Bücherbrief

Ganz, ganz viel Grimm

11.12.2014. Der letzte Bücherbrief vor Weihnachten. Mit einem irrwitzigen Roman von Howard Jacobsen. Mit ganz frisch "Verlorenen Illusionen". Mit grandiosen DDR-Fotografien. Mit Kinderbuchtipps.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Herbst 2014, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2014, den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Howard Jacobson
Im Zoo
Roman
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) 2014, 448 Seiten, 24,99 Euro



Eine irrwitzige britische Satire auf den Literaturbetrieb! Das Schicksal eines Buchhändlers und Schrifststellers liest sich schon im Klappentext recht vielversprechend: Sein Verleger hat sich umgebracht, Vampirschmonzetten verdrängen seine Romane aus den Buchhandlungen, und ihm fehlt jegliche Inspiration für ein neues Buch. Außerdem begehrt er seine Frau, was kein Problem wäre, wenn er nicht auch ihre Mutter begehrte. Welt-Rezensent Rainer Moritz, selbst Schriftsteller, verspricht gut platzierte Bosheiten, brillante Dialoge und zum Schluss eine überraschende Wendung. Aber es ist auch ein "ernstes Buch über den Niedergang der Buch-Industrie", versichert Knut Cordsen auf Bayern2.

James Salter
Jäger
Roman
Berlin Verlag 2014, 304 Seiten, 19,99 Euro



James Salter, geboren 1923, diente zwölf Jahre lang in der amerikanischen Airforce. Als Kampfpilot flog er im Koreakrieg mehr als hundert Einsätze. 1957 schied er aus der Armee aus, um sich seiner schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Salter war lange ein "authors author", bevor er in den letzten zwanzig Jahren - in Deutschland vor allem mit seinem Roman "Alles, was ist" - von einem breiteren Publikum entdeckt wurde. "Jäger", im Original 1957 erschienen, war Salters Debütroman. Er erzählt - kühl und unpathetisch, so die FR - von einer Gruppe von Kampffliegern, von Ehrgeiz, Mut und Intrigen. In der Zeit fremdelt Andreas Schäfer erst ein wenig mit dieser Männerwelt, wird dann aber doch mitgerissen von Salters fliegerischen "Intensitätsauskostern". Dem SZ-Rezensenten Christopher Schmidt sind die Flieger etwas zu heroisch, aber wie Salter Flugmanöver in "narrative Manöver" verwandelt, imponiert ihm enorm.

Patrice Nganang
Zeit der Pflaumen
Roman
Peter Hammer Verlag 2014, 443 Seiten, 26 Euro



Nach "Der Schatten des Sultans" ist dies der zweite Roman des 1970 in Yaounde geborenen Dichters und Romanciers Patrice Nganang über die Geschichte Kameruns. Hier erzählt er vom Beginn des Zweiten Weltkriegs in Kamerun, 1940. Das Land hat sich gerade von den französischen Kolonialisten getrennt und steht unter dem Mandat des Völkerbunds. Dass die Deutschen Paris besetzt haben, registriert eine Gruppe junger kamerunischer Dichter mit einer gewissen Schadenfreude, erzählt Almut Seiler-Dietrich, die den Roman in der NZZ besprach. Doch de Gaulle, der Soldaten braucht, erklärt Kamerun flugs wieder zur Kolonie und schon ziehen die jungen Dichter in den Krieg. Außer dem wenig bekannten Sujet dieses Romans bewundert die Rezensentin Nganangs virtuosen dichterischen Umgang mit der Sprache.

Honore de Balzac
Verlorene Illusionen
Roman
Carl Hanser Verlag 2014, 959 Seiten, 39,90 Euro




Geradezu todesmutig haben sich die Feuilletons auf die Neuübersetzung von Balzacs großem Roman "Verlorene Illusionen" gestürzt, der so unübertroffen zweischneidig vom Aufstieg der Presse im Paris des 19. Jahrhunderts erzählt. Großes Lob für die Übersetzerin Melanie Walz, der Felicitas Lovenberg in der FAZ bescheinigt, mit ihrer "schönen, klaren Sprache" den Roman in 21. Jahrhundert geholt zu haben. Kaum je wurde dem Journalismus fruchtbarer der Prozess gemacht als von Honoré de Balzac. Auf Zeit Online stört sich Ijoma Mangold zwar ein wenig daran, dass Balzac immer zu den grellsten Farben auf der Palette greift, um Ehrgeiz und Narzissmus auszumalen, aber andererseits hat er die Niedertracht des Feuilleton nie wieder so kraftvoll beschrieben gesehen. In der SZ preist Lothar Müller die geradezu diabolische Grandiosität des Romans, der keinerlei Zweifel an der Hartherzigkeit und Korrumpiertheit der Branche Druck & Papier lässt, seine eigene Wirkmacht aber eben auch der "stilbildenden Kraft der Deadline" verdankt.


Kinder- und Jugendbücher

Barry Jonsberg
Das Blubbern von Glück
(Ab 10 Jahre)
cbt Verlag 2014, 256 Seiten, 14,99 Euro



Ein wunderbares Kinderbuch kann SZ-Rezensentin Roswitha Budeus-Budde mit Barry Jonsbergs "Das Blubbern von Glück" vorstellen, das nun auch in der einfühlsamen deutschen Übersetzung Ursula Höfkers vorliegt. Die Kritikerin folgt hier der jungen Candice, die ihre Zeit meist in Bibliotheken verbringt, Charles Dickens liest und ihr junges und doch schon so schweres Schicksal in kurzen Texten festhält: Die kleine Schwester ist gestorben, die Mutter an Krebs erkrankt und der Vater liegt im Streit mit Candice" Onkel Brian. Nicht nur den Familienmitgliedern, sondern auch ihrer ersten zarten Liebe Benson versucht Candice Glück zu schenken und die Rezensentin liest gerührt, wie Jonsberg mal komisch, mal traurig von den eigensinnig-raffinierten Ideen des kleinen Mädchens erzählt. Hartmut El Kurdi bestätigt Budeus-Buddes Urteil in der Zeit. Noch ein sehr gut besprochenes Jugendbuch zum Thema Lesen ist Juan Villoros "Das wilde Buch".

Andreas Steinhöfel
Anders
(Ab 12 Jahre)
Carlsen Verlag 2014, 200 Seiten, 16,90 Euro



Feierlich, geradezu philosophisch bespricht Fritz Göttler dieses neue Buch Andreas Streinhöfels. Aber leichter Tobak ist es nicht: Der Held ist aus dem Koma erwacht, sieht die Welt nun schärfer als die anderen und sagt es ihnen auf die bleiche Nasenspitze zu. Leben, lernt Göttler, heißt Mut haben: zum ständigen Wandel, zum Fallen, zum Aufstehen. Viel Romantik und "ganz, ganz viel Grimm" habe er in sein Buch gesteckt, erzählt der Autor im Gespräch mit Katja Weise vom NDR. Weise fragt sich zwar, ob das Buch Zwölfjährige nicht ein wenig überfordert, hofft aber dennoch auf viele Leser.

Für alle, die Kinder beschenken wollen: Hier ein Überblick über die Bilderbücher, die 2014 besprochen wurden, hier ein Überblick über die Kinderbücher ab 6 und hier ein Überblick über die Jugendbücher des Jahres.


Sachbuch

Adam Zamoyski
1815
Napoleons Sturz und der Wiener Kongress
C. H. Beck Verlag 2014, 704 Seiten, 29,95 Euro




Rezensent Thomas Speckmann liest das Buch in der FAZ als Fortsetzung von Zamoyksys "1812" und also auch als pralles Schlachtengemälde, das die "Schrecken der Gewalt" spürbar werden lässt. Gebannt verfolgt Speckmann, wie der französische Kaiser noch einmal politisch und militärisch alle Reserven mobilisierte, ohne seine Abdankung doch noch verhindern zu können. Aber so ähnlich wie die Auseinandersetzung um den Ersten Weltkrieg, die in diesem Jahr so fruchtbare Debatten auslöste, ist auch hier der Hinweis auf die europäische Perspektive wichtig, den Annie Jourdan schon 2008 in La vie des idées gab: Bisher wurde der Wiener Kongress zuvörderst aus Traditionen der Nationalgeschichte gesehen - Zamoyski schafft es laut Jourdan (ähnlich wie Christopher Clark in seinem WK 1-Buch "Die Schlafwandler") diese Perspektiven aufzubrechen. Günther Müchler ärgert sich im Dradio Kultur allerdings, dass Zamoyski nicht so viel von der neuerdings so gepriesenen Friedensordnung von 1815 hält: "Zu den Folgen des Kongresses gehört (damit) alles, was seit seinem Ende in Europa geschehen ist, auch der aggressive Nationalismus, der Bolschewismus, der Faschismus, die beiden Weltkriege und letztlich die Europäische Union." Müchlers Kommentar: "Der Kongress als Kochtopf, in dem die ganze Moderne zubereitet wird: Glücklicherweise finden sich solche Verstiegenheiten selten." Der Guardian rezensierte die Originalausgabe schon 2007.

Ebenfalls gut besprochen wurden David Kings "Wien 1814" und Thierry Lentz" "1815" die den Wiener Kongress aus britischer respektive französischer Sicht schildern, sowie Hazel Rosenstrauchs "Congress mit Damen".


John Freely
Aristoteles in Oxford
Wie das finstere Mittelalter die moderne Wissenschaft begründete
Klett-Cotta Verlag 2014, 395 Seiten, 24,95 Euro



Nach "Platon in Bagdad", seiner vielgelobten Geschichte über die Wege antiken Wissens von den arabischen Ländern zurück nach Europa, erzählt der in Istanbul lehrende amerikanische Physiker und Historiker John Freely in seinem neuen Buch, wie sich die abendländische Wissenschaft im Mittelalter bis zu Newton entwickelte. FAZ-Rezensent Thomas de Padova hängt trotz einiger Einwände bald am Haken, denn Freely, lobt er, erzählt nicht nur Wissenschaftlerbiografien, sondern schildert auch epochale Entdeckungen, etwa zur Entstehung des Regenbogens. Kurz: Das Buch ist eine Fundgrube des Wissens, versichert der angeregte Rezensent.

Norbert Grob
Fritz Lang
"Ich bin ein Augenmensch". Die Biografie
Propyläen Verlag 2014, 448 Seiten, 26 Euro



Norbert Grobs Biografie des Filmregisseurs Fritz Lang haben die Kritiker sehr positiv aufgenommen: "Endlich" oder "Schöner geht es nicht", lauteten die Reaktionen auf das Buch. Grob erzählt en détail von Langs Leben, vom mysteriösen Tod der ersten Ehefrau, der Filmpartnerschaft mit Thea von Harbou, dem Exil und der Rückkehr nach Deutschland. In der SZ hätte sich Fritz Göttler vielleicht etwas mehr "inneren Drive" gewünscht, weiß aber die akribische Recherche des Mainzer Filmwissenschaftlers zu schätzen, auch wenn dieser einige der schönsten Legenden zerstöre, die um Fritz Lang kreisten. Ungebremster ist der Jubel bei Dietmar Dath in der FAZ: Wer braucht Romane, wenn es solche Biografien gibt? In einem Interview mit dem SWR erzählt Norbert Grob, dass sogar die Nasa von Fritz Lang gelernt hat.

György Dalos
Geschichte der Russlanddeutschen
Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart
C. H. Beck Verlag 2014, 330 Seiten, 24,95 Euro



György Dalos erzählt die Geschichte der Russlanddeutschen und ihrer Beziehung zu Russland wie eine Ehegeschichte, meint FAZ-Rezensentin Kerstin Holm. Alles fing wunderbar an und ging dann langsam, vor allem im 20. Jahrhundert, zu Bruch. Im 20. Jahrhundert liegt auch der Schwerpunkt des Buches, das mit Katharina der Großen beginnt. Im Deutschlandfunk lobt Gemma Pörzgen das Buch als lebhaft geschriebene Geschichte, mit vielen zum Teil neu entdeckten Quellen und "prägnanten Thesen". Vor allem den Epilog unterstützen Holm und Görzgen aus ganzem Herzen: Hier ermutigt Dalos die nach Deutschland ausgewanderten Russlanddeutschen, ihr russisches Erbe nicht als Last, sondern als Bereicherung anzusehen. Um Dalos zu zitieren: "Das Russische ist ihnen ein Kapital, das mittel- und langfristig bei der Annäherung zwischen Deutschland und Russland sehr nützlich sein kann."

Bildband

Mathias Bertram (Hg.)
Das pure Leben
Band 1: Die frühen Jahre. 1945-1975
Lehmstedt Verlag 2014, 200 Seiten, 24,90 Euro



Die DDR-Fotografie wird dereinst mit Karacho wiederentdeckt werden. Die Fotografen, so meint man beim flüchtigen Durchblättern zu entdecken, waren viel ehrlicher als all die Maler, die das grässliche Graue an diesem Land mit perfekter Akkuratesse verbrämten. Nur ein Foto von Helga Paris oder Gundula Schulze Eldowy, und man weiß, in welcher Welt sich ihre Protagnisten bewegten. Mathias Bertram zieht laut Klappentext "in zwei aufeinander abgestimmten und doch selbständigen Bänden eine umfassende Bilanz des Ostdeutschen Fotorealismus. Fern der Propaganda, die die offizielle Bildwelt der DDR beherrschte, zeigen die insgesamt 350 sorgfältig ausgewählten Aufnahmen von 60 namhaften Fotografen das Alltagsleben der Ostdeutschen nüchtern und ungeschönt, aber auch nicht ohne Heiterkeit." Autorin Annett Gröschner erkennt in den beiden Bänden eher einen subjektiven Fotoroman Bertrams als eine objektive Bestandaufnahme, aber sie sieht sich das gerne an, erzählt sie in der Welt, folgt dem Bildungsroman der DDR auf Fotos von Uwe Steinberg oder Sibylle Bergemann. Eine bessere Dokumentation des "puren Lebens" in der DDR als diesen Band und Band 2 des Werks über die "späten Jahre, 1975-1990" dürfte es kaum geben.

Hier ein Überblick über Fotobücher, die in den letzten drei Jahren besprochen wurden.