Bücherbrief

Dienstleistungswürfel

08.05.2013. William T. Vollmann setzt das Schostakowitsch-Prinzip in Literatur um. Alain Mabanckou führt uns ins Trois-Cents-Viertel Brazzavilles. Jochen Schmidt führt uns im Sommer 89 ins Ferienlager Schneckenmühle. David Gilmour sucht Italien, Kathrin Passig experimentiert mit neuen Technologien. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Mai.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den Perlentaucher bei buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, der eine Provision bekommt.

Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich hier anmelden. Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.

Weitere Anregungen finden Sie in den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2013 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2013 und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

William T. Vollmann
Europe Central
Roman
Suhrkamp Verlag 2013, 1028 Seiten, 39,95 Euro



Ein manisches, ja ein "ausgefuchstes" Stück Literatur hat FAZ-Rezensent Andreas Platthaus hier bewältigt, ein tausendseitiges, in der Geschichte verankertes Textgebirge aus den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, zugleich eine hochmusikalische Konstruktion, denn William T. Vollmann inspiriert sich laut Platthaus am "Schostakowitsch-Prinzip des kontrastiven Komponierens" und führt Parallelfiguren ein: Dem russischen General Andrej Wlassow, der zu den Deutschen überlief, entspricht sein deutsches Pendant Friedrich Paulus, der in Stalingrad kapitulierte. Die Rezensenten der anderen Zeitungen sind sich mit Platthaus einig. Dabei wird dem Leser zugemutet, die Grenzlinie zwischen Fiktion und Realität selbst zu suchen. Eine Hauptfigur des Romans, Schostakowitschs Geliebte, ist zwar nicht erfunden - aber in großen Teilen doch erdichtet. Der Roman gehorcht literarischen Gesetzen, mahnen Lothar Müller in der SZ und Platthaus quasi unisono. Alle Rezensenten loben auch die Übersetzung Robin Detjes mit höchster Emphase. Für Müller wird der Roman durch Detje auch zu einem Stück deutscher Literatur. Ganz klar eines der bleibenden Bücher der Saison. Hier eine

Alain Mabanckou
Zerbrochenes Glas
Roman
Liebeskind Verlagsbuchhandlung 2013, 222 Seiten, 18,90 Euro



Fernab aller gängigen Afrika-Klischees siedelt der kongolesische Autor Alain Mabanckou seinen Roman "Zerbrochenes Glas" um die schrullige Stammkundschaft einer heruntergekommenen Bar in Brazzaville an. Mabanckou "spielt mit der Sprache", schreibt Sopie Sumburane im Culturmag, und er schafft es, den Leser "in der Bar sitzen zu lassen, das Gelesene als Gesprochenes zu verstehen und in die Welt des Trois-Cents-Viertels" einzutauchen. Mit bisweilen derbem Witz lässt Mabanckou die bewegte Geschichte und die ebenso unstete Gegenwart des krisengebeutelten Landes ins Geschehen einfließen, bewahrt gegenüber seinen Figuren bei aller satirischen Schärfe jedoch die respektvolle Zärtlichkeit eines Puppenspielers, wie Tim Neshitov in der SZ hervorhebt: "Seine behutsame Hand packt sie aus, lässt sie ins Leben zappeln und packt sie wieder ein."

Wassili Golowanow
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens
Roman
Matthes und Seitz 2012, 600 Seiten, 29,90 Euro



Ob es sich bei Wassili Golowanows "Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens" nun um einen Essay, eine Reportage, einen wissenschaftlichen Bericht, eine historische Darstellung oder ein Geschichten- und Mythenbuch handelt, darüber sind sich die Rezensenten uneins. Einigkeit besteht in zwei Punkten: dass der Text erstens entgegen der offiziellen Zuschreibung kein Roman und zweitens diesem Etikettenschwindel zum trotz unbedingt lesenswert ist. Es geht um die in der Barentssee gelegene nordrussische Insel Kolgujew, deren kaum fünfhundert Bewohner größtenteils dem indigenen Volk der Nunzen angehören. Wie die Bevölkerung allmählich von ihrer traditionellen Lebensweise abkommt und "ihr Gedächtnis verliert", hat Karl-Markus Gauß in der SZ überwältigt. Und auch Jörg Plath kommt im DRadio aus dem Schwärmen nicht heraus: "Solche Seelen- und Gottessucherbücher gibt es in Dutzenden von Jahren nur eines", so sein begeistertes Fazit.

Jochen Schmidt
Schneckenmühle
Roman
C. H. Beck Verlag 2013, 220 Seiten, 17,95 Euro



"'Schneckenmühle' ist ein Kindheits-Rückholungs-Roman", schreibt Jörg Magenau in einer Kritik für Kulturradio, und dieser fast technisch klingende Begriff trifft vielleicht am besten, was Schmidt mit diesem Roman vorzuhaben scheint: eine präzise Rekonstruktion eines Moments im Leben eines jungen Menschen, der zugleich, aber nur nebenbei, ein welthistorischer ist, denn der Roman spielt vor dem Hintergrund der beginnenden Wende im Sommer 89. Und Alexander Camman begeistert sich in der Zeit gerade für die Präzision des Romans, für die vergessenen Vokabeln ("Dienstleistungswürfel") und schönen Details ("ausgewaschene Milchtüten fürs Pausenbrot"), mit denen Jochen Schmidt in seinem Roman eine DDR-Kindheit heraufbeschwört, die im Sommer 89 im Ferienlager "Schneckenmühle" zu Ende geht. Hier eine

Marko Martin
Kosmos Tel Aviv
Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt
M. Wehrhahn Verlag 2012, 224 Seiten, 19,80 Euro



Marko Martin reist seit Jahren nach Israel und berichtet von dort. Für diesen Band hat er Essays, Reportagen, Glossen aus und über Tel Aviv zu einem Strauß zusammengebunden, der Literatur, aber auch Frauen im Militärdienst, Partys, Studenten-WGs und Familie in Israel umfasst. Die Rezensenten sind höchst angetan. Thorsten Schmitz lobt in der SZ die Frische und Frechheit, mit der Martin ein Land beschreibt, in dem er sich wie zu Hause fühlt. Nur wenn es um den Nahostkonflikt geht, wird es ihm ein bisschen zu klischeehaft. In der taz empfiehlt Chaim Noll den Band als kurzweiliges und informatives Stadt-Lesebuch. Und in der Hannoverschen Allgemeinen freut sich Daniel Alexander Schacht über die vielen Schriftstellerinterviews u.a. mit Batya Gur, Mira Magen, Elazar Benyoëtz, Manfred Winkler, Etgar Keret, Ron Leshem oder Michal Zamir.


Sachbuch

David Gilmour
Auf der Suche nach Italien
Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen
Klett-Cotta Verlag 2013, 464 Seiten, 27,95 Euro



Höchst vergnügt haben sich die Rezensenten mit David Gilmour auf die Reise durch Italien begeben, denn hier führt sie kein deutscher Professor, sondern ein britischer Adliger auf Grand Tour. Wie sich Dirk Schümer in der FAZ freut, tut David Gilmour das eher "rhapsodisch, plaudernd" als vollständig. Allerdings verlässt sich Schümer mehr auf Gilmours historischen Sachverstand als auf seinen Kunstsinn. Für anregend und geistreich hält Peter Michalzik in der FR das Buch, das ihm sehr gut erklärte, warum Italien nie nach Einheit strebte und sich heute auch nicht politisch gestalten lasse. In der SZ findet Johan Schloemann das Buch sehr empfehlenswert, dem es bei aller Liebe zur Schönheit des Landes nicht am kritischen Blick auf die Verhältnisse mangele: "Italien heute, das sind immer noch findige Unternehmer, gutes Essen und ein reiches kulturelles Erbe, sonst aber: Reformstau, Misswirtschaft, Mafia und infantiles Fernsehen." Hier eine

Kathrin Passig
Standardsituationen der Technologiekritik
Merkur-Kolumnen
Suhrkamp Verlag 2013, 100 Seiten, 12 Euro



Wie keine andere Publizistin versteht es Kathrin Passig, die Tendenzen der Digitalisierung an der eigenen Erfahrung zu brechen. Gerade erst erschien auf zeit.de ein kleiner Essay von ihr, in dem sie die Vorzüge des Ebooks aus ihrer Praxis schildert: Man behält die Unterstreichungen. Man kann die Bücher durchsuchen, über soziale Netzwerke und Online-Leseproben findet man Orientierung - gleichzeitig revidiert sie damit frühere Positionen. So technikskeptisch er selber empfindet - obwohl er sich dem Sturm der Zeit tapfer anzupassen versucht -, so sehr versteht Franz Schuh in seiner Zeit-Rezension doch Passigs Kritik an den Rückzugspositionen gerade qualifizierterer Menschen, die sich durch die Digitalisierung abgehängt sehen. Passig kritisiere deren Standardausreden gegen Netz und Medienwandel als infantil, und sie mache deutlich, dass die Widersprüche durch die Personen selbst gehen: Sie profitiert als Leserin, sagt Passig, und sie leidet als vom Print abhängige Autorin. Schuh sieht's ähnlich.

Jared Cohen, Eric Schmidt
Die Vernetzung der Welt
Ein Blick in unsere Zukunft
Rowohlt Verlag 2013, 448 Seiten, 24,95 Euro



Prognosen über den wachsenden Einfluss des Internets auf die Welt gibt es zuhauf, aber wenn Google-Chef Eric Schmidt und der außenpolitische Berater der US-Regierung Jared Cohen etwas zu dem Thema sagen, hat das natürlich ein besonderes Gewicht. So fürchtet Frank Schirrmacher prompt in der FAZ, ihre Ausführungen seien "nicht nur eine Prognose, sondern auch ein Plan", und sieht die Abschaffung der Autonomie des Einzelnen heraufdämmern. Ole Reißmann freut sich auf Spiegel online über die anschauliche Darstellung der Auswirkungen der digitalen Revolution auf Asien, Afrika und Lateinamerika, hätte sich aber konkrete Informationen zur Strategie von Google erhofft. Und auch Benjamin Stein empfiehlt in der Zeit, bei der Lektüre die Auslassungen des Buches im Blick zu behalten.

Stine Marg, Lars Geiges, Felix Butzlaff, Franz Walter (Hrsg.)
Die neue Macht der Bürger
Was motiviert die Protestbewegungen?
Rowohlt Verlag 2013, 346 Seiten, 16,95 Euro



"Wutbürger" lautete das Wort des Jahres 2010. Wer diese Wutbürger sind und wogegen sich ihre Wut richtet, das arbeitet diese Studie wissenschaftlich auf. Der Band "zeigt den Status Quo einer politisch in Bewegung geratenen Bevölkerung", fasst Ralph Gerstenberg im DRadio zusammen. So lernt etwa Wolfgang Jäger von der FAZ, dass die Protestbewegungen von gutausgebildeten, älteren Männern dominiert werden, während Johann Osel in der SZ die Hoffnung äußert, dass der Protest womöglich über egoistische Einzelinteressen hinausgehen könnte. Reinhard Mohr bemängelt in der Welt allerdings die "nicht gerade üppige Materialfülle" der Untersuchung.

Tina Uebel
Nordwestpassage für dreizehn Arglose und einen Joghurt
C.H. Beck Verlag, München 2013, 400 Seiten, 19,95 Euro

()

Als Autorin ist Tina Uebel vor allem durch ihren Vorstadtroman "Last Exit Volksdorf" bekannt (und vielleicht in manchen Wohlstandsoasen um Hamburg etwas unbeliebt). Für ihr neues Buch hat sie mit dem Segelboot Santa Maria Australis die Nordwestpassage durchquert, den legendenumwobenen Seeweg an der arktischen Küste Kanadas und Alaskas entlang. Erstaunlich reflektiert findet die SZ den Reisebericht, und die Auseinandersetzung mit der arktischen Landschaft und ihren Lebensbedingungen ausgesprochen lesenswert. Die taz kann "Nordwestpassage für dreizehn Arglose und einen Joghurt" ebenfalls sehr empfehlen, als Buch über Freundschaften, Erfahrungen und das Reisen selbst, bei dem sich immer wieder die Ziele verändern. Hier eine

Renate von Mangoldt
Autoren
Fotografien von 1963-2012
Steidl Verlag, Göttingen 2013, 544 Seiten, 38 Euro

()

Von der bescheidenen Aufmachung dieses Bandes sollte man sich auf keinen Fall täuschen lassen, warnen die Rezensenten: Hinter dem schlichten Titel verbirgt sich ein halbes Jahrhundert Literaturgeschichte. Renate von Mangoldt hat es mit ihrer Kamera festgehalten, seit sie 1962 von ihrem Mann Walter Höllerer als Fotografin an das Literarische Colloquium Berlin geholt wurde. Hubert Spiegel blickt in der FAZ staunend, fasziniert und bewundern auf die Porträt von Günter Grass ("eine Mischung aus Mario Adorf und Peppone") oder Martin Walser ("Irgendwie unschlagbar ... wie Jürgen Klopp in Bestform."). Im Deutschlandradio Kultur bemerkte Carsten Hueck, wie feinsinnig Mangoldts Foto festhalten, wie der Erfolg die Autorinnen und Autoren verändert hat oder auch nicht: "Sie sind im Wortsinn: berührend. Sie zeigen Zeit und Dauer."