Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2024 - Film

Irgendwo hier muss das emanzipatorische Versprechen doch zu finden sein: "La Chimera" von Alice Rohrwacher

In "La Chimera" verfolgt Alice Rohrwacher eine Gruppe toskanischer Grabräuber in den Achtzigern. Perlentaucher Patrick Holzapfel gerät angesichts dieses avanciert taumelnden Films ins Schwärmen: "Die filmische Form, die wechselnden Formate und Stimmungen, all das entspricht der titelgebenden Chimäre, die letztlich auf eine bedrohte Qualität des Kinos verweist, jene der Uneindeutigkeit. Das Leben, so spricht es aus den Bildern Rohrwachers, lässt sich kaum filmen, es ist ein flüchtiges Aufflackern von etwas Nahem oder Fernen, mehr Ahnung als Gewissheit. Das Vage wird so offensiv gesucht, dass es zu einer eigenen Qualität wird. Erstaunlich ist, dass die Filmemacherin einen Hunger nach klassischer Erzählkunst samt Sehnsucht, Liebesflackern, Trauer und Spannung mit einem eher modernen Treiben, ja Verlorengehen in den Sinneseindrücken verwebt." Noch dazu feiert sie "das Filmische in all seiner Varianz: Super 16, 16mm, 35mm, Digitalästhetik, Stummfilmpassagen, Musik, Surrealismus und so weiter". Auch SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier schwebt vielleicht nicht im siebten, aber im cinephilen Himmel: "Man wird hier oft an die Filme von Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini erinnert, an ihre Fülle, ihren Figurenreichtum." Und Simon Stockinger von der Jungle World sucht, mit Theorien von Jacques Rancière im Gepäck, "im traumwandlerischen Fluss des Erzählens selbst ... das emanzipatorische Versprechen" dieses Films. Und Bert Rebhandl weiß nach diesem Film (online nachgereicht) in der FAS: "Das Glück dieser Welt beginnt am Bahnhof von Riparbella."

Woody Allens "'Ein Glücksfall' ist sein bester Film seit Jahren, wenn nicht seit einem Jahrzehnt", liest man heute bei David Steinitz in der SZ und staunt: Das klang bei den Kritikern gestern aber noch anders. Allen kehre "mit dieser Krimisatire aufs Terrain seiner Filme 'Verbrechen und andere Kleinigkeiten' und 'Match Point' zurück. ... Man sieht dem Film an, dass er mit deutlich kleinerem Budget als frühere Allen-Filme gedreht wurde (die auch schon nicht zu den teuersten in Hollywood gezählt haben). Aber man sieht auch, dass Allen selbst mit schmalem Geld mehr aus so einer kleinen Geschichte herausholen kann als andere. ... Und weil seine Lieblingsstadt New York und seine zweite Lieblingsstadt Paris ungefähr gleich schrecklich durchgentrifiziert sind, hat er sowieso Übung darin, anstrengende Großstädte zu romantisieren, die in Wahrheit längst nur noch in der Hand von Investmentbankern und Airbnb sind. Und seine geliebte Jazzmusik - zum Beispiel Herbie Hancocks 'Cantaloupe Island' - funktioniert in Europa genauso gut wie in Amerika." Weitere Besprechungen bei uns, in der FR und im Freitag.



Wohl eher trüb ist offenbar die Anhörung des Kulturausschusses des Bundestags verlaufen, bei der Claudia Roth, Mariette Rissenbeek und die seit wenigen Tagem amtierende neue Festivalleiterin Tricia Tuttle zu "antiisraelischen und antisemitischen Vorfällen bei der Berlinale" (so der Sitzungstitel) Rede und Antwort standen (der ebenso geladene Bürgermeister Kai Wegner ließ sich entschuldigen, Carlo Chatrian hatte auf die Einladung gar nicht erst reagiert). Erwartbar wurden Zuständigkeiten hin und her geschoben und Anekdoten erzählt, berichtet David Steinitz in der SZ: "Rissenbeek zählte im Anschluss auf, wie viele Foren und Panels des (politischen) Austauschs es auf der Berlinale gegeben habe, die komplett störungsfrei geblieben seien. Auch das mag sein. Aber man kann ja auch nicht einen Banküberfall aufklären, indem man alle Bankfilialen auflistet, die nicht überfallen wurden. Rissenbeek und Roth jedenfalls haben anscheinend ihren eigenen Schuldigen in der Sache identifiziert: das ZDF. Der Sender überträgt Eröffnung und Abschluss der Berlinale und bestimmte laut den beiden über Ablauf und Moderation. Da habe man schlecht eingreifen können." Von der Sitzung berichten außerdem Susanne Lenz (BLZ) und Andreas Busche (Tsp).

Weitere Artikel: Silvia Hallensleben resümiert in der taz den Diagonale-Schwerpunkt mit Filmen über die ersten Gastarbeiter in Deutschland und Österreich. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl John Milius zum 80. Geburtstag und damit jenem Kino-Berserker, "den, als es losging mit New Hollywood, die Kenner und Kollegen für den begabtesten Filmautor seiner Generation hielten". Wo bleibt beim aktuellen Biopic-Trend eigentlich das Kant-Biopic, fragt sich Elmar Krekeler in der Welt.

Besprochen werden Sam Taylor-Johnsons Biopic "Back to Black" über Amy Winehouse (FR, BLZ, FAZ, NZZ, Standard), Michael Kliers "Zwischen uns der Fluss" (online nachgereicht von der FAS), Marc Forsters "White Bird" (Tsp) und die Apple-Serie "Franklin" (FAZ). Das SZ-Team informiert außerdem, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick mit den Kritiken des Filmdiensts zur laufenden Woche.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2024 - Film

Wirkt wie im Museum und wurde zum Teil auch in einem solchen gedreht: "Ein Glücksfall" von Woody Allen

Woody Allen hat auch schon lange kein Meisterwerk mehr gedreht - und ob der 88-Jährige noch eines in sich trägt, daran haben die Filmkritiker erhebliche Zweifel. Auf seinen neuen, diesmal in Paris gedrehten Film "Ein Glücksfall" reagieren sie jedenfalls gelangweilt: "Schon in den Anfangsszenen" merkt FAZler Andreas Kilb, dass diese Story über zwei junge Erwachsene, die sich lange nach der Schulzeit zufällig auf der Straße treffen und sich prompt ineinander verlieben, "nicht von einem Franzosen stammt". Zwar inszeniert Allen routiniert, doch "die handwerkliche Perfektion dreht im leeren Raum. Der Regisseur, der kein Französisch kann, habe den Schauspielern die größtmögliche Freiheit bei den Dialogen gelassen, heißt es. Das sieht man, denn sie sprechen ihre Sätze nicht zueinander, sondern vor sich hin, und wenn sie etwas Wichtiges zu sagen haben, blicken sie in den Himmel über der Kamera, als hingen dort die Scheinwerfer eines alten Hollywoodfilms. Die Ausstattung tut ein Übriges: Sie ist so pariserisch wie ein Dekorationsentwurf für ein Museum."

"Allens Leidenschaft für das Filmemachen ist erloschen", seufzt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Die Paris-Bilder von Kameramann Vittorio Storaro sind flach und fernsehtauglich ausgeleuchtet, die Einblicke in die Gepflogenheiten der Pariser Oberschicht, die ihre Wochenenden mit Jagdausflügen verbringt, lassen Allens scharfe Beobachtungsgabe vermissen. Und alle Überlegungen über die unvorhersehbaren Wege des Schicksals, die die Figuren anstellen, bleiben eine merkwürdige Behauptung in einem Film, dessen Geschichte dermaßen konstruiert ist." Immerhin sieht Busche Melvil Poupaud und Lou de Laâge gerne bei ihrem Spiel zu und Kira Taszman vom Filmdienst hat etwas Freude am "soliden Drehbuch", das diesem "kurzweiligen Thriller" zu Grunde liegt. Die NZZ hat mit Allen gesprochen.

Weitere Artikel: Esther Buss resümiert in der Jungle World den diesjährigen Diagonale-Schwerpunkt mit Filmen über die ersten Gastarbeiter-Generationen in Deutschland und Österreich. Carola Schwarz spricht für die taz mit der Schauspielerin Jella Haase, die aktuell mit "Chantal im Märchenland" (unsere Kritik) im Kino zu sehen ist. Andreas Hergeth wirft für die taz einen Blick aufs Programm des Filmfestivals Achtung Berlin. Nils Minkmar erinnert in der SZ an Wolfgang Menge, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Ali Asgaris und Alireza Khatamis Episodenfilm "Irdische Verse" über die iranische Diktatur (taz, FD), Alice Rohrwachers "La chimera" (taz, FD), Ryusuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist" (NZZ), Soleen Yusefs "Sieger sein" über Fußball spielende Mädchen im Berliner Wedding (SZ, FD), Sam Taylor-Johnsons Biopic "Back to Black" über Amy Winehouse (TA, FD) und die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2024 - Film

Irrt durch das Museum der Dinge: "Ripley" (Netflix)

Welt-Kritiker Elmar Krekeler dankt Steven Zaillian auf den Knien für dessen für Netflix entstandene Highsmith-Adaption des "talentierten Mr. Ripley" - und vor allem für dessen Entscheidung, den Stoff in Schwarzweiß zu drehen. Die achtteilige Miniserie sieht für Krekeler damit aus "wie ein Anti-'Barbie'-Manifest. Wie ein Echo des Neorealismo. ... Zaillian spannt ein optisches Metaphernnetz, das so dicht ist wie das literarische von Patricia Highsmith. Tom, der Aufsteiger, wird ständig Treppen hinauf geschickt. Süditalien sah nie so morbid aus. ... Man kriegt gar nicht genug von den Bildern, den Treppen in dieser Aufsteigergeschichte, den Skulpturen, die ständig in Nirgendwo zeigen, von den Brunnen, dem Meer, den Schleiern über dem Horizont. Und von dem Tempo. Und von der Musik. Und dem ganzen Museum der Dinge, in das Zaillian einen taucht." Für den Freitag bespricht Thomas Abeltshauser die Serie. Für 54books wirft Wieland Schwanebeck einen Blick auf die Geschichte von "Ripley"-Verfilmungen.

Weitere Artikel: Valerie Dirk resümiert im Standard den ersten Diagnole-Jahrgang unter dem neuen Leitungsduo Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh. Nachrufe auf den Schauspieler Peter Sodann schreiben Irmtraud Gutschke (Freitag) und Holger Gertz (SZ, online gestellt vom Tagesanzeiger). In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Dennis Quaid zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Dev Patels "Monkey Man" (Tazler Michael Meyns sah ein "im besten Sinne globalisiertes Actionepos"), Michael Mohans Nonnen-Horrorfilm "Immaculate" (FAZ), Sam Taylor-Johnsons Amy-Winehouse-Biopic "Back to Black", das SZ-Kritikerin Johanna Adorján einfach nur schlecht findet, die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (Welt) und Ian Penmans Buch über Rainer Werner Fassbinder (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2024 - Film

Urs Bühler spricht für die NZZ mit der aus dem Senegal stammenden, französischen Filmemacherin Alice Diop, die den migrantischen Positionen in Frankreich eine Stimme verleiht. "'Ich komme aus einer gesellschaftlichen Klasse, die sehr wenig gesehen wird. Diese Leute werden kaum je gefilmt, gelten als uninteressant. Ihre Geschichten sind solche des täglichen Überlebens, aber nicht heroisch. Um diese zu erzählen, bin ich Filmemacherin geworden.' ...  Der französische Staat sei blind für diese Schichtung und Vielfalt der Erinnerungen, klagt Diop. Denn der republikanische Mythos der Brüderschaft des Volks, einer universellen Gesellschaft, die für alle gut sei, basiere auf dem Ideal einer kulturellen Homogenität. Und dieses bremse eine Weiterentwicklung aus. Also brauche es frische Wege der Narration, das Kino sei einer davon, und in Frankreich wachse so etwas wie eine neue Nouvelle Vague heran: 'Vor allem im Dokumentarfilm halten neue Perspektiven Einzug, mit Blick auch in die Peripherie.'"

Weitere Artikel: Marie Serah Ebcinoglu verneigt sich in der FAS (online nachgereicht) vor Larry David und dessen Serie "Curb Your Enthusiasm", die nun nach 24 Jahren, bzw zwölf Staffeln zu Ende geht. Valerie Eiseler plaudert für die FR mit dem Schauspieler Dev Patel, der aktuell in "Monkey Man" im Kino zu sehen ist. In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser eine der Schauspielerin Ruth Leuwerik gewidmete Retrospektive im Zeughauskino. Nachrufe auf den Schauspieler Peter Sodann schreiben Gregor Dotzauer (Tsp), Michael Bartsch (taz), Stefan Locke (FAZ) und Torsten Wahl (BLZ).

Besprochen werden eine restaurierte Fassung von Satoshi Kons Anime-Klassiker "Paprika" von 2006 (FD) und Matteo Garrones "Io Capitano" (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2024 - Film

Wehe, wenn er losgelassen: Lars Eidinger ist "der Panther" in "Zeit Verbrechen" (Paramount)

Auf der Berlinale wurden die von Paramount produzierten vier Folgen "Zeit Verbrechen" (nach Episoden des gleichnamigen Podcasts) noch stolz präsentiert, aber schon während des Festivals kündigte der Streamingdienst an, die Serie nicht online zu stellen, weil man sich generell aus dem deutschen Produktionsmarkt zurückziehen will. Lizenziert nun die ARD die Produktion? Daran hat Dietrich Leder im Filmdienst erhebliche Zweifel, denn alleine Jan Bonnys Beitrag "Der Panther" entwickelt eine "Radikalität, wie sie im Krimi-Angebot der öffentlich-rechtlichen Sender selten zu erleben ist." Lars Eidinger spielt darin einen Ganoven, der von der Polizei als Informant angeheuert wird, und dies "mit einer unbändigen Energie und einer enormen physischen Präsenz. Man hat fast den Eindruck, dass ihm die höchst bewegliche Kamera von Jakob Berger kaum folgen kann, wenn er durch die Spielsalons, Kneipen und Bordelle läuft und mit dem Motorrad über die Autobahn rast. ... Ein Trost, der sich im traditionellen Fernsehkrimi aus der Aufklärung krimineller Handlungen ergibt, wird hier radikal verweigert. Selbst der Verrat des Polizeiapparats an dem, der die Verbrechen als eingeschmuggelter Krimineller aufklären soll, liefert für die Zuschauer keinen moralischen Mehrwert."

Weitere Artikel: Wolfgang Lasinger resümiert für Artechock das Filmfestival Cinélatino in Toulouse. Dessen Schwerpunkt zum mexikanischen Horrorfilm der Fünfzigerjahre widmet sich Lasingers Artechock-Kollegin Dunja Bialas. Hanns-Georg Rodek streift für die WamS mit der Filmemacherin Soleen Yusef durch den Berliner Wedding. Für die WamS plaudert Jakob Hayner mit Josef Hader, dessen neuer Film "Andrea lässt sich scheiden" (unsere Kritik) aktuell im Kino läuft. Standard-Kritikerin Valerie Dirk stellt hier der Avantgardefilmerin Lisl Ponger und dort dem Filmemacher Christoph Hochhäusler je drei Fragen. Stefan Weiss schlendert für den Standard durch das Arnold-Schwarzenegger-Museum im österreichischen Thal. Leo Geisler widmet sich in seiner Filmdienst-Serie zum Heist-Movie John Hustons Klassiker "Asphaltdschungel". In der Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an seine Begegnung mit Alain Delon. Im Tagesspiegel gratuliert Nadine Lange der Filmemacherin Monika Treut zum 70. Geburtstag. Ebenfalls 70 Jahre alt wird Jackie Chan, dem Maria Wiesner in der FAZ gratuliert.

Besprochen werden Paola Cortellesis "Morgen ist auch noch ein Tag" (taz, unsere Kritik), Balojis "Omen" (Tsp), Adam Wingards Monster-Sause "Godzilla x Kong: New Empire" (taz, FAZ, Standard) und Steven Zaillians Netflix-Neuverfilmung von Patricia Highsmiths "Der talentierte Mr. Ripley" (Presse).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2024 - Film

Jörg Tazsman analysiert für den Filmdienst den aktuellen italienischen Kinoboom. Dieser zeigt sich etwa darin, dass Paola Cortellesis am italienischen Neorealismus angelehntes Drama "Morgen ist auch noch ein Tag" (unsere Kritik) in Italien selbst Blockbuster wie "Oppenheimer" und "Barbie" an den Kinokassen überholte und dass Eigenproduktionen im letzten Jahr einen Marktanteil von 26 Prozent hatten. Interessanterweise trägt dies insbesondere auch der Autorenfilm. Dieser "wiedergefundene Erfolg ... ist dabei Teil eines in Europa derzeit einmaligen Booms des gehobenen Arthouse-Kinos. Viele Filme gestandener Regisseure laufen deutlich besser als in Deutschland. Dafür gibt es Gründe. Zuallererst wird viel mehr Plakatwerbung gemacht. Ganz Rom war Anfang Januar mit Werbung für den neuen Hayao-Miyazaki-Film 'Der Junge und der Reiher' (unsere Kritik) übersät, der dann auch prompt zwei Wochen lang auf Platz eins der Kinocharts stand. Bevor Wim Wenders' 'Perfect Days' (unsere Kritik) startete, zeigten einige Kinos in Rom wochenlang fast alle früheren Filme von Wenders. Generell wird in Italien - wie auch in Frankreich - viel auf Previews gesetzt, so dass sich Filme schon vor dem Kinostart besser herumsprechen."

Außerdem: Jakob Thaller wirft für den Standard einen Blick auf die jungen Stimmen im Programm der Wiener Diagonale, auf die sich Rüdiger Suchsland von Artechock schon ziemlich freut. Nachrufe auf die Schauspielerin Vera Tschechowa schreiben Daniel Kothenschulte (FR), Andreas Kilb (FAZ) und Fritz Göttler (SZ).

Besprochen werden Josef Haders Tragikomödie "Andrea lässt sich scheiden" (SZ, Artechock, unsere Kritik), Paola Cortellesis "Morgen ist auch noch ein Tag" (Welt, Artechock, unsere Kritik), Matteo Garrones "Ich Capitano" (Artechock, mehr dazu hier), Dev Patels "Monkey Man" (Standard), das ARD-Porträt "Außer Dienst? Die Gerhard Schröder Story" (taz, NZZ), Marvin Krens für Netflix gedrehte, deutsche Gangster-Serie "Crooks" (Presse, FAZ) und die Apple-Serie "John Sugar" mit Colin Farrell (FAZ, TA).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2024 - Film

Häusliche Gewalt als Alltag: "Morgen ist auch noch ein Tag"

Das italienische Gegenwartskino macht in dieser Woche mit gleich zwei deutschen Kinostarts auf sich aufmerksam. Deutlich besser besprochen wird "Morgen ist auch noch ein Tag" der Schauspielerin Paola Cortellesi, die damit auch ihr Regiedebüt gibt (unser erstes Resümee). Der beim italienischen Publikum beeindruckend erfolgreiche, in Schwarzweiß gehaltene Film erzählt vom von Gewalt geprägten Alltag der italienischen Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wer da erstmal an den italienischen Neorealismus denkt, befindet sich nicht per se auf der falschen Spur, meint Perlentaucher Jochen Werner. Doch wirken die farbentsättigten Bilder "fast ein wenig wie ein höhnischer Kommentar auf jedwede Form von Klassizismus oder Kintopp-Nostalgie, denn so wirklich retro sieht das harte, kontrastreiche Digitalschwarzweiß nicht aus. Eher sieht es nach dem aus, was es am Ende auch ist: ein sehr kontemporärer Film, der sich die Vergangenheit wie eine Camouflage überzieht, ohne jede Verklärung und ohne in dieser Historisierung ganz aufzugehen. So wie er sich in der einen Gewaltszene, die wir in brutaler Deutlichkeit vor Augen geführt bekommen - die meisten der alltäglichen Übergriffe finden im Off statt, wir verlassen den Tatort ebenso wie die Kinder, die angesichts von Ivanos unbarmherzig drohendem Blick genau wissen, was ihrer Mutter bevorsteht - des Tanzes als Stilmittel bedient."

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte staunt darüber, wie "leichthändig Cortellesi das Dramatische und Komödiantische ineinandergreifen lässt", ohne sich zu scheuen, "dem Realismus mit Irrealem zu begegnen". Einen Gang ins Filmmuseum stellt dieser Film, anders als andere nostalgische Anverwandlungen filmhistorischer Stilistiken, allerdings nicht dar, beteuert er: "Eher schon lässt sich diese überzeugende Zeitreise mit dem Experiment von Todd Haynes' unechtem Douglas-Sirk-Film 'Dem Himmel so fern' vergleichen. So wie dieser im Stil des alten Hollywoods eine queere Subgeschichte an die Oberfläche spiegelte, verhilft Paola Cortellesi dem unterschwelligen Feminismus der Zeit zu einer Stimme. Sie verstärkt gewissermaßen, was Silvana Mangano, Anna Magnani, Sophia Loren oder Giulietta Masina, die Diven der großen Zeit des italienischen Kinos, nur andeuten konnten."

Eine Flucht als Abenteuerspektakel? "Ich Capitano"

Bei Matteo Garrones in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnetem "Ich Capitano" über eine Flucht aus Dakar über Nordafrika und das Mittelmeer bis nach Italien bekommt tazler Fabian Tietke spätestens am Ende, wenn Italien als Retter in der Not erscheint, Bauchschmerzen - allen peniblen Recherchen über Fluchtbedingungen, die dem Film zugrunde liegen, zum Trotz. "Angesichts der Realität, in der die aktuelle italienische Regierung Seenotrettung im Mittelmeer immer schwieriger macht und noch mehr Tote in Kauf nimmt, ist dieses Ende entweder Fiktion, die künstlich ein Happy End herbeiführt, oder stammt aus einer anderen Zeit, aus einer Zeit vor Meloni." So hat "Garrone leider nur einen durchaus guten Film gedreht, der deskriptiv und moralisch empört, den Mechanismus innerafrikanischer Ausbeutung von Migrant_innen zeigt, aber zum europäischen Friedhof im Mittelmeer schweigt."

Jens Balkenborg erinnert in der FAZ an die Diskussionen, die um den Film nach dem Festival in Venedig geführt wurden: "Ist es angemessen, ein Geflüchtetendrama mit spektakulären Bildern als Abenteuerfilm zu erzählen? Einige Kritiker warfen Garrone vor, sein Thema durch eine an Werbeclips erinnernde Ästhetik ad absurdum zu führen." Zu Recht erhielt aber Seydou Sarr den Marcello-Mastroianni-Preis als bester Nachwuchsdarsteller: "Den Körpern und Gesichtern von Sarr und Mustapha Fall schreiben sich die inhumanen Verhältnisse auf ihrem Trip ein, mit dem ein von Schrecken getriebenes Coming of Age einhergeht."

Weitere Artikel: Für die SZ plaudert David Steinitz mit Josef Hader, der diese Woche seine neue, in der FR, im Filmdienst und bei uns besprochene Tragikomödie "Andrea lässt sich scheiden" in die Kinos bringt. Im Standard sprechen Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh als neues Leitungsduo der Wiener Diagonale über den ersten von ihnen verantworteten Jahrgang. Das Diagonale-Programm "Die erste Schicht" über die erste Gastarbeiter-Generation in Deutschland und Österreich trifft derweil das rege Interesse von Standard-Kritiker Bert Rebhandl. Lukas Foerster legt in der Presse dem Wiener Kinopublikum derweil eine Reihe des Österreichischen Filmmuseums mit dokumentarischen Langzeitbeobachtungen ans Herz. Für das ZEITmagazin hat Oliver Polak Woody Allen in New York besucht.  Außerdem wie jedes Jahr heillos verspätet, aber umso lesens- und durchstöbernswerter: der Jahresrückblick 2023 des Filmblogs Eskalierende Träume, darunter auch Notizen einiger Perlentaucher-Kritiker.

Besprochen werden Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Union - die besten aller Tage" über Berliner Fußballfans (Freitag, Welt, FD), die DVD-Neuausgabe von Julián Hernández' "Ich bin das Glück dieser Erde" (taz), Marvin Krens deutsche Netflix-Gangster-Serie "Crooks" mit Frederik Lau (FAZ) und die auf Disney gezeigte Animationsserie "X-Men '97" (FAZ). Außerdem informiert das SZ-Filmteam, welche Kinostarts in dieser Woche von Interesse sind und welche nicht. Hier außerdem der Überblick mit allen Filmdienst-Kritiken zur aktuellen Kinowoche.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2024 - Film

Christopher Nolans "Oppenheimer" ist nach langem Hin und Her auch in Japan angelaufen, wenn auch mit moderatem Ausspiel. Das Publikum reagiert eher verhalten bis skeptisch, berichtet Thomas Hahn in der SZ, was bei einem Film über die amerikanische Perspektive auf die Entwicklung der Atombombe auch nicht erstaunt: "Wenn Japan sich an die Atombomben erinnert, geht es in erster Linie um das Leid und den Tod unschuldiger Landsleute, um Japan als Opfer. Es geht kaum um die komplexe Vorgeschichte der Abwürfe im Zweiten Weltkrieg, schon gar nicht um Japans Kriegsschuld und die hartnäckige Weigerung des damaligen Kaiserreichs, nach schweren Verlusten vor der amerikanischen Übermacht zu kapitulieren. Das liegt einerseits sicher daran, dass die Atombomben-Angriffe der USA die wohl grausamsten Attacken der gesamten Kriegsgeschichte sind. Andererseits liegt es am Einfluss der nationalistischen Kräfte, die traditionell stark sind in Japans Regierung und das alte Kaiserreich trotz seiner Kriegsverbrechen bis heute verklären. ... Ein Lob der Atombombe ist 'Oppenheimer' nicht. Aber man kann nachvollziehen, dass manche Momente im Film für Japaner belastend sind."

Weitere Artikel: Völlig unverständlich findet es Thomas Schuler in der taz nach einer Kino-Aufführung von Nina Gladitz' Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit", den Leni Riefenstahl einst erfolgreich in dem Giftschrank geklagt hatte (hier dazu mehr), dass der WDR als damals produzierender Sender den Film nicht wenigstens in seiner Mediathek ausspielen will. Nane Pleger erzählt auf Zeit Online, wie sie gemeinsam mit ihrer Großmutter Carl Balhaus' 1958 von der DEFA produzierten "Nur eine Frau" wieder auf die Kino-Leinwand bringt und damit vor allem älteren Frauen eine große Freude bereitete. Valerie Dirk blickt für den Standard aufs Programm der diesjährigen Diagonale. Marion Löhndorf (NZZ), Jakob Thaller (Standard) und Marc Hairapetian (FR) würdigen Marlon Brando, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Matteo Garrones Fluchtdrama "Ich Capitano" (Tsp, Welt, FAShier unser Resümee vom Filmfestival Venedig), Balojis "Omen" (taz), Michael Mohans den italienischen Nunsploitatation-Filmen der Siebziger nachempfundene Kloster-Horrorfilm "Immaculate" (Standard) und Neo Soras Konzertfilm "Opus", mit dem sich der 2023 verstorbene Komponist und Musiker Ryuichi Sakamoto von seinem Publikum verabschiedet (Welt, mehr dazu bereits hier).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2024 - Film

Die Schauspielerin und Regisseurin Paola Cortellesi in ihrem Film "Morgen ist auch noch ein Tag"

Bert Rebhandl spricht für den Standard mit der Schauspielerin Paola Cortellesi, die nun mit "Morgen ist auch noch ein Tag" ihr Regiedebüt vorgelegt hat. Der Film erzählt von Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien und war dort im letzten Jahr ein absoluter Publikumserfolg. "Man versteht auch sofort, warum: Politik aus der Perspektive von Frauen, das ist immer noch eine Marktlücke, und selten sieht man das Patriarchat und erste Schritte zur Befreiung daraus so prägnant in eine Erzählung übersetzt wie hier. ... 'Ich wollte einen Film über Frauenrechte erzählen', legt Paola Cortellesi ihre Motivation dar, 'und gehe dabei von toxischen Dynamiken in einer Paarbeziehung aus. Im Jahr 1946 durften Frauen in Italien zum ersten Mal wählen, das wird für Delia zu einem wichtigen Anstoß.' Das Jahr 1946 war auch für das italienische Kino entscheidend. Damals begann die Bewegung des Neorealismus: Den Klassiker 'Paisà' von Roberto Rossellini zitiert Cortellesi ausdrücklich, und auch die Figur von Delia hat viel mit Frauengestalten zu tun, wie sie von Anna Magnani während des Aufbruchs nach Krieg und Faschismus verkörpert wurden." Am kommenden Donnerstag läuft der Film auch bei uns im Kino an.

Ziemlich begeistert ist NZZ-Kritiker Daniel Haas von David Schalkos und Daniel Kehlmanns "Kafka"-Miniserie in der ARD-Mediathek: Den beiden "ist nicht weniger als eine Gegentheologie zu den bewährten Dogmen der Kafka-Verklärung gelungen. ... Das empiristische Bedürfnis, Kafka darzustellen, wird demontiert durch die Weigerung, diesen Autor und sein Werk festzulegen und zu beherrschen. So halten sich Rekonstruktion und Dekonstruktion in virtuoser Weise die Waage. Als Ganzes betrachtet, eröffnet diese Serie einen Raum, in dem sich das dichterische Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstsetzung bewegt. Die pathetische Inszenierung künstlerischen Schöpfertums bleibt aus. Es geht hier nicht um die romantische Wiedergabe eines Dichterlebens, sondern um die Suggestion von Kreativität. Kehlmann, Schalko und ihr Berater, der Kafka-Biograf Reiner Stach, sind selber Collagierer des Textmaterials, das ihnen die literarische Tradition zugespielt hat."

Weitere Artikel: In der NZZ empfiehlt Patrick Holzapfel eine Reihe mit den Filmen von Ousmane Sembène im Filmpodium Zürich. Im Standard legt Patricia Kornfeld dem Wiener Publikum die Aufführung von Maria Lassnigs experimentellen Animationsfilmen im Künstlerhaus ans Herz. Kira Kramer erinnert in der FAZ an René Lalouxs und Moebius' psychedelischen SF-Animationsfilm "Herrscher der Zeit" von 1982. Maria Wiesner schreibt in der FAZ zum Tod des Schauspielers Louis Gossett Jr.

Besprochen werden Bora Dagtekins "Chantal im Märchenland" (SZ, unsere Kritik), Julia Gutwenigers und Florian Koflers Dokumentarfilm "Vista Mare" (Standard) und die auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Serie "3 Body Problem" nach dem gleichnamigen chinesischen SF-Epos von Cixin Liu (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2024 - Film

Auf der Medienseite der SZ ärgert sich Aurelie von Blazekovic, dass der WDR Nina Gladitz' in den frühen Achtzigern von Leni Riefenstahl erfolgreich in den Giftschrank geklagten Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" (mehr dazu hier) allenfalls für Festivals freigibt, aber nicht im linearen Programm oder wenigstens in der Mediathek zeigen will. Dabei ist der Film einerseits inhaltlich historisch längst bestätigt und das vom Riefenstahl erlassene Unterlassungsurteil seit 2017 verjährt. Der Sender macht Einwände bezüglich der Standards für diese Entscheidung geltend: "Der Sender bemängelt, dass keine Historiker zu Wort kommen, außerdem den technischen Standard mit wackelnden Texttafeln, das zeittypische Bildformat 4:3. Ohne Gerhard Beckmanns offenen Brief wäre der Film noch heute unter Verschluss. Man habe das Schreiben zum Anlass genommen, erklärt eine WDR-Sprecherin, den Film und die archivierten Akten erneut zu sichten. 'Nach Abschluss der Prüfung sehen wir die Bedeutung des Films für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ausgrenzung und Ermordung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus.' Ein Fachpublikum könne man dem Film mit Einordnung aussetzen. Den Fernsehzuschauer? Nein. 'Einige Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Anstalten meinen sehr genau zu wissen, was das Publikum will und was nicht und was sie ihnen zumuten können', sagt Sabine Rollberg, die heute als Professorin für Film und Fernsehen in Freiburg lehrt und beim WDR in Rente ist. Nun ja, auf Youtube kursiert immerhin das Digitalisat einer VHS-Aufnahme der Erstausstrahlung:



Weiteres: Für einen Filmdienst-Longread durchstreift Patrick Holzapfel die Filmografie von Marlon Brando, der am kommenden 3. April 100 Jahre alt geworden wäre. Thomas Klein denkt im Filmdienst anhand von Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" über das Heroische im Kino nach. Besprochen werden Jessica Hausners "Club Zero" (Welt, unsere Kritik), ein auf AppleTV+ gezeigter Porträtfilm über Steve Martin (Zeit Online) und die RTL-Serie "Disko 76" (FAZ).