Bücherbrief

Hausboot und Hammerstein

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
01.02.2008. Alle sind erleichtert. Weil Peter Handke in der "morawischen Nacht" so schön erzählt. Weil Hans Magnus Enzensberger mit "Hammerstein" viel Diskussionsstoff bereitstellt. Und weil David B. "Die heilige Krankheit" in seinen Zeichnungen einfängt. Viel Freude mit den besten Büchern des Februars!
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Noch mehr Anregungen gibt es natürlich weiterhin
- im vergangenen Bücherbrief
- in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag"

Die Besten der Besten des vergangenen Jahres finden Sie in den vorweihnachtlichen Büchern der Saison.


Buch des Monats

Hans Magnus Enzensberger
Hammerstein oder Der Eigensinn
Eine deutsche Geschichte



Wie Hans Magnus Enzensberger sich des schillernden Chefs der Reichswehr als exemplarische Figur und prominenten Gegner des Nationalsozialismus annimmt, das wirbelt die Kritikerreihen durcheinander. Die Zeit ist exemplarisch gespalten zwischen Jörg Laus Begeisterung für eine ungemein spannende Collage und dem Ärger Volker Ullrichs über eine konfuse Zumutung, in der mit Quellen "mehr als fahrlässig" umgegangen werde. Auf der Seite der Befürworter finden sich gleich zweimal die taz ("kunstvoller Abenteuer- und Familienroman des 20. Jahrhunderts"), außerdem die NZZ ( "Blick des Unaufgeregten") und die FR ("ungemein lebendig"). In der SZ wiederum wirft der Historiker Götz Aly Enzensberger vor, die Demokraten der Weimarer Republik als "Politiker des Mittelmaßes" zu zeichnen. Eines ist Enzensberger mit seiner Dokumentarfiktion schon gelungen: die Aufmerksamkeit des Feuilletons zu erregen. Jetzt zählt das Leserurteil.


Literatur


Peter Handke
Die morawische Nacht
Erzählung



Ein kollektiver Stoßseufzer ging durch die Feuilletons. In diesem Buch spricht Peter Handke nicht über Politik, freuten sich die Kritiker. In dem schmalen Band gehe es ums schiere Erzählen: Ein Autor lädt sieben Freunde auf sein Hausboot ein und redet zu ihnen, die ganze Nacht. Literatur pur also, und befreit von den politischen Mühlsteinen um seinen Hals, trumpft Handke auf. So anschaulich und unmittelbar geht es derzeit bei keinem anderen Autor zu, frohlockt die FR. So jung und rücksichtslos, dieser Handke, staunt die FAZ, so selbstironisch, freut sich die NZZ. Für die FAZ beginnt hier eindeutig und eindrucksvoll das Alterswerk. Nur die Zeit reagiert angesichts der höheren Umstandskrämerei, wie sie es nennt, ein wenig gereizt. Dass der angeblich plötzlich so unpolitisch gewordene Handke kurz nach den Besprechungen eine Wahlempfehlung für den serbischen Nationalisten Nikolic aussprach, irritierte dann aber schon. Also: Lesen und sich selbst ein Urteil bilden.

Peter Nadas
Spurensicherung



Peter Nadas will mit seinen dokumentarischen Essays und Reportagen nicht anklagen, sondern der Logik der Dinge auf den Grund gehen, vermerkt die Zeit mit Wohlwollen. Das spürt man im titelgebenden Text über eine Villa in Budapest, in der die Staatssicherheit gefoltert hat, ebenso wie im Essay über Nadas' Kämpfe mit Ideologen und Zensoren. Es geht um den Alltag nach der Diktatur, und über die Erkenntnis, dass der Schatten des totalitären Systems viel länger ist als erwartet. Man wird nicht ohne Weiteres frei, stellt Nadas fest. Die FAZ nimmt diesen düsteren Grundtenor mit Bedauern, aber gefasst zur Kenntnis.

Martin Cruz Smith
Stalins Geist
Roman



Das ist kein simpler Politthriller, verteidigt die taz schon mal vorbeugend ihren Enthusiasmus über diesen Thriller mit dem reißerischen Cover. Polizist Arkadi Renko, weltbekannt aus "Gorki Park", ermittelt zum sechsten Mal. Seine Nachforschungen auf den Spuren der wegen Kriegsverbrechen in Tschetschenien berüchtigten Elite-Einheit Omon sind für sie der Schlüsselroman zur Putin-Ära. Stalin als Übervater, der Nationalismus, die Oligarchie, das alles treffsicher recherchiert und packend präsentiert - auch FAZ und NZZ kommen nicht umhin, sich tief vor dem Russland-Experten Cruz Smith zu verbeugen.

David B.
Die heilige Krankheit
Band 1: Geister



Der Comic ist schon längst auch ein Medium ernsthafter Geschichten, und diese Schilderung des Lebens mit einem epileptischen Bruder ist ein herausragendes Beispiel dieses Genres, versichert die SZ. Während die Texte sich sachlich mit der Krankheit und ihren Auswirkungen auf das Leben der Familie auseinandersetzen, springen die begleitenden Bilder immer wieder ins Fantastische. Die Geschichte selbst changiere zwischen dem persönlichem Blick, der verzweifelten Suche der Eltern nach einer Heilmethode, und größeren Zusammenhängen wie den spirituellen Absonderlichkeiten der sechziger und siebziger Jahre, so die SZ.


Sachbuch
Anka Muhlstein
Der Brand von Moskau
Napoleon in Russland



Ein kleines Meisterwerk der Geschichtsschreibung kann die Zeit präsentieren. So packend und anschaulich wie die französische Historikerin Anka Muhlstein habe noch kaum jemand Napoleons katastrophale Russland-Expedition beschrieben. Dramaturgisches Talent und profundes Fachwissen gehen eine derart fruchtbare Beziehung ein, dass die Zeit nicht nur viel über die damals revolutionäre Art der russischen Kriegsführung lernt, sondern sogar so etwas wie das französische Gegenstück von Tolstois "Krieg und Frieden" vor sich liegen sieht.

Gay Talese
Du sollst begehren
Auf den Spuren der sexuellen Revolution



Ein großes amerikanisches Sittenbild und ein Augenzeugenbericht über die sexuelle Revolution: Gay Taleses schon 1981 erschienenes Buch ist beides. Talese recherchierte von 1971 bis 1980 in Massagesalons, Nudistencamps und Pornoproduktionen. Der Journalist bleibt erstaunlich distanziert, wie die SZ hervorhebt, die dokumentarische Stringenz bleibt auch bei dieser frühen Form des "embedded journalism" erhalten. Die FAZ hat nach der einsichtsreichen Lektüre nun endlich den Beweis, dass die sexuelle Revolution auch in den USA weniger Befreiung als ein Zementieren "mikropolitischer Herrschaftsansprüche" war.

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945
Band 1: Deutsches Reich 1933 - 1937



Acht Historiker, sechzehn Bände, Tausende von Dokumenten über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa: Der erste Band des Mammutprojekts ist jetzt veröffentlicht worden, und er konnte die hoch gesteckten Erwartungen erfüllen. Die taz kann sich entgegen anfänglicher Befürchtungen leichter Hand durch die Quellen wühlen, die FR bekommt selten intensiv vor Augen geführt, wie weit verbreitet der Antisemitismus in der Bevölkerung war. Die SZ muss nicht nur erkennen, wie ausgereift das Bürokratendeutsch der Nazis war, sondern auch, welche Grausamkeit die Ausgrenzung der Juden von Anfang an bedeutete. Besonders erhellend findet sie, dass der Leser zu jeder erwähnten Personen erfährt, was aus ihr geworden ist.


Hörbuch


Antonio Tabucchi
Erklärt Pereira
1 CD



Für die FAZ sieht Pereira seit der berühmten Verfilmung von Antonio Tabucchis Roman so aus wie Marcello Mastroianni. Mit dieser sagenhaften Vertonung aber bekomme Mastroianni nun Konkurrenz, und zwar von der Stimme Hans Kortes. Der intoniere die unterschiedlichen inneren Stimmen Pereiras nämlich mit so komplizenhafter und hintergründiger Sympathie, dass der Widerständler wider Willen lebendiger als je zuvor erscheine.


Bildband


Nica Baronesse Pannonica de Koenigswarter
Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche



Ein Glück, dass derart grandiose wie außergewöhnliche Buchprojekte wieder möglich sind, jubiliert die FAZ. In den sechziger Jahren befragte die New Yorker Mäzenatin Nica Baronesse Pannonica de Koenigswarter 300 befreundete Jazzmusiker nach ihren drei größten Wünschen und schoss mit ihrer Polaroidkamera gleich noch ein Foto. Ihre Tochter hat das schlummernde Material nun gehoben und einen Verlag dafür gefunden, was nicht nur die FAZ freut. Auch die Zeit ist hingerissen von dem tiefen Einblick hinter die Kulisse der Jazzwelt.