Efeu - Die Kulturrundschau

In Facettenhäppchen

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06.05.2021. In der Debatte über Rassismusvorwürfe an deutschen Theatern hört Bernd Stegemann (Zeit) nur noch moralische Empörung, keine Argumente mehr. Auch die nachtkritik fragt sich, ob es nun um Inhalte geht, oder nur die nächste Generation schreiender Rechthaber*innen ans Ruder will. Im Van Magazin erzählt die kroatische Komponistin Sara Glojnarić, wie sie ihre eigene internalisierte Misogynie überwinden musste. Die Welt führt durch die Verfilmungen des Lebens von Sophie Scholl, die vor hundert Jahren geboren wurde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2021 finden Sie hier

Bühne

Renata und der feurige Engel. Foto: Bernd Uhlig


"Was ist doch Aušrine Stundyte für eine wunderbare Sängerin!", ruft ein begeisterter Florian Amort in der FAZ, der die Sopranistin als Salome, als Elektra, als Katerina Ismailowa und jetzt als Renata in Sergej Prokofjews "Der feurige Engel" am Theater an der Wien gehört hat. "Im Stream zeigt sie neben schauspielerischer Exzellenz - mal hasserfüllt, wild um sich schlagend und selbstgeißelnd, mal zärtlich und verzehrend - auch mit ihrer durchdringenden, intensiven und dunkel gefärbten Sopranstimme die ganze Ausdruckspalette ihres Könnens. Wie energisch doch bei ihr all die Nuancen der höllisch schweren Partie differenziert ausgearbeitet sind!" Auch die Sänger der Nebenrollen sowie Musik und Orchester sind auf der Höhe, nur die Inszenierung von Andrea Breth gefällt Amort überhaupt nicht: "bleierne Langeweile, szenische Eindimensionalität, abgegriffene Klischees!"

In der Debatte über Rassismusvorwürfe am Schauspielhaus Düsseldorf antwortet Bernd Stegemann in der Zeit auf Peter Kümmel, der ihm dort kürzlich vorgeworfen hatte, er, Stegemann, habe mit seinem ersten Debattenbeitrag in der FAZ (unser Resümee) einen "Textanfall von 'white supremacy'" gehabt. Insgesamt sieht Stegemann die Debatte immer asymmetrischer werden: Statt mit Argumenten wird mit moralischer Empörung geantwortet. Als Beispiel nennt er die Reaktion auf die als fair empfundene Kritik von Mithu Sanyal an seinen Txten (unser Resümee), die manchen jedoch nicht scharf genug war: "Wie unversöhnlich die Reaktionen der deutschen Identitätspolitiker wiederum sind, zeigen exemplarisch die Aussagen, die Ekkehard Knörer, der Mitherausgeber des Merkurs, dazu auf Twitter getätigt hat. Er habe kein Verständnis für die Geduld, die Mithu Sanyal mit mir habe, denn ich hätte einen 'ekelerregenden Text' geschrieben, 'einen echten Stegemann'. Der Merkur war unter der Leitung von Karl Heinz Bohrer ein Leuchtturm intellektuell anspruchsvoller Debatten. Der neue Herausgeber folgt wie viele andere in den sozialen Netzwerken der asymmetrischen Kommunikation. Sie reagieren nicht auf Argumente, sondern schicken die ganze Person in den Orkus."

In den Theatern muss sich einiges ändern, findet nachtkritikerin Esther Slevogt. Aber auch sie ist oft verstört vom Ton der Debatte: "Niemand darf angeschrien oder gemobbt werden. Aber müsste sich dieses wichtige Anliegen nicht auch im Ton der öffentlichen Debatte darüber spiegeln? Müssten nicht die, die sich zurecht dafür einsetzen, dass der oft autoritäre und hierarchische Charakter einer neuen Betriebskultur weicht, nicht schon in der öffentlichen Debatte darin beispielhaft sein? Wie soll ich ihnen sonst glauben? Woher soll ich das Vertrauen nehmen, dass sich wirklich etwas ändern kann? Dass hier nicht bloß die nächste Generation schreiender Rechthaber*innen ans Ruder will. Dass auf ein Klima der Angst dann einfach nur ein neues folgt. Neuer Druck, neue Übergriffigkeit, andere Ausbeutungsverhältnisse - und das Klima weiterhin toxisch bleibt. Für ein nachhaltiges Detox braucht es auch eine andere Debatten- und Auseinandersetzungskultur. Ein Klima der Gnade vielleicht sogar." (Ähnlich sieht das laut Tagesspiegel. der Jazztrompeter Till Brönner, der die Kritik an #allesdichtmachen "menschlich erschreckend" fand.)

Weitere Artikel: Der Theaterintendant steht heute generell unter Verdacht, fürchtet Bernd Noack in der NZZ. Die Beschwerden gegen Maxim-Gorki-Intendantin Shermin Langhoff sind vor dem Schiedsgericht mit einem Vergleich und mit "organisatorischen und Strukturveränderungen" im Gorki Theater gelöst worden, meldet der Tagesspiegel. Im Interview mit Zeit online plädiert Sonja Baltruschat, Diversitätsagentin am Berliner Theater an der Parkaue, für eine Antirassismus- und Antidiskriminierungsklausel in Verträgen mit deutschen Bühnen.

Besprochen werden Johan Simons' Inszenierung von Shakespeares "Richard II." am Wiener Burgtheater (nachtkritik, SZ), Henry Purcells Oper "Dido and Aeneas" im Grand Théâtre de Genève (nmz), Jan Bonnys Inszenierung von Heiner Müllers "Philoktet" am Theater Basel (nachtkritik) und das interaktive Zoomgame "reconstruct:alan-turing" vom Büro für Eskapismus bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Design

Mit Rebekka Endlers "wütenden" Buch "Das Patriarchat der Dinge" denkt Laura Weißmüller in der SZ über die Ungerechtigkeiten von Design nach: Denn die gestaltete Welt - von der Medizin über Klimaanlagen bis zum Auto - ist zum erheblichen Teil für den Durchschnittsmann eingerichtet. "Es ist die klar feministische Perspektive auf das Design und all seine Verästelungen, die diese eklatante Fehlstellung, den blinden Fleck auf dem Skizzenblock der Gestalter zutage fördert. Wobei ja nicht nur Frauen außer Acht gelassen werden, wenn nur ein gesunder, mittelalter weißer Mann als Ausgangspunkt für den Entwurf genommen wird. Alte und Kranke fallen nicht darunter, Menschen mit anderer Hautfarbe und Transgender auch nicht. Schuld an diesem Missstand dürfte nicht zuletzt die Vorstellung eines universellen Designs sein, eines Design, das sich an alle richtet und allen gerecht werden will." Der zwei Meter messende Perlentaucher, der diese Zeilen schreibt, ergänzt in der Fülle normsprengender Partikel noch die oft - und auch hier - übersehene Körpergröße.
Archiv: Design

Literatur

Bei einer Onlineveranstaltung (hier als Facebook-Video) sprachen der Autor Ingo Schulze und der italienische Schriftsteller Stefano Zangrando über Peter Brasch, berichtet Lothar Müller in der SZ. Über Brasch hat Zangrando seinen Roman "Kleiner Bruder" geschrieben - ein Youtube-Zufallsfund hatte ihn auf den ansonsten in Italien völlig unbekannten Brasch aufmerksam gemacht.  Zangrando "wollte keinen Rechercheroman schreiben, der seinen Helden zum Leben erweckt. Er sieht in Peter B. eine Figur, die schon zu Lebzeiten stirbt und verschwindet, baut eine Bühne, auf der die Frauen aus dem Leben von Peter B. so fiktiv wie möglich aussehen und der Tote so tot wie möglich. Während das Zangrando-Ich durch die Schönhauser Allee läuft, tritt der Glöckner Gianluca Cardinale aus Peter B.'s Roman 'schön hausen' auf, der wegen seiner plötzlichen Höhenangst seinen Dienst in einem kleinen Ort in Sizilien nicht mehr versehen kann."

Weitere Artikel: Paul Jandl (NZZ), Jan Süselbeck (taz) und Hubert Spiegel (FAZ) erinnern an den Dichter Erich Fried, der vor 100 Jahren geboren wurde. Außerdem bringt die FAZ aus diesem Anlass eine bislang unveröffentlichte "Selbstauskunft" von Fried aus dem Jahr 1983. In der Dante-Reihe der FAZ denkt Patricia Oster-Stierle über den Schleier der Beatrice nach. Lars von Törne meldet im Tagesspiegel, dass Berlin seine Comicförderung ausweitet. In der Zeit diskutieren Constantin Schreiber und Khola Maryam Hübsch über Schreibers Roman "Die Kandidatin", dem Hübsch vorwirft, es bediene "Ängste vor einer Islamisierung" Deutschlands.

Besprochen werden Michel Decars "Die Kobra von Kreuzberg" (ZeitOnline), Shida Bazyars "Drei Kameradinnen" (Zeit), Hannes Steins "Der Weltreporter" (Dlf Kultur), Gary Andrews' Comic "Finding Joy" (Tagesspiegel), Peter Hamms "Die Welt verdient keinen Weltuntergang" mit Aufsätzen und Kritiken (SZ) und Fang Fangs "Weiches Begräbnis" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Hartmut Welscher spricht für VAN mit Rudolf Lutz über das Vorhaben der J.S. Bach-Stiftung in St. Gallen, innerhalb der nächsten 25 Jahre das gesamte Vokalwerk Bachs aufzuführen (dokumentiert wird das Projekt hier). Dass dabei nicht jedes Werk von vornherein entzückt, liegt fast schon in der Natur der Sache: "Ab und zu gibt es mal eine Da-capo-Arie, bei der ich denke: 'Die könnte jetzt auch mal aufhören, wegen der hätte ich das Projekt jetzt nicht unbedingt starten müssen.' Bei Bach verlangen die Da-capo-Arien einem einiges an Erfindungsreichtum ab. Der Spielraum für Verzierungen oder Veränderungen ist da extrem klein. Gleichzeitig gibt es die vielen Highlights wie die Arie 'Aus Liebe will mein Heiland sterben' aus der Matthäuspassion. Das ist ein magischer Moment, den erreicht auch Bach eher selten. Insgesamt ist es bei seinem Kantatenwerk aber wie beim Himalaya: Die Gipfel sind unterschiedlich hoch, aber immer sehr weit über dem Meeresspiegel."

Hannah Schmidt unterhält sich für VAN mit der kroatischen Komponistin Sara Glojnarić unter anderem darüber, als Frau in Kroatien überhaupt erst den Weg zum Komponieren zu finden und Weiblichkeit in der Musikästhetik zuzulassen und wertzuschätzen: "Internalisierte Misogynie spielte bei mir eine riesengroße Rolle. Zwar war sie mir nicht bewusst, aber unbewusst war sie ständig da. Damals als Jugendliche fand ich beispielsweise die Musik von Dora Pejačević unglaublich schön, hatte aber das Narrativ verinnerlicht, dass ihre Musik zu weich oder gar kitschig sei, all diese Dinge, die man 'weiblich' gelesener Musik zuschreibt. Dabei ist das totaler Quatsch, ihre Musik ist unfassbar gut gemacht. Ich bin mir sicher: Wenn sie keine Kroatin wäre und keine Frau, wäre sie heute so bekannt wie Brahms." Und so klingen Glojnarićs Arbeiten:



Außerdem: Für ZeitOnline spricht Daniel Gerhardt ausführlich mit Andreas Spechtl über das neue Album von Ja, Panik (mehr dazu bereits hier). Merle Krafeld spricht für VAN mit Maik Hoppe über Queerness und Musikhochschulpolitik. Volker Hagedorn lässt sich für seine VAN-Kolumne von einem Viertklässler ins mittelalterliche Florenz versetzen. Thomas Mauch annonciert in der taz den Beginn des "Memories in Music"-Festivals in Berlin. Christian Wildhagen wirft für die NZZ einen Blick ins Programm des Lucerne Festivals. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen befasst sich Arno Lücker mit Florence Price.

Besprochen werden neue Alben von Haftbefehl (taz), Birdy (Tagesspiegel) und Mine (FAZ).
Archiv: Musik

Film

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Hanns-Georg Rodek führt in der Welt durch die Verfilmungen des Lebens von Sophie Scholl, die vor 100 Jahren geboren wurde. Den hauptsächlichen Anlass bietet ihm aber das Instagram-Projekt "Ich bin Sophie Scholl": SWR und BR erzählen hier unter den Bedingungen der Social-Media-Plattform und mit erheblichem Aufwand quasi in Echtzeit die letzten Monate der Widerstandskämpferin, allerdings so, als wäre Scholl, gespielt von Luna Wedler, eine Instagrammerin gewesen. Rodek bleibt allerdings skeptisch: Das freimütige Offenlegen des  Alltags, wie es für die Social-Media-Gegenwart typisch ist, und die NS-Diktatur passen nicht zusammen. "Die lobenswerte Idee, Scholl aus ihrem Alltag zu erklären und ihre von Widersprüchen geprägte Person in Facettenhäppchen zu zeigen, steuert auf einen unauflösbaren Widerspruch zu. Die Serie baut auf die Fiktion, Sophie hätte ihre Gedanken instamäßig veröffentlichen können - und müsste gleichzeitig erklären, dass dies unmöglich gewesen wäre. Das erfordert eine erhebliche Fähigkeit zur Abstraktion."

Besprochen werden Hans H. Königs auf DVD erschienener Heimatfilm "Rosen blühen auf dem Heidegrab", der zu den gängigen Standards des Genres ziemlich quer steht (taz), Walentyn Wassjanowytschs ukrainischer, auf Mubi gezeigter Science-Fiction-Film "Atlantis" (taz), Camilo Restrepos auf Mubi gezeigtes Spielfilmdebüt "Los conductos" (taz), Andrzej Żuławskis letzter, auf Arte gezeigter Film "Cosmos" (Dlf Kultur), Pedro Almodóvars auf DVD erhältlicher Kurzfilm "La Voix Humaine" mit Tilda Swinton (SZ), Neil Burgers auf Amazon gezeigter Science-Fiction-Film "Voyagers" (FAZ) und Chaitanya Tamhanes indisches, auf Netflix gezeigtes Musikdrama "The Disciple" (Presse).
Archiv: Film