Bücherbrief

Ich verhungere auch

05.08.2010. Marketa Pilatova zeigt uns vier Frauen, die ums Glück kämpfen. Elizabeth Strout zeigt uns eine nicht nette Frau mit Empathie. Vladimir Sorokin schickt uns noch einmal zur Bruderschaft des Lichts. Wojciech Jagielski porträtiert die irre ugandische Lords Resistance Army. Kirsten Heisig erklärt, warum jugendliche Straftäter nicht härter, sondern schneller bestraft werden sollen.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2010, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2010.


Literatur

Marketa Pilatova
Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein
Roman
Residenz Verlag, Salzburg 2010, 19,90 Euro



Für das Debüt der tschechischen Autorin Marketa Pilatova war den Kritikern keine Referenzgröße zu hoch gegriffen: Kundera, Hrabal, Hasek - sie alle werden herangezogen, um die Begeisterung für diesen Roman in Worte zu fassen. "Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein" verbindet die Geschichten von vier Frauen über zwei Generationen und zwei Kontinente hinweg. In der FAZ preist Sabine Berking Verve und Lebensklugheit, mit der Pilatova ihre Heldinnen in Prag und Sao Paulo ums eigene Glück kämpfen lasse, "mal mit einem Quentchen Opportunismus, mal mit Opposition, mit dem Gewehr in der Hand." In der NZZ freut sich Andreas Breitenstein über Pilatovas Heiterkeit, Klugheit und eine "transatlantische Verspieltheit", die ihm beispielhaft erscheint für den Aufbruch einer jungen mitteleuropäischen Autorengeneration.

Vladimir Sorokin
23000
Roman
Berlin Verlag, Berlin 2010, 20 Euro



Ein wenig unklar bleibt, ob man die erschrockenen, auch irritierten Reaktionen der Kritiker auf Vladimir Sorokins neuesten Roman "23000" als Leseempfehlung verstehen muss. Mit dem Roman schließt Sorokin seine ebenso gerühmte wie abgelehnte "Ljod"-Trilogie ab, die von einer obskuren Sekte, der "Bruderschaft des Lichts" erzählt, die Blonden und Blauäugigen die Erlösung, allen anderen aber das Ende der Welt verheißt. Krude, bizarr und abgedreht nennt dies in der FR Judith von Sternburg, der es bei ihrer Lektüre eiskalt den Rücken runterlief, die aber auch einige grundsätzliche Einsichten in die letztendliche Trivialität jeder Ideologien gewann. In der SZ erklärt Jan Füchtjohann Sorokins Mischung aus Trash und Horror, Science Fiction und Pornografie als "Moskauer Konzeptualismus", den er durchaus schätzt, auch wenn er nicht immer ganz schlau daraus werde.

Alice Munro
Tanz der seligen Geister
Erzählungen
Dörlemann Verlag, Zürich 2010, 23,90 Euro



Zuverlässig begeistert nehmen die Kritiker regelmäßig die Erzählungen der Alice Munro auf. Über diesen mit vierzig Jahren Verspätung erschienenen Debüterzählband "Tanz der seligen Geister" jauchzten sie aber geradezu vor Freude. Ein "Wunder" nennt Angela Schader in der NZZ den Band, in dessen Geschichten sie einen mal eiskalten, mal herzzerreißender Ton vernahm. In der FR verglich Sylvia Staude die Geschichten mit Bernsteinen, in denen sie sehr präzise gefasste Seelenzustände und Gewissensmanöver eingeschlossen fand. Und für Ulrich Baron in der SZ zeigt die bittere Geschichte vom "Walker Brothers-Cowboy", der den größten Abstieg bereits hinter sich hat, dass Munro nicht auf die subtile Darstellung von Frauenschicksalen zu reduzieren sei.

Elizabeth Strout
Mit Blick aufs Meer
Roman
Luchterhand Literaturverlag, München 2010, 19,95 Euro



In den USA ist Elizabeth Strout für ihren Roman "Olive Kitteridge" bereits sehr gefeiert und mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet worden. Jetzt ist die von Sabine Roth besorgte deutsche Übersetzung "Mit Blick aufs Meer" erschienen und hat die Kritiker beglückt. Strout erzählt darin in verschiedenen Episoden von der Mathematiklehrerin Olive Kitteridge, die es in ihrer ebenso unsentimentalen wie schroffen Art immer wieder schafft, das beschauliches Provinzstädtchen Crosby in Neu England gegen sich aufzubringen. Sie ist der Held dieser Erzählungen, keine nette Frau, aber in ihrer Unsentimentalität irgendwie einnehmen: "'Ich verhungere auch', sagt Olivia zu ihr. 'Was glauben Sie, warum ich jeden Doughnut in Sichtweite esse?'", zitiert die NYT Olivias Reaktion auf eine anorektische junge Frau. In der Zeit bewundert Eva Menasse, wie packend Strout von den besseren und den böseren Seiten menschlichen Verhaltens erzählt und dabei wenig Abgründe und unglückliche Einsichten ausspart. Nie sentimental, aber immer lebensklug findet Martin Halter in der FAZ das Buch, dem er das Etikett "konservativ im besten Sinne" anheftet.

Bildband

Ralf-P. Seippel (Hrsg.)
Südafrikanische Fotografie
1950-2010
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, 39,80 Euro



Der von Delia Klask herausgegebene Band "Südafrikanische Fotografie" geht auf eine Ausstellung im Willy-Brandt-Haus in Berlin zurück, die etliche der besten Fotografien des Landes versammelte, darunter Arbeiten von Cedric Nunn, Santu Mofokeng, David Goldblatt und Sam Nzima, dessen Bild vom erschossenen Hector Pieterson zum ikonografischen Dokument des Soweto-Aufstands wurde, wie Frank Olbert ausführlich im Kölner Stadtanzeiger erzählt. Doch zu sehen sind auch die alltägliche Unterdrückung im Apartheidstaat, Tristesse und Ödnis. Petra Sternberg spürte beim Betrachten der Bilder vor allem "Sand und Staub und eine unendliche Trockenheit", wie sie in der SZ schreibt, was sie dem Band sehr positiv anrechnet.


Sachbuch

Wojciech Jagielski
Wanderer der Nacht
Eine literarische Reportage
Transit Buchverlag, Berlin 2010, 18,80 Euro



Nicht nur in Amerika gibt es eine Tradition der literarischen Reportage (hier Kevin Kellys wunderbare Liste mit Highlights aus den letzten 50 Jahren, fast alle online), sondern auch in Polen. Wojciech Jagielski, 1960 geboren, ist Reporter der Gazeta Wyborcza und bereist die Krisengebiete dieser Welt, ohne vor den wirklich gefährlichen Gegenden zurückzuscheuen. Die vorliegende Reportage handelt von der Lords Resistance Army des ubuesken Kriegsherren Joseph Kony, der mit grausamsten Mitteln und naturreligiösem Brimborium Kinder für seine Zwecke abrichtet. Rezensent Michael Bitala hält das Buch des polnischen Journalisten in der SZ schlicht für das Beste, was man zur Zeit über die Horrorarmee des ugandischen Psychopathen lesen kann. Mit einiger Distanz erwähnt Bitala allerdings, dass Jagielski einige Fakten fiktional anreichert und verdichtet. Genau dies kann Martin Zähringer in einem Beitrag für das Deutschlandradio allerdings nachvollziehen: Die fiktionalen Figuren machten den Weg in die Hölle für die Leser überhaupt gangbar: "Die Fiktion verknüpft hier die Fakten zu einer nahegehenden und zugleich informativen dokumentarischen Erzählung." Und im ORF wird der Reporter selbst zu dieser Frage zitiert: "Der Job des Journalisten ist nicht, die Wahrheit zu vermitteln. Wahrheit ist eine philosophische Kategorie. Unser Job ist, den Leuten zu erzählen, wie die Welt da draußen aussieht."

Kirsten Heisig
Das Ende der Geduld
Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter
Herder Verlag, Freiburg 2010, 14,95 Euro



Das Buch war als ein Debattenbeitrag geschrieben worden und wird nun als Vermächtnis gelesen. Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig wurde vor einigen Woche erhängt im Wald aufgefunden. Zu Lebzeiten war sie umstritten und wurde von sozialpädagogisch gesonnenen Journalisten in die rechte Ecke gestellt. Das trifft aber nicht zu, meint Rezensent Joachim Käppner in der SZ nach der Lektüre ihres Buchs: Heisig, lernt er, war eine Verfechterin des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht. Aber sie zog auch Grenzen. Und die Tatsache, dass sie einer Ankündigung auch eine schnelle Sanktion folgen ließ, war vor allem ein Protest gegen einen umständlichen und für die Bedürfnisse der Kinder zu langsamen Justizapparat. Was die Jugendrichterin aus dem Problembezirk Neukölln schildere, zeuge von großer Verrohung jugendlicher Straftäter, von anlassloser Gewalt und Überforderung der Eltern sowie der Gesellschaft, meint Christian Denso in der Zeit. Ein ausführliches Porträt Heisigs lässt sich in der ARD-Mediathek nachhören. Und Necla Kelek porträtierte Heisig für Emma.

Olivier Roy
Heilige Einfalt
Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen
Siedler Verlag, München 2010, 22,95 Euro



Olivier Roy will nicht wie Habermas von einer Rückkehr, sondern von einer Mutation des Religiösen sprechen, schreibt Clemens Klünemann in der NZZ, dem das Buch wie allen Rezensenten zu denken gegeben hat im Perlentaucher). Die immer wieder geforderte Trennung von Religion und Staat hält Roy für illusorisch - Religion sei eben mehr als eine "private Schrulle". Das Buch macht für Klünemann deutlich, wie die aktuellen Debatten um Burka und Schleier oder früher Gehorsamsgelübde gegenüber der Katholischen Kirche genuin zu den westlichen Gesellschaften gehören und diese mitgeprägt haben. Roys Beschreibung der Entkoppelung von Religion und Kultur im Prozess der Säkularisierung ist in Klünemanns Augen besonders erhellend. Danach nutzen die Religiösen die Abtrennung von der Kultur, um alle gesellschaftlichen Veränderungen zu ignorieren und sich auf dem Markt der Religionen deutlich sichtbar positionieren zu können. Interessante Informationen liefert das Buch für den taz-Rezensenten Michael Kiefer auch zum Thema christlicher Konvertiten zum Islam.

Rauf Ceylan
Die Prediger des Islam
Imame in Deutschland - wer sie sind, was sie tun, was sie wollen
Herder Verlag, Freiburg 2010, 12,95 Euro



Eine Forderung gegenüber allen, die den Islam kritisieren, heißt es stets, dass man differenzieren solle - eine Position, die allerdings ebenfalls ihre Tücken hat, denn allzu viel Differenzierung kann auch dazu dienen, die Benennung eines Problems zu verhindern. Der Religionswissenschaftler Rauf Ceylan tut in seinem Buch "Die Prediger des Islam" jedenfalls das Richtige: Er spricht mit den Imamen. Über vierzig von ihnen hat er aufgesucht und interviewt. Es ist die erste Feldstudie auf diesem Gebiet in Deutschland, schreibt Thilo Guschas in der taz. Er ist sehr angetan, von dem differenzierten Bild, das Ceylan so zeichnet. In einer Sendung des Deutschlandradios zitiert Ceylan eines der Ergebnisse seiner Studie: 90 Prozent der Imame sind demnach klar gegen den islamischen Extremismus eingestellt, aber 75 Prozent der Imame seien zugleich konservativ eingestellt, "vergleichbar mit konservativ-katholischen Priestern". Aus der Falle des Konservatismus und des türkischen Nationalismus hilft laut Ceylan im Deutschlandradio nur eins: eine Ausbildung der Imame in Deutschland.


Hörbuch

Anton Tschechow
Ein Duell
4 CDs. Gelesen von Ulrich Matthes
Diogenes Verlag, Zürich 2010, 24,90 Euro



Sehr gefällt FAZ-Rezensent Wolfgang Schneider die Hörbuch-Version dieser längsten aller Tschechow-Erzählungen. Gegeneinander stellt der Autor darin einen der für die russische Literatur der Zeit recht typischen "überflüssigen Menschen" und als anders gepolte Figur einen Nietzscheaner. Zwischen den beiden kommt es zum Duell, das aber so ziemlich ausgeht wie das Hornberger Schießen. Ein Roman ist das nicht, der Dramatiker Tschechow bleibt in den langen Dialogpassagen, so Schneider, jederzeit spürbar. Für den Vorleser Ulrich Matthes allerdings sei das natürlich ein gefundenes Fressen. Nicht nur gelinge ihm ein durchgehender "leicht fragender" Ton, sondern er trage das alles mit einer "komödiantischen Verwandlungslust" vor, die das Zuhören zum Genuss macht. Bei 3sat kann man Matthes fünf Minuten lesen sehen und hören.

David Schalko
Weiße Nacht
1 CD. Gelesen von Christian Kracht
Hoanzl, Wien 2010, 17,99 Euro



Schalko ist ein junger Wiener und hat für den ORF verschiedene satirische Fernsehformate entwickelt. In Schalkos erstem Roman "Weiße Nacht" gerät ein junger Mann in den Bann eines politischen Charismatikers - eine Anknüpfung an den "Lebensmenschen" Haider und seine Jünger? Christian Kracht liest dieses Protokoll einer Verführung: Für Alexander Cammann in der Zeit ist daraus eine "psychedelische" Seance geworden, die ihn in Hochstimmung versetzt hat. Das hat für den Kritiker im Wesentlichen mit Krachts "somnambuler" Stimme zu tun, eine Mischung aus Ingeborg Bachmann und Christa Wolf, wie er schreibt.