Essay

Erleichterung und Zufriedenheit

Von Necla Kelek, Peter Mathews
30.08.2022. Seit zehn Jahren läuft der Hamburger Staatsvertrag mit den Islamverbänden, und er wird wohl weiterlaufen. Der Vertrag bringt diesen Verbänden Einfluss und Status, obwohl überhaupt nicht klar ist, wen sie - außer Staaten, die Einfluss nehmen wollen - überhaupt repräsentieren. Die versprochene Evaluierung des Vertrags entpuppt sich als Wohlfühlveranstaltung. Richtig wäre eigentlich, die Sinnhaftigkeit von Staatsverträgen mit Religionsgemeinschaften grundsätzlich zu überprüfen.
Vor zehn Jahren unterschrieb der damalige Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Olaf Scholz einen Staatsvertrag mit der Ditib, der Schura, dem Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg, dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und gesondert mit der Alevitischen Gemeinde. In einer Präambel und 13 Artikeln wurde "im Bewusstsein … dem Wunsch … in der Überzeugung … mit dem Ziel" ein Vertrag geschlossen, der sich mit  (Artikel 1) mit Glaubensfreiheit und Rechtsstellung, (2 )Gemeinsamen Wertegrundlagen, (3) islamischen Feiertagen,  (4) dem Bildungswesen, (5) der Hochschulausbildung, (6) dem Religionsunterricht, (7) der Religiösen Betreuung in besonderen Einrichtungen, (8) dem Rundfunkwesen, der (9) Gewährleistung der Vermögensrechte; Einrichtung und Betrieb von Moscheen und so weiter, (10) dem Bestattungswesen, (11) dem Zusammenwirken beschäftigt und mit der Verabredung schließt, nach zehn Jahren wie im Vertrag formuliert "im Lichte der gewonnen Erfahrungen über diesen Vertrag und die Notwendigkeit von Änderungen und Ergänzungen zu verhandeln".

Dieser als Evaluierung bezeichnete Prozess steht nun an. Nimmt man den Begriff beim Wort, beinhaltet er eine systematische und empirische Analyse aller Vertragsbestandteile sowie Überprüfung der am Vertrag beteiligten Parteien. Am 24. August veranstaltete der Hamburger Senat eine "Fachtagung" mit verschiedenen Referenten, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.

Dabei hatte es vor dieser Senatsveranstaltung bereits Unruhe gegeben, weil sich mehrere politische Vereine wie Parteien mit dem Thema beschäftigt haben und öffentlich Korrekturen oder Kündigung des Vertrags forderten. Die Heinrich-Böll-Stiftung und der Verein Säkularer Islam Hamburg veranstalteten öffentliche Diskurse über Sinn und Zweck dieses Vertrags.

Hinterfragt wurden mehrere Bestandteile des Vertrags. Vor allem die säkularen iranischen Exilanten in Hamburg kritisierten, dass das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) als eine Regierungsorganisation der Mullahs in Teheran über die Schura Vertragspartner ist und seine antidemokratischen und antisemitischen Aktionen aus der Blauen Moschee im Schutze des Senats betreiben kann.

Auch die Ditib, ein von der türkischen Regierung angeleiteter und finanzierter Verband ist nicht das, was im Vertrag als "selbständig" beschrieben wird. Der Vertrag enthält zudem eine Reihe von Privilegien für die Verbände, denen keine Verpflichtungen entgegenstehen. Auch sind keine Sanktionen wie Abmahnung, Ausschluss oder Kündigung vorgesehen. Dem Staatsvertrag fehlen Elemente, die jeder Jurastudent im ersten Semester als notwendige Bestandteile eines Vertrages lernt. Der Staatsvertrag ist eine Art Schenkungsurkunde oder "Brautgeld", das der Senat dafür zahlt, dass die Islamverbände mit ihm kooperieren, oder wie ein Ditib Vertreter es zum Vergnügen des Senatsdirektor Jan Pörksen formulierte, eine Ehe eingehen.

Damit die Veranstaltung das gewünschte Ziel erreicht, traten fünf aktive und einige ehemalige Staatsräte der Senatsverwaltung an, hatte man sorgfältig an der Teilnehmerliste gearbeitet, das heißt weder Vertreter der Zivilgesellschaft, oppositionelle Parteien, säkulare Vertreter noch die Presse eingeladen. Man wollte unter sich sein und war es.

Fast, denn wir waren da.

Der Plan war und ist offenbar, dem Senat, der Bürgerschaft und der Öffentlichkeit ein mit allen Vertragspartnern abgestimmtes positives Ergebnis über zehn Jahre Zusammenarbeit vorzulegen und damit die Debatte um die Sinnhaftigkeit des Staatsvertrags zu beenden, bevor sie richtig beginnt.  

Aber wie das so ist, spielt das Unterbewusste auch einem Staatsrat gelegentlich einen Streich. Auf Nachfrage eines Islamverbandsvertreters bestätigte Staatsrat Pörksen, dass es sich bei der Tagung und auch den folgenden Untersuchungen nicht um eine "Evaluation" im klassischen Sinne handle, sondern nur um ein Gespräch darüber, was in den letzten Jahren gut gelaufen sei oder verbessert werden könne. Man will den Ball flach halten, um eine externe wissenschaftliche Evaluation zu vermeiden, denn die könnte zum Ergebnis haben, dass der Vertrag falsch sei. Dass die Veranstaltung intern aber als "Evaluation der Verträge mit den Islamischen Religionsgemeinschaften" avisiert war, war ihm wohl entgangen.

Und so lobten sich die Vertreter der Islamverbände und Behördenvertreter gegenseitig, wurde Rumi, Herakles und Goethe zitiert und vor allem betont, dass der Staatsvertrag eine Wertschätzung des Islam sei, sich die Muslime angekommen fühlen, weil sie nun auch eigene Friedhöfe haben und bei den Behörden für ihre Anliegen ein offenes Ohr finden. Die Behördenvertreter freuten sich, dass sie nun einen kurzen Draht zu den Verbänden hätten, mit denen sie "Missverständnisse" wie gelegentliche antidemokratische Ausfälle  von Jugendvertretern wie etwa beim Mord des französischen Lehrers Samuel Paty direkt, sprich unter der Hand und ohne Öffentlichkeit, klären konnten. Auch dass dem Vertreter der Ditib, Mehmet Gök, der auf dem Podium neben dem Staatsrat saß, vom Spiegel (4/22) unwidersprochen ein Faible  für die rechtsradikalen "Grauen Wölfe" nachgesagt werden kann, störte zwar die Bürgerschaftsabgeordnete Gudrun Schittek, nicht aber das Podium.

Als außenstehende Beobachter kam uns der Verdacht, dass der Senat seine Vertragspartner gar nicht ernst nimmt, sondern einfach reden und sich gut fühlen lässt. Wenn ein wirkliches Interesse an gesellschaftlichem Fortschritt auch in der muslimischen Community bestehen würde, würde man als Senat, der sich den Kampf gegen Rechtsradikalität, Antisemitismus, Homophobie und Gleichberechtigung auf die Regenbogenfahne geschrieben hat, doch bei solcher Gelegenheit einmal nachfragen, was der Partner in diesen Dingen unternommen hat. Stattdessen saß der Staatsrat lächelnd zwischen dem Ditib und der Schura-Vertreterin, die die IZH als leidiges,  sprich erledigtes Thema abtun konnte. Das Thema IZH wurde angesprochen, aber nicht problematisiert, ganz  nach der Hamburger Methode "Das muss man gar nicht ignorieren". Erleichterung und Zufriedenheit kam auch bei den Behördenvertretern auf, als der Schura-Sprecher in einer Arbeitsgruppe meinte "Antisemitismus ist für uns eine rote Linie". Das war es dann aber auch. (Inzwischen wurde vom Hamburger Abendblatt gemeldet, dass die Vertreter des IZH und der schiitischen Gemeinden IGS sich zwar angemeldet hatten, aber nicht eingelassen wurden.)

Das Hauptreferat hielt Professorin Dr. Riem Spielhaus zum Thema "Der Hamburger Weg - Antworten und Herausforderungen der religiösen Pluralität". Es ist für die Autoren dieses Berichts einigermaßen schwer, den Inhalt des Vortrag nachzuzeichnen, weil er sprachlich und gedanklich unterkomplex war, und sich der rote Faden der Ausführungen nicht entwirren ließ. Die Referentin sollte die Bedeutung des Staatsvertrages herausarbeiten, begann dann ihre Ausführungen mit der Erklärung , dass sie sich mit den Vertragspartnern selbst gar nicht beschäftigt habe. Sie lobte den Staatsvertrag, konnte aber keine Unterschiede zu vergleichbaren Vereinbarungen wie zum Beispiel mit den Kirchen benennen, sondern wollte offenbar zwei Botschaften vermitteln, auch wenn sie dies wiederum nicht explizit ausführte. Zum Einen sollte es "strukturelle" - gemeint sind wohl finanzielle - Unterstützung des Staates für die sozialen Aktivitäten der Islamverbände geben, zum Anderen möge man das "Staatskirchenrecht" in ein "Religionsverfassungsrecht" überführen. Ziel sei wohl die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften auf dem Niveau der Kirchen. Damit würden die islamischen Religionsgemeinschaften von der Bürde befreit, die ihnen seit Jahren die Anerkennung als "Körperschaften öffentlichen Rechts" verwehrt. Die Islamverbände erfüllen nämlich die Voraussetzungen zur Anerkennung unter anderem nicht, weil sie über keine Mitglieder verfügen. Die Moscheevereine und Islamverbände sind reine Funktionärsveranstaltungen. Aber auch das erwähnte Frau Spielhaus nicht, sondern meinte in anderem Zusammenhang, die Islamverbände, erläuterte sie in der Diskussion, seien bereits durch ihre Existenz für die Muslime faktisch repräsentativ, weil sie, wie es andere Vereine auch tun, für Menschen sprächen, "die nicht für sich selbst sprechen könnten."

Im zweiten Teil der Veranstaltung wurde am Nachmittag in vier Panels diskutiert. Hier wurde nun deutlich, worauf die Veranstaltung hinauslaufen sollte. Jeweils von einem Staatsrat oder Staatsrätin moderiert sollte nach dem Motto "best practice", Erfahrungen und positive Beispiele mit dem Staatsvertrag gesammelt und neue Arbeitsfelder erschlossen werden. Das führte in der Arbeitsgruppe 1 zu "gesellschaftlichen Teilhabe, Integration, Antidiskriminierung"  zum Auftritt von Amira, der Antidiskriminierungsstelle der Sozialbehörde, deren Mitarbeiterinnen darüber berichteten, wie sie dafür kämpfen, dass Frauen und auch Kinder  (im genannten Beispiel mit 13 Jahren) überall, auch in der Schule das islamische Kopftuch tragen dürfen. Sie lesen richtig, eine staatlich geförderte Organisation kämpft für das Kinderkopftuch.

Im "Panel 4" wollte man auch sich mit positiven  Beispielen zum Thema "gemeinsame Wertegrundlagen, Präventions- und Netzwerkarbeit" begnügen, bis die ehemalige Staatsrätin von Paczensky nachzufragen begann, warum eigentlich eine solche Veranstaltung keine Probleme benenne und ohne öffentliche Beteiligung von Vertretern der Zivilgesellschaft stattfinden könne. Als gelobt wurde, wie gut doch die Präventionsarbeit gegen den Islamismus funktionierte wurde von mir (PM) gefragt, warum dann circa 200 junge Menschen aus Hamburg in den Djihad nach Syrien gezogen seien, warum man nicht über den Antisemitismus in Moscheegemeinden, warum nicht über die Aktivitäten des IZH, über die Probleme mit Zwangsverheiratungen oder Kinderehen spreche. Erst dann kam in der Arbeitsgruppe ansatzweise eine Diskussion auf, die aber mit dem Hinweis, pauschale Vorwürfe würden nicht helfen, abgetan wurde.

In der abschließenden Plenumsrunde wurden dann auch keine Probleme benannt oder hinterfragt, sondern nur Versäumnisse der öffentlichen Hand gesammelt und wie heute auf  Kindergeburtstagen üblich, ein Abschiedsgeschenk verteilt. Die Podiumsteilnehmer (Herr Gök war inzwischen von einem  anderem Vertreter der Ditib abgelöst worden) wurden aufgefordert, ihre Wünsche für die nächsten zehn Jahre Staatsvertrag zu äußern. Es war ein "weiter, besser so", bis auf den Vertreter der Alevitischen Gemeinde, der zukünftig gern die Diskriminierung der alevitischen durch sunnitische Kinder problematisiert sehen wollte.

Der Senatsverwaltung ist es mit der Veranstaltung gelungen, den Vertretern der Islamverbände das Gefühl zu vermitteln, gehört zu werden und dazu zu gehören. Und sie in ihrer Identität als Muslime und nicht als Bürger bestätigt. Sie glaubt damit den "Brautpreis" gezahlt zu haben und den Staatsvertrag unbeanstandet fortsetzen zu können. Nicht die Freiheit und zum Beispiel die Freiheit von Kindern, ihre Religion selbst zu wählen, ist Regierungsprogramm, sondern die Integration islamischer Sitten und Lebensweisen in allen Bereichen. Der Hamburger Weg ist für die Stadt wie für alle säkularen und demokratischen Hamburgerinnen und Hamburger muslimischen Glaubens oder Herkunft, eine Sackgasse, die vor einer Moschee endet.

Richtig wäre, die Sinnhaftigkeit von Staatsverträgen mit Religionsgemeinschaften grundsätzlich zu überprüfen. Unsere Gesellschaft ist zunehmend nicht religiös orientiert, warum dann Sonderrechte, die über den reinen Schutz der Religionsübung hinausgehen?

Es stellt sich die Frage, warum braucht es einen Staatsvertrag, um zum Beispiel muslimische Grabfelder auszuweisen? Warum muss der Senat dafür einstehen, dass Kinder Kopftuch tragen? Warum muss er mit Organisationen einen Dialog führen, die ihr Geld und Anweisungen aus Teheran oder Ankara bekommen? Warum nimmt er die  Mehrheit, geschätzt 80 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger muslimischer Herkunft oder Glaubens nicht wahr, die sich nicht von den Islamverbänden vertreten fühlen? Warum unterstützt er sie nicht, wenn ihre Kinder kein Kopftuch tragen wollen und nicht in der Schule an Ramadan fasten wollen? Warum verhalten sich die Damen und Herren im Senat der Freien und Hansestadt Hamburg wie die Diener anderer Werte? Fragen, die bisher nicht gestellt und beantwortet wurden.

Die Evaluation muss jetzt beginnen.

Necla Kelek, Peter Mathews