In "La Chimera" verfolgt AliceRohrwacher eine Gruppe toskanischer Grabräuber in den Achtzigern. Perlentaucher Patrick Holzapfel gerät angesichts dieses avanciert taumelnden Films ins Schwärmen: "Die filmische Form, die wechselnden Formate und Stimmungen, all das entspricht der titelgebenden Chimäre, die letztlich auf eine bedrohteQualitätdesKinos verweist, jene der Uneindeutigkeit. Das Leben, so spricht es aus den Bildern Rohrwachers, lässt sich kaum filmen, es ist ein flüchtiges Aufflackern von etwas Nahem oder Fernen, mehr Ahnung als Gewissheit. Das Vage wird so offensiv gesucht, dass es zu einer eigenen Qualität wird. Erstaunlich ist, dass die Filmemacherin einen Hunger nach klassischer Erzählkunst samt Sehnsucht, Liebesflackern, Trauer und Spannung mit einem eher modernen Treiben, ja Verlorengehen in den Sinneseindrücken verwebt." Noch dazu feiert sie "das Filmische in all seiner Varianz: Super 16, 16mm, 35mm, Digitalästhetik, Stummfilmpassagen, Musik, Surrealismus und so weiter". Auch SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier schwebt vielleicht nicht im siebten, aber im cinephilen Himmel: "Man wird hier oft an die Filme von Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini erinnert, an ihre Fülle, ihren Figurenreichtum." Und Simon Stockinger von der Jungle Worldsucht, mit Theorien von JacquesRancière im Gepäck, "im traumwandlerischen Fluss des Erzählens selbst ... das emanzipatorischeVersprechen" dieses Films. Und Bert Rebhandl weiß nach diesem Film (online nachgereicht) in der FAS: "Das Glück dieser Welt beginnt am Bahnhof von Riparbella."
WoodyAllens "'Ein Glücksfall' ist sein bester Film seit Jahren, wenn nicht seit einem Jahrzehnt", liest man heute bei David Steinitz in der SZ und staunt: Das klang bei den Kritikern gestern aber noch anders. Allen kehre "mit dieser Krimisatire aufs Terrain seiner Filme 'Verbrechen und andere Kleinigkeiten' und 'Match Point' zurück. ... Man sieht dem Film an, dass er mit deutlich kleinerem Budget als frühere Allen-Filme gedreht wurde (die auch schon nicht zu den teuersten in Hollywood gezählt haben). Aber man sieht auch, dass Allen selbst mit schmalem Geld mehr aus so einer kleinen Geschichte herausholen kann als andere. ... Und weil seine Lieblingsstadt New York und seine zweite Lieblingsstadt Paris ungefähr gleich schrecklichdurchgentrifiziert sind, hat er sowieso Übung darin, anstrengende Großstädte zu romantisieren, die in Wahrheit längst nur noch in der Hand von Investmentbankern und Airbnb sind. Und seine geliebte Jazzmusik - zum Beispiel HerbieHancocks 'Cantaloupe Island' - funktioniert in Europa genauso gut wie in Amerika." Weitere Besprechungen bei uns, in der FR und im Freitag.
Wohl eher trüb ist offenbar die Anhörung des Kulturausschusses des Bundestags verlaufen, bei der ClaudiaRoth, MarietteRissenbeek und die seit wenigen Tagem amtierende neue Festivalleiterin TriciaTuttle zu "antiisraelischen und antisemitischen Vorfällen bei der Berlinale" (so der Sitzungstitel) Rede und Antwort standen (der ebenso geladene Bürgermeister Kai Wegner ließ sich entschuldigen, Carlo Chatrian hatte auf die Einladung gar nicht erst reagiert). Erwartbar wurden Zuständigkeiten hin und her geschoben und Anekdoten erzählt, berichtet David Steinitz in der SZ: "Rissenbeek zählte im Anschluss auf, wie viele Foren und Panels des (politischen) Austauschs es auf der Berlinale gegeben habe, die komplett störungsfrei geblieben seien. Auch das mag sein. Aber man kann ja auch nicht einen Banküberfall aufklären, indem man alle Bankfilialen auflistet, die nicht überfallen wurden. Rissenbeek und Roth jedenfalls haben anscheinend ihren eigenen Schuldigen in der Sache identifiziert: das ZDF. Der Sender überträgt Eröffnung und Abschluss der Berlinale und bestimmte laut den beiden über Ablauf und Moderation. Da habe man schlecht eingreifen können." Von der Sitzung berichten außerdem Susanne Lenz (BLZ) und Andreas Busche (Tsp).
Weitere Artikel: Silvia Hallensleben resümiert in der taz den Diagonale-Schwerpunkt mit Filmen über die ersten Gastarbeiter in Deutschland und Österreich. In der FAZgratuliert Claudius Seidl JohnMilius zum 80. Geburtstag und damit jenem Kino-Berserker, "den, als es losging mit New Hollywood, die Kenner und Kollegen für den begabtesten Filmautor seiner Generation hielten". Wo bleibt beim aktuellen Biopic-Trend eigentlich das Kant-Biopic, fragt sich Elmar Krekeler in der Welt.
Besprochen werden SamTaylor-Johnsons Biopic "Back to Black" über Amy Winehouse (FR, BLZ, FAZ, NZZ, Standard), MichaelKliers "Zwischen uns der Fluss" (online nachgereicht von der FAS), MarcForsters "White Bird" (Tsp) und die Apple-Serie "Franklin" (FAZ). Das SZ-Team informiert außerdem, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick mit den Kritiken des Filmdiensts zur laufenden Woche.
WoodyAllen hat auch schon lange kein Meisterwerk mehr gedreht - und ob der 88-Jährige noch eines in sich trägt, daran haben die Filmkritiker erhebliche Zweifel. Auf seinen neuen, diesmal in Paris gedrehten Film "Ein Glücksfall" reagieren sie jedenfalls gelangweilt: "Schon in den Anfangsszenen" merktFAZler Andreas Kilb, dass diese Story über zwei junge Erwachsene, die sich lange nach der Schulzeit zufällig auf der Straße treffen und sich prompt ineinander verlieben, "nicht von einem Franzosen stammt". Zwar inszeniert Allen routiniert, doch "die handwerkliche Perfektion dreht im leeren Raum. Der Regisseur, der kein Französisch kann, habe den Schauspielern die größtmöglicheFreiheit bei den Dialogen gelassen, heißt es. Das sieht man, denn sie sprechen ihre Sätze nicht zueinander, sondern vor sich hin, und wenn sie etwas Wichtiges zu sagen haben, blicken sie in den Himmel über der Kamera, als hingen dort die Scheinwerfer eines alten Hollywoodfilms. Die Ausstattung tut ein Übriges: Sie ist so pariserisch wie ein Dekorationsentwurf für ein Museum."
"Allens Leidenschaft für das Filmemachen ist erloschen", seufzt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Die Paris-Bilder von Kameramann Vittorio Storaro sind flach und fernsehtauglich ausgeleuchtet, die Einblicke in die Gepflogenheiten der Pariser Oberschicht, die ihre Wochenenden mit Jagdausflügen verbringt, lassen Allens scharfe Beobachtungsgabe vermissen. Und alle Überlegungen über die unvorhersehbaren Wege des Schicksals, die die Figuren anstellen, bleiben eine merkwürdige Behauptung in einem Film, dessen Geschichte dermaßen konstruiert ist." Immerhin sieht Busche MelvilPoupaud und LoudeLaâge gerne bei ihrem Spiel zu und Kira Taszman vom Filmdiensthat etwas Freude am "soliden Drehbuch", das diesem "kurzweiligen Thriller" zu Grunde liegt. Die NZZ hat mit Allen gesprochen.
Weitere Artikel: Esther Buss resümiert in der Jungle World den diesjährigen Diagonale-Schwerpunkt mit Filmen über die erstenGastarbeiter-Generationen in Deutschland und Österreich. Carola Schwarz spricht für die taz mit der Schauspielerin JellaHaase, die aktuell mit "Chantal im Märchenland" (unsere Kritik) im Kino zu sehen ist. Andreas Hergeth wirft für die taz einen Blick aufs Programm des Filmfestivals AchtungBerlin. Nils Minkmar erinnert in der SZ an WolfgangMenge, der vor 100 Jahren geboren wurde.
Besprochen werden AliAsgaris und Alireza Khatamis Episodenfilm "Irdische Verse" über die iranische Diktatur (taz, FD), AliceRohrwachers "La chimera" (taz, FD), RyusukeHamaguchis "Evil Does Not Exist" (NZZ), Soleen Yusefs "Sieger sein" über Fußball spielende Mädchen im Berliner Wedding (SZ, FD), SamTaylor-Johnsons Biopic "Back to Black" über AmyWinehouse (TA, FD) und die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (FAZ).
Welt-Kritiker Elmar Krekeler danktStevenZaillian auf den Knien für dessen für Netflix entstandene Highsmith-Adaption des "talentierten Mr. Ripley" - und vor allem für dessen Entscheidung, den Stoff in Schwarzweiß zu drehen. Die achtteilige Miniserie sieht für Krekeler damit aus "wie ein Anti-'Barbie'-Manifest. Wie ein Echo des Neorealismo. ... Zaillian spannt ein optisches Metaphernnetz, das so dicht ist wie das literarische von Patricia Highsmith. Tom, der Aufsteiger, wird ständig Treppen hinauf geschickt. Süditalien sah nie so morbid aus. ... Man kriegt gar nicht genug von den Bildern, den Treppen in dieser Aufsteigergeschichte, den Skulpturen, die ständig in Nirgendwo zeigen, von den Brunnen, dem Meer, den Schleiern über dem Horizont. Und von dem Tempo. Und von der Musik. Und dem ganzen Museum der Dinge, in das Zaillian einen taucht." Für den Freitagbespricht Thomas Abeltshauser die Serie. Für 54bookswirft Wieland Schwanebeck einen Blick auf die Geschichte von "Ripley"-Verfilmungen.
Weitere Artikel: Valerie Dirk resümiert im Standard den ersten Diagnole-Jahrgang unter dem neuen Leitungsduo ClaudiaSlanar und DominikKamalzadeh. Nachrufe auf den Schauspieler PeterSodann schreiben Irmtraud Gutschke (Freitag) und Holger Gertz (SZ, online gestellt vom Tagesanzeiger). In der FAZgratuliert Dietmar Dath Dennis Quaid zum 70. Geburtstag.
Besprochen werden DevPatels "Monkey Man" (Tazler Michael Meyns sah ein "im besten Sinne globalisiertesActionepos"), Michael Mohans Nonnen-Horrorfilm "Immaculate" (FAZ), Sam Taylor-Johnsons Amy-Winehouse-Biopic "Back to Black", das SZ-Kritikerin Johanna Adorján einfach nur schlecht findet, die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (Welt) und Ian Penmans Buch über Rainer Werner Fassbinder (FAZ).
Urs Bühler spricht für die NZZ mit der aus dem Senegal stammenden, französischen Filmemacherin AliceDiop, die den migrantischen Positionen in Frankreich eine Stimme verleiht. "'Ich komme aus einer gesellschaftlichen Klasse, die sehr wenig gesehen wird. Diese Leute werden kaum je gefilmt, gelten als uninteressant. Ihre Geschichten sind solche des täglichen Überlebens, aber nicht heroisch. Um diese zu erzählen, bin ich Filmemacherin geworden.' ... Der französische Staat sei blind für diese Schichtung und Vielfalt der Erinnerungen, klagt Diop. Denn der republikanische Mythos der Brüderschaft des Volks, einer universellenGesellschaft, die für alle gut sei, basiere auf dem Ideal einer kulturellen Homogenität. Und dieses bremse eine Weiterentwicklung aus. Also brauche es frische Wege der Narration, das Kino sei einer davon, und in Frankreich wachse so etwas wie eineneue Nouvelle Vague heran: 'Vor allem im Dokumentarfilm halten neue Perspektiven Einzug, mit Blick auch in die Peripherie.'"
Weitere Artikel: Marie Serah Ebcinoglu verneigt sich in der FAS (online nachgereicht) vor LarryDavid und dessen Serie "Curb Your Enthusiasm", die nun nach 24 Jahren, bzw zwölf Staffeln zu Ende geht. Valerie Eiseler plaudert für die FR mit dem Schauspieler DevPatel, der aktuell in "Monkey Man" im Kino zu sehen ist. In der BerlinerZeitungempfiehlt Claus Löser eine der Schauspielerin RuthLeuwerik gewidmete Retrospektive im Zeughauskino. Nachrufe auf den Schauspieler PeterSodann schreiben Gregor Dotzauer (Tsp), Michael Bartsch (taz), Stefan Locke (FAZ) und Torsten Wahl (BLZ).
Besprochen werden eine restaurierte Fassung von SatoshiKons Anime-Klassiker "Paprika" von 2006 (FD) und Matteo Garrones "Io Capitano" (Standard).
Auf der Berlinale wurden die von Paramount produzierten vier Folgen "Zeit Verbrechen" (nach Episoden des gleichnamigen Podcasts) noch stolz präsentiert, aber schon während des Festivals kündigte der Streamingdienst an, die Serie nicht online zu stellen, weil man sich generell aus dem deutschen Produktionsmarkt zurückziehen will. Lizenziert nun die ARD die Produktion? Daran hat Dietrich Leder im Filmdienst erhebliche Zweifel, denn alleine JanBonnys Beitrag "Der Panther" entwickelt eine "Radikalität, wie sie im Krimi-Angebot der öffentlich-rechtlichen Sender selten zu erleben ist." LarsEidinger spielt darin einen Ganoven, der von der Polizei als Informant angeheuert wird, und dies "mit einer unbändigen Energie und einer enormenphysischenPräsenz. Man hat fast den Eindruck, dass ihm die höchst bewegliche Kamera von Jakob Berger kaum folgen kann, wenn er durch die Spielsalons, Kneipen und Bordelle läuft und mit dem Motorrad über die Autobahn rast. ... Ein Trost, der sich im traditionellen Fernsehkrimi aus der Aufklärung krimineller Handlungen ergibt, wird hier radikalverweigert. Selbst der Verrat des Polizeiapparats an dem, der die Verbrechen als eingeschmuggelter Krimineller aufklären soll, liefert für die Zuschauer keinenmoralischenMehrwert."
Weitere Artikel: Wolfgang Lasinger resümiert für Artechock das FilmfestivalCinélatino in Toulouse. Dessen Schwerpunkt zum mexikanischenHorrorfilmderFünfzigerjahrewidmet sich Lasingers Artechock-Kollegin Dunja Bialas. Hanns-Georg Rodek streift für die WamS mit der Filmemacherin SoleenYusef durch den Berliner Wedding. Für die WamS plaudert Jakob Hayner mit JosefHader, dessen neuer Film "Andrea lässt sich scheiden" (unsere Kritik) aktuell im Kino läuft. Standard-Kritikerin Valerie Dirk stellt hier der Avantgardefilmerin LislPonger und dort dem Filmemacher ChristophHochhäusler je drei Fragen. Stefan Weiss schlendert für den Standard durch das Arnold-Schwarzenegger-Museum im österreichischen Thal. Leo Geisler widmet sich in seiner Filmdienst-Serie zum Heist-Movie JohnHustons Klassiker "Asphaltdschungel". In der Literarischen Welterinnert sich Georg Stefan Troller an seine Begegnung mit Alain Delon. Im Tagesspiegelgratuliert Nadine Lange der Filmemacherin MonikaTreut zum 70. Geburtstag. Ebenfalls 70 Jahre alt wird JackieChan, dem Maria Wiesner in der FAZgratuliert.
Besprochen werden PaolaCortellesis "Morgen ist auch noch ein Tag" (taz, unsere Kritik), Balojis "Omen" (Tsp), Adam Wingards Monster-Sause "Godzilla x Kong: New Empire" (taz, FAZ, Standard) und StevenZaillians Netflix-Neuverfilmung von PatriciaHighsmiths "Der talentierte Mr. Ripley" (Presse).
Jörg Tazsman analysiert für den Filmdienst den aktuellen italienischen Kinoboom. Dieser zeigt sich etwa darin, dass PaolaCortellesis am italienischen Neorealismus angelehntes Drama "Morgen ist auch noch ein Tag" (unsere Kritik) in Italien selbst Blockbuster wie "Oppenheimer" und "Barbie" an den Kinokassen überholte und dass Eigenproduktionen im letzten Jahr einen Marktanteil von 26 Prozent hatten. Interessanterweise trägt dies insbesondere auch der Autorenfilm. Dieser "wiedergefundene Erfolg ... ist dabei Teil eines in Europa derzeit einmaligen Booms des gehobenen Arthouse-Kinos. Viele Filme gestandener Regisseure laufen deutlich besser als in Deutschland. Dafür gibt es Gründe. Zuallererst wird viel mehr Plakatwerbung gemacht. Ganz Rom war Anfang Januar mit Werbung für den neuen Hayao-Miyazaki-Film 'Der Junge und der Reiher' (unsere Kritik) übersät, der dann auch prompt zwei Wochen lang auf Platz eins der Kinocharts stand. Bevor Wim Wenders' 'Perfect Days' (unsere Kritik) startete, zeigten einige Kinos in Rom wochenlang fast alle früheren Filme von Wenders. Generell wird in Italien - wie auch in Frankreich - viel auf Previews gesetzt, so dass sich Filme schon vor dem Kinostart besser herumsprechen."
Außerdem: Jakob Thaller wirft für den Standard einen Blick auf die jungen Stimmen im Programm der Wiener Diagonale, auf die sich Rüdiger Suchsland von Artechock schon ziemlich freut. Nachrufe auf die Schauspielerin VeraTschechowa schreiben Daniel Kothenschulte (FR), Andreas Kilb (FAZ) und Fritz Göttler (SZ).
Besprochen werden JosefHaders Tragikomödie "Andrea lässt sich scheiden" (SZ, Artechock, unsere Kritik), Paola Cortellesis "Morgen ist auch noch ein Tag" (Welt, Artechock, unsere Kritik), MatteoGarrones "Ich Capitano" (Artechock, mehr dazu hier), Dev Patels "Monkey Man" (Standard), das ARD-Porträt "Außer Dienst? Die GerhardSchröder Story" (taz, NZZ), MarvinKrens für Netflix gedrehte, deutsche Gangster-Serie "Crooks" (Presse, FAZ) und die Apple-Serie "John Sugar" mit Colin Farrell (FAZ, TA).
Das italienische Gegenwartskino macht in dieser Woche mit gleich zwei deutschen Kinostarts auf sich aufmerksam. Deutlich besser besprochen wird "Morgen ist auch noch ein Tag" der Schauspielerin PaolaCortellesi, die damit auch ihr Regiedebüt gibt (unser erstes Resümee). Der beim italienischen Publikum beeindruckend erfolgreiche, in Schwarzweiß gehaltene Film erzählt vom von Gewalt geprägten Alltag der italienischenFrauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wer da erstmal an den italienischen Neorealismus denkt, befindet sich nicht per se auf der falschen Spur, meintPerlentaucher Jochen Werner. Doch wirken die farbentsättigten Bilder "fast ein wenig wie ein höhnischer Kommentar auf jedwede Form von Klassizismus oder Kintopp-Nostalgie, denn so wirklich retro sieht das harte, kontrastreiche Digitalschwarzweiß nicht aus. Eher sieht es nach dem aus, was es am Ende auch ist: ein sehr kontemporärer Film, der sich die Vergangenheit wie eine Camouflage überzieht, ohne jede Verklärung und ohne in dieser Historisierung ganz aufzugehen. So wie er sich in der einen Gewaltszene, die wir in brutaler Deutlichkeit vor Augen geführt bekommen - die meisten der alltäglichen Übergriffe finden im Off statt, wir verlassen den Tatort ebenso wie die Kinder, die angesichts von Ivanos unbarmherzig drohendem Blick genau wissen, was ihrer Mutter bevorsteht - des Tanzes als Stilmittel bedient."
FR-Kritiker Daniel Kothenschulte staunt darüber, wie "leichthändig Cortellesi das Dramatische und Komödiantische ineinandergreifen lässt", ohne sich zu scheuen, "dem Realismus mit Irrealem zu begegnen". Einen Gang ins Filmmuseum stellt dieser Film, anders als andere nostalgische Anverwandlungen filmhistorischer Stilistiken, allerdings nicht dar, beteuert er: "Eher schon lässt sich diese überzeugende Zeitreise mit dem Experiment von Todd Haynes' unechtem Douglas-Sirk-Film 'Dem Himmel so fern' vergleichen. So wie dieser im Stil des alten Hollywoods eine queere Subgeschichte an die Oberfläche spiegelte, verhilft Paola Cortellesi dem unterschwelligenFeminismus der Zeit zu einer Stimme. Sie verstärkt gewissermaßen, was Silvana Mangano, Anna Magnani, Sophia Loren oder Giulietta Masina, die Diven der großen Zeit des italienischen Kinos, nur andeuten konnten."
Bei Matteo Garrones in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnetem "Ich Capitano" über eine Flucht aus Dakar über Nordafrika und das Mittelmeer bis nach Italien bekommttazler Fabian Tietke spätestens am Ende, wenn Italien als Retter in der Not erscheint, Bauchschmerzen - allen peniblen Recherchen über Fluchtbedingungen, die dem Film zugrunde liegen, zum Trotz. "Angesichts der Realität, in der die aktuelle italienische Regierung Seenotrettung im Mittelmeer immer schwieriger macht und noch mehr Tote in Kauf nimmt, ist dieses Ende entweder Fiktion, die künstlich ein Happy End herbeiführt, oder stammt aus einer anderen Zeit, aus einer Zeit vor Meloni." So hat "Garrone leider nur einen durchaus guten Film gedreht, der deskriptiv und moralisch empört, den Mechanismus innerafrikanischer Ausbeutung von Migrant_innen zeigt, aber zum europäischen Friedhof im Mittelmeer schweigt."
Jens Balkenborg erinnert in der FAZ an die Diskussionen, die um den Film nach dem Festival in Venedig geführt wurden: "Ist es angemessen, ein Geflüchtetendrama mit spektakulären Bildern als Abenteuerfilm zu erzählen? Einige Kritiker warfen Garrone vor, sein Thema durch eine an Werbeclips erinnernde Ästhetik ad absurdum zu führen." Zu Recht erhielt aber Seydou Sarr den Marcello-Mastroianni-Preis als bester Nachwuchsdarsteller: "Den Körpern und Gesichtern von Sarr und Mustapha Fall schreiben sich die inhumanenVerhältnisse auf ihrem Trip ein, mit dem ein von Schrecken getriebenes Coming of Age einhergeht."
Weitere Artikel: Für die SZ plaudert David Steinitz mit JosefHader, der diese Woche seine neue, in der FR, im Filmdienst und bei uns besprochene Tragikomödie "Andrea lässt sich scheiden" in die Kinos bringt. Im Standardsprechen Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh als neues Leitungsduo der Wiener Diagonale über den ersten von ihnen verantworteten Jahrgang. Das Diagonale-Programm "Die erste Schicht" über die ersteGastarbeiter-Generation in Deutschland und Österreich trifft derweil das rege Interesse von Standard-Kritiker Bert Rebhandl. Lukas Foerster legt in der Presse dem Wiener Kinopublikum derweil eine Reihe des Österreichischen Filmmuseums mit dokumentarischenLangzeitbeobachtungen ans Herz. Für das ZEITmagazin hat OliverPolakWoodyAllen in New York besucht. Außerdem wie jedes Jahr heillos verspätet, aber umso lesens- und durchstöbernswerter: der Jahresrückblick2023 des Filmblogs Eskalierende Träume, darunter auch Notizen einiger Perlentaucher-Kritiker.
Besprochen werden AnnekatrinHendels Dokumentarfilm "Union - die besten aller Tage" über Berliner Fußballfans (Freitag, Welt, FD), die DVD-Neuausgabe von JuliánHernández' "Ich bin das Glück dieser Erde" (taz), MarvinKrens deutsche Netflix-Gangster-Serie "Crooks" mit FrederikLau (FAZ) und die auf Disney gezeigte Animationsserie "X-Men '97" (FAZ). Außerdem informiert das SZ-Filmteam, welche Kinostarts in dieser Woche von Interesse sind und welche nicht. Hier außerdem der Überblick mit allen Filmdienst-Kritiken zur aktuellen Kinowoche.
ChristopherNolans "Oppenheimer" ist nach langem Hin und Her auch in Japan angelaufen, wenn auch mit moderatem Ausspiel. Das Publikum reagiert eher verhalten bis skeptisch, berichtet Thomas Hahn in der SZ, was bei einem Film über die amerikanische Perspektive auf die Entwicklung der Atombombe auch nicht erstaunt: "Wenn Japan sich an die Atombomben erinnert, geht es in erster Linie um das Leid und den Tod unschuldiger Landsleute, um Japan als Opfer. Es geht kaum um die komplexe Vorgeschichte der Abwürfe im Zweiten Weltkrieg, schon gar nicht um Japans Kriegsschuld und die hartnäckige Weigerung des damaligen Kaiserreichs, nach schweren Verlusten vor der amerikanischen Übermacht zu kapitulieren. Das liegt einerseits sicher daran, dass die Atombomben-Angriffe der USA die wohlgrausamsten Attacken der gesamten Kriegsgeschichte sind. Andererseits liegt es am Einfluss der nationalistischenKräfte, die traditionell stark sind in Japans Regierung und das alte Kaiserreich trotz seiner Kriegsverbrechen bis heute verklären. ... Ein Lob der Atombombe ist 'Oppenheimer' nicht. Aber man kann nachvollziehen, dass manche Momente im Film für Japaner belastend sind."
Weitere Artikel: Völlig unverständlich findet es Thomas Schuler in der taz nach einer Kino-Aufführung von NinaGladitz' Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit", den LeniRiefenstahl einst erfolgreich in dem Giftschrank geklagt hatte (hier dazu mehr), dass der WDR als damals produzierender Sender den Film nicht wenigstens in seiner Mediathek ausspielen will. Nane Pleger erzählt auf Zeit Online, wie sie gemeinsam mit ihrer Großmutter CarlBalhaus' 1958 von der DEFA produzierten "Nur eine Frau" wieder auf die Kino-Leinwand bringt und damit vor allem älteren Frauen eine große Freude bereitete. Valerie Dirk blickt für den Standard aufs Programm der diesjährigen Diagonale. Marion Löhndorf (NZZ), Jakob Thaller (Standard) und Marc Hairapetian (FR) würdigen MarlonBrando, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.
Besprochen werden MatteoGarrones Fluchtdrama "Ich Capitano" (Tsp, Welt, FAS, hier unser Resümee vom Filmfestival Venedig), Balojis "Omen" (taz), MichaelMohans den italienischen Nunsploitatation-Filmen der Siebziger nachempfundene Kloster-Horrorfilm "Immaculate" (Standard) und NeoSoras Konzertfilm "Opus", mit dem sich der 2023 verstorbene Komponist und Musiker RyuichiSakamoto von seinem Publikum verabschiedet (Welt, mehr dazu bereits hier).
Bert Rebhandl spricht für den Standard mit der Schauspielerin PaolaCortellesi, die nun mit "Morgen ist auch noch ein Tag" ihr Regiedebüt vorgelegt hat. Der Film erzählt von Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien und war dort im letzten Jahr ein absoluter Publikumserfolg. "Man versteht auch sofort, warum: Politik aus der Perspektive von Frauen, das ist immer noch eine Marktlücke, und selten sieht man das Patriarchat und erste Schritte zur Befreiung daraus so prägnant in eine Erzählung übersetzt wie hier. ... 'Ich wollte einen Film über Frauenrechte erzählen', legt Paola Cortellesi ihre Motivation dar, 'und gehe dabei von toxischenDynamiken in einer Paarbeziehung aus. Im Jahr 1946 durften Frauen in Italien zum ersten Mal wählen, das wird für Delia zu einem wichtigen Anstoß.' Das Jahr 1946 war auch für das italienische Kino entscheidend. Damals begann die Bewegung des Neorealismus: Den Klassiker 'Paisà' von Roberto Rossellini zitiert Cortellesi ausdrücklich, und auch die Figur von Delia hat viel mit Frauengestalten zu tun, wie sie von Anna Magnani während des Aufbruchs nach Krieg und Faschismus verkörpert wurden." Am kommenden Donnerstag läuft der Film auch bei uns im Kino an.
Ziemlich begeistert istNZZ-Kritiker Daniel Haas von David Schalkos und Daniel Kehlmanns "Kafka"-Miniserie in der ARD-Mediathek: Den beiden "ist nicht weniger als eine Gegentheologie zu den bewährten Dogmen der Kafka-Verklärung gelungen. ... Das empiristische Bedürfnis, Kafka darzustellen, wird demontiert durch die Weigerung, diesen Autor und sein Werk festzulegen und zu beherrschen. So halten sich Rekonstruktion und Dekonstruktion in virtuoser Weise die Waage. Als Ganzes betrachtet, eröffnet diese Serie einen Raum, in dem sich das dichterische Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstsetzung bewegt. Die pathetische Inszenierung künstlerischen Schöpfertums bleibt aus. Es geht hier nicht um die romantische Wiedergabe eines Dichterlebens, sondern um die Suggestion von Kreativität. Kehlmann, Schalko und ihr Berater, der Kafka-Biograf Reiner Stach, sind selber Collagierer des Textmaterials, das ihnen die literarische Tradition zugespielt hat."
Weitere Artikel: In der NZZempfiehlt Patrick Holzapfel eine Reihe mit den Filmen von OusmaneSembèneim Filmpodium Zürich. Im Standardlegt Patricia Kornfeld dem Wiener Publikum die Aufführung von MariaLassnigs experimentellen Animationsfilmen im Künstlerhaus ans Herz. Kira Kramer erinnert in der FAZ an RenéLalouxs und Moebius' psychedelischen SF-Animationsfilm "Herrscher der Zeit" von 1982. Maria Wiesner schreibt in der FAZ zum Tod des Schauspielers Louis GossettJr.
Besprochen werden BoraDagtekins "Chantal im Märchenland" (SZ, unsere Kritik), Julia Gutwenigers und FlorianKoflers Dokumentarfilm "Vista Mare" (Standard) und die auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Serie "3 Body Problem" nach dem gleichnamigen chinesischen SF-Epos von CixinLiu (NZZ).
Auf der Medienseite der SZ ärgert sich Aurelie von Blazekovic, dass der WDRNina Gladitz' in den frühen Achtzigern von LeniRiefenstahl erfolgreich in den Giftschrank geklagten Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" (mehr dazu hier) allenfalls für Festivals freigibt, aber nicht im linearen Programm oder wenigstens in der Mediathek zeigen will. Dabei ist der Film einerseits inhaltlich historisch längst bestätigt und das vom Riefenstahl erlassene Unterlassungsurteil seit 2017 verjährt. Der Sender macht Einwände bezüglich der Standards für diese Entscheidung geltend: "Der Sender bemängelt, dass keine Historiker zu Wort kommen, außerdem den technischen Standard mit wackelnden Texttafeln, das zeittypische Bildformat 4:3. Ohne Gerhard Beckmanns offenen Brief wäre der Film noch heute unter Verschluss. Man habe das Schreiben zum Anlass genommen, erklärt eine WDR-Sprecherin, den Film und die archivierten Akten erneut zu sichten. 'Nach Abschluss der Prüfung sehen wir die Bedeutung des Films für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ausgrenzung und Ermordung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus.' Ein Fachpublikum könne man dem Film mit Einordnung aussetzen. Den Fernsehzuschauer? Nein. 'Einige Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Anstalten meinen sehr genau zu wissen, was das Publikum will und was nicht und was sie ihnen zumuten können', sagt Sabine Rollberg, die heute als Professorin für Film und Fernsehen in Freiburg lehrt und beim WDR in Rente ist. Nun ja, auf Youtube kursiert immerhin das Digitalisat einer VHS-Aufnahme der Erstausstrahlung:
Weiteres: Für einen Filmdienst-Longread durchstreift Patrick Holzapfel die Filmografie von MarlonBrando, der am kommenden 3. April 100 Jahre alt geworden wäre. Thomas Klein denkt im Filmdienst anhand von MartinScorseses "Die letzte Versuchung Christi" über das Heroische im Kino nach. Besprochen werden Jessica Hausners "Club Zero" (Welt, unsere Kritik), ein auf AppleTV+ gezeigter Porträtfilm über Steve Martin (ZeitOnline) und die RTL-Serie "Disko 76" (FAZ).