschismus als letztem Stadium des Kapitalismus - keiner der Rezensenten in den Zeitungen scheint sich aber daran zu stören. Darum sei auf den Perlentaucher-Kommentar von "Remix Redivivus" verwiesen: "Die Vorstellung Adornos, den Nationalsozialismus nur mit den kapitalistischen Produktionsprozessen seiner Zeit erklären zu wollen, ist historisch gescheitert." Übrigens hat sich auch die Österreichische Mediathek beim Perlentaucher gemeldet und verlinkt auf die originale Audiodatei von Adornos Vortrag.

Michela Murgia
Faschist werden
Eine Anleitung
Klaus Wagenbach Verlag. 112 Seiten. 7 Euro.

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Auch Michela Murgia hat offenbar keine Probleme mit dem heiklen Begriff des "Faschismus". Was die Kritiker über das Buch erzählen, klingt aber interessant: Die Autorin denkt sich gewissermaßen hinein in das rechtsextreme Sprechen und versucht dessen Impulse zu schrecklicher Vereinfachung nachvollziehend und satirisch zu folgen. So rät sie etwa zu Relativierung als Diskusstrategie, berichtet taz-Rezensent Tim Caspar Boehme: Dies oder das kann man so oder so sehen - perfektes Einfallstor für Verschwörungstheorien und Fake News, so Boehme. Am höchsten rechnet er der Autorin an, dass ihr Buch selbstreflexiv angelegt ist und ein Erschrecken vor sich selbst einschließt: Murgia bekenne im Nachwort, viele der in ihrem Buch gesagten Dinge im Affekt auch schon selbst gedacht zu haben. Auch für Welt-Kritiker Marc Reichwein gehört zu den Stärken des Buchs, dass die Autorin die Schwächen der Demokratie immer mitdenkt.

Rebecca Solnit
Wanderlust
Eine Geschichte des Gehens
Matthes und Seitz. 384 Seiten. 30 Euro

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Dass Rebecca Solnits Kulturgeschichte des Gehens schon zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, macht den KritikerInnen nichts aus: Als erhellende Wanderlektüre - und definitiv nicht als Ratgeber -  empfiehlt Angela Schader in der NZZ das Buch, in dem ihr die amerikanische Kulturhistorikerin, Schriftstellerin, Essayistin, Aktivistin assoziativ durch die Zeiten und Disziplinen springend Einsichten in die Entwicklung des Gehens vom bloßen Zweck zum ästhetischen und schließlich zum politischen Ereignis vermittelt. Im Dlf-Kultur lobt Susanne Billig das Buch für seine Reflexionen und Anekdoten (über Hobbes und Stuart Mill) und folgt gebannt den antiken Peripatetikern bis zu den heutigen Trekkingfanatikern. Und wenn Solnit "quicklebendig" über die Kulturgeschichte des aufrechten Gangs, den Landschaftstourismus im 18. Jahrhundert, das Flanieren, Wettgehen oder das Pilgern schreibt, wird Sylvia Staude in der FR im Zeitalter der E-Scooter fast ein wenig wehmütig.

Hubert Wolf
Zölibat
16 Thesen
C.H. Beck. 190 Seiten. 14,95 Euro

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Erst seit hundert Jahren gebe es den Zölibat als Kirchengesetz in der heutigen rigiden Form - aus dem Grund, Priester für kirchliche Autoritäten "verfügbarer" zu machen, sagte der Kirchenhistoriker Hubert Wolf vergangene Woche im Interview mit Joachim Frank von der Berliner Zeitung: "Zölibatäre Priester sind leichter zu dirigieren, leichter zu steuern - und leichter zu erpressen." Natürlich werden obskurante Kräfte das Buch des Münsteraner Theologen attackieren, ahnt Rudolf Neumaier in der SZ und empfiehlt die Lektüre mit Freude: 16 "gründlich fundierte Thesen" werfe Wolf der katholischen Kirche mit Lust vor den "Betschemel", schmunzelt Neumaier und liest mit großem Interesse, wie der Autor Argument für Argument das Zölibat auslöscht. Dem Papst empfiehlt der Kritiker die Lektüre, um dem flächendeckenden Priesterausfall entgegenzuwirken und die hausinternen Widersprüche der katholischen Kirche noch einmal in aller Deutlichkeit zu erkennen.

Enrico Deaglio
Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika
Ein Essay
Edition Converso. 232 Seiten. 23 Euro

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Bereits im Jahr 2015 erschien dieser Essay des italienischen Journalisten und Schriftstellers Enrico Deaglio im Original, nun ist er auch auf Deutsch erschienen, und Maike Albath empfiehlt ihn in der SZ mit Nachdruck: Basierend auf einem wahren Fall erzählt ihr der Autor die Geschichte von fünf Armutsflüchtlingen aus dem sizilianischen Cefalù, die von den Bewohnern Tallulahs im amerikanischen Louisiana im Jahre 1899 ermordet und geschändet wurden. Deaglio forschte in Archiven und sichtete Artikel in der amerikanischen sowie in der italienischen Tagespresse, um die vergessene Geschichte zu recherchieren. Albath lobt vor allem den erzählerischen Ton des Autors, der immer wieder "überraschende" Querverweise zu Kunst, Literatur, Wissenschaft und Zeitgeschichte einfügt. Ein lesenswertes Buch über das Schicksal sizilianischer Einwanderer, denen, nach dem Ende der Sklaverei in Louisiana als billige Arbeitskräfte für die Zuckerrohrernte angeworben, Rassismus und Ausbeutung begegnete, meint sie und versichert: Die "irrationalen Ängste", die Minderheiten auslösen, veranschauliche Deaglio "zeitlos" - auch mit Blick auf das heutige Italien. Im FR-Gespräch mit Arno Widmann ärgert sich Deaglio über die Faulheit der Linken in Italien, im Freitag-Interview mit Leander F. Badura spricht der Autor über Migration.