Essay

Klischee und Widerspruch

Von Ulf Erdmann Ziegler
25.04.2023. Zwei Ausstellungen in Basel gestatten die Wiederentdeckung eines amerikanischen Malers und einer amerikanischen Malerin. Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler ist als Vertreter der PopArt ein Maler der Dinge, aber diese Dinge sind keine würdigen Nachfolger der Flaschen Morandis oder der Äpfel Cézannes. Und dagegen Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel : Sie hat wirklich keine Möglichkeit ausgelassen. Sie hat die Massierung probiert und die Entleerung. Und sie sagt: "nein".
In einem Fernsehinterview mit dem Maler Wayne Thiebaud, im Rahmen seiner Werkschau in der Fondation Beyeler bei Basel, sagt dieser von sich, dass er nicht zur PopArt gehöre und auch nicht besonders viel davon halte. Dabei spricht einiges dafür, sein Frühwerk, das in farblicher und irgendwie kulinarischer Zuspitzung bunte Törtchen aufgereiht in Glasvitrinen zeigt, der PopArt einzuverleiben. Pünktlich 1962 setzte es ein. Pop allein schon deshalb, weil diese Gemälde dingfixiert sind, seriell (und darin variiert), forsch, kühl und letztlich seelenlos. Das immer beachtete und trendsetzende Renzo-Piano-Museum ist natürlich auf die falsche Labelung "Pop", die lange kursierte, nicht aufgesprungen. Es nennt Thiebaud stattdessen den Maler des "American way of life".

Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler, das Plakat.
Thiebaud (1920 - 2021), der mit vierzig als Maler zuerst in Erscheinung trat, hatte wirklich genug Zeit, um sein Programm weit aufzufalten: "Ich male Menschen, Orte und Dinge, was mir die Möglichkeit eröffnet, alles zu malen." Während seine coole Phase mit standardisierten bläulichen Schatten auskam, die als Rahmen fungieren, überrascht der Mittelteil der Ausstellung mit kühnen Schwärzen und natürlichen Schattenverläufen. Mit seinen verwickelten Landschaften findet Thiebaud an Vincent van Gogh genau das gut, was auch David Hockney an van Gogh gut fand. Er beleiht die kalifornischen Farbfelder von Richard Diebenkorn und endet in großen Formaten, die in Schockerperspektiven die steile Straßenwelt San Franciscos überhöhen, als hätte er sich an einem Wettbewerb für ein New Yorker-Titelbild beteiligt. Offensichtlich gebannt von der Furcht, vergessen zu werden, wofür er halbwegs berühmt war, wurde höchst liebevoll in den späten Werkkatalog eine "Cake Assembly" eingefügt. Damit zeigte er aber auch seine Stagnation in Sujet und Gestaltung.

Der "Senior Curator" an der Fondation, Ulf Küster, führt in seinem Katalogessay höchst anschaulich aus, wie Wayne Thiebaud die europäische Malerei schätzte und hochhielt, indem er "berühmte Formeln der Kunstgeschichte subtil zitiert" habe. Im unterkühlten, frontalen Portrait einer Schülerin im amerikanischen Klassenzimmer von 1968 entdeckt er die Bildformeln von Ingres' "Napoleon auf dem Kaiserthron " von 1806.  Mehr als dass der Vergleich absurd ist, wäre zu fürchten, dass er zutrifft.

Was war noch einmal amerikanisch? Typisch für die Ausgewanderten war, dass sie nicht zurückschrieben; dass sie sich die Besiedlung als kontinentales Schema vorstellten; dass sie ihre Füße auf den Schreibtisch legten; dass sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die amerikanischen Farben trugen und die Flagge schwenkten. Meister waren sie lange darin, etwas Existierendes im großen Stil nachzubauen, ein deutsches Dorf in der texanischen Einöde, Klein-Paris im Vergnügungspark, ganze Häuser und Straßenzüge mit Regen und Schnee in riesigen Baracken in Los Angeles, die Studios genannt wurden. Mit der Miniaturisierung und Verkitschung Europas wuchs der amerikanische Anspruchung der Darstellung und Verbreitung der eigenen Sicht auf die Dinge. Die Uniformierung von Medien und Rubriken wurde erfunden (berühmte Comicstrips "syndicated" in allen Provinzzeitungen); vorbei an zehn Zwanzigmeter-Billboards zu einem Kino, das zweitausend Leute fasste, die sich Popkorn in 2-Liter-Eimern kauften und die Reste nach der Vorstellung einfach zurückließen. Der Abschied von Europa wurde wiederholt mit dem Exodus der Mittelklasse aus den Innenstädten mittels Automobilen, breit genug für drei Sitze - die Couch - allein vorn, die Rückbank das Schlafzimmer der Teens. Der Wohnwagen wuchs sich aus zum "mobile home", das perfekte Hybrid von Heim und Straße. Selbst das Versetzen ganzer (auf Holzrahmen gebauter) Häuser war nicht ausgeschlossen - Amerika nirgendwo und überall.

Gewiss, dies sind alles Klischees, aber genau diese Klischees wurden in den Köpfen als Megazeichen nationaler Identität installiert. Verlängert auf den militärisch-industriellen Komplex bedeutete der Ausgang des Zweiten Weltkriegs den Sieg von Coca-Cola, Procter & Gamble, Texas Instruments, CBS, General Motors und Ford in Europa. In der Bildenden Kunst waren die USA 1945 nicht im Vorteil, weder vom Produkt her noch in den Vertriebswegen. Zehn Jahre später jedoch war Paris als Kunsthauptstadt Europas schon weitgehend entmachtet. Die Malerei von Pollock, de Kooning, Franz Kline, Clyfford Still und Rothko verwies gestisch auf eine innere Stimme, etablierte aber in der Summe einen heroischen Gestus - oder einen patriotischen Wunsch. Während Ellsworth Kelly 1954 in Paris eiligst seine Sachen packte, um auf die New York School aufzuspringen, wurde Joan Mitchell im folgenden Jahr wie eine Königin in Paris empfangen; es gibt eine parallele, afro-amerikanisch dominierte Geschichte im Jazz. Seitdem musste man als Europäer durch das Amerikanische hindurch, um sich am großen Marktplatz zu behaupten. Das wollte Shirley Jaffe, geborene Sternstein 1923, nicht gelingen, die elegant vor sich hintupfte, bis sie 1963/64 während eines Stipendiums der Ford Foundation in West-Berlin (später DAAD) in eine Denk- und Gestaltungskrise driftete, die zu einer kompletten Revision ihres malerischen Ansatzes führte, eine Art freischwebende Farbfeldmalerei. Erst der relativ frühe Tod Mitchells 1992 gab den Blick frei auf die gewitzte, unbeugsame, von Formfragen getriebene Jaffe, die nicht ganz so alt werden sollte wie Wayne Thiebaud, aber 2016 ein leuchtendes, komplexes Werk hinterließ. Dieses wurde vom Centre Pompidou letztes Jahr zu einer Retrospektive geordnet und ist jetzt im Kunstmuseum Basel zu sehen, so dass der direkte Vergleich von Thiebaud und Jaffe sich anbietet.

Beide Gebäude, der pavillonartige Bau der Stiftung in Riehen (an der Grenze zu Lörrach) und der Anbau des Kunstmuseums Basel erfüllen die Bedingungen des "White Cube", den Brian O'Doherty (der soeben verstorbene irische Künstler und Theoretiker) als ortlos, eigendynamisch und tendenziell repressiv beschrieben hat. Allemal ist der ideale Museumbau ein rigoroser Prüfstand für Werke, die ohne den Innovationsschub des 20. Jahrhunderts nicht denkbar sind. Es ist kaum vorstellbar, dass Shirley Jaffes tolldreiste Verschränkungen von Farbfeldern in einem Zimmer im vierten Stock im fünften Arrondissement von Paris entstanden sind, in dessen Hinterhofstube die Malerin kochte und schlief. Deren innere Spannung schießt als reine Kraft weit über das Bildfeld hinaus. Man muss sich ihre Arbeit am malerischen Vokabular vorstellen wie einen mathematischen Tunnel, in dem Wiederholung, Bequemlichkeit, Gefälligkeit und Offensichtlichkeit heruntergerechnet wurden bis an ihr logisches Ende. Dort, am Ende des Tunnels, gab es ein helles Fenster, die Öffnung zur allerletzten möglichen Form von Subjektivität. Vielleicht sind deshalb die Hintergründe in Jaffes Bildern meistens weiß.  Ihre Bilder können es mit dem White Cube locker aufnehmen, weil sie von vornherein gegen Moden und Feng-shui konstruiert worden waren. Die malerische Lust daran ist umso dringlicher, weil diese sich selbst in keiner Weise ausstellt. So wie Jaffe sich nicht ausstellte. Stattdessen war sie eine eigensinnige und äußerst verlässliche Beobachterin der Strömungen ihrer Zeit. Am allerliebsten, beobachtete ihr Bruder Jerry, sagte sie "nein".

Was den pavillonartigen Bau in Riehen angeht, sei ergänzt, dass es sich nicht um ein geschlossenes System von Kuben handelt. So sind die Wechselausstellungräume nach Süden hin groß verglast, mit Ausblick auf überdachte Teiche im japanischen Stil. Nach Westen haben die Ausstellungshallen Durchgänge zu einer Art Loggia, auch verglast, die als Lounge mit grüner Aufsicht über die volle Länge des Gebäude läuft. Insofern sind die echten "weißen Kuben" des Ausstellungsrundgangs schon fast augenzwinkernd konform. Der Bau stellt, als Prinzip von Kunstrezeption, den Naturbezug über den gesellschaftlichen. Hat die Kunst selbst einen intensiven Naturbezug - wie die neulich gezeigte Retro von Georgia O'Keefe, empfindet man das Gebäude als atmend.

Was auch immer diese Institution impliziert oder ausstrahlt, Wayne Thiebauds Werk sieht darin nicht gut aus. Was nicht in die Balance kommen will, ist das Verhältnis von Coolness des Sujets zum einen und malerischer Hitze zum anderen. Da sind Torten, da gibt es Eis in der Waffel, und neckisch werden bunte einarmige Banditen (Glücksspielautomaten) in Einzeldarstellungen aufgereiht. Dieser Art von Vergafftheit in die Konsumwelt fehlt in der Tat der lässige Zynismus von Pop. Andererseits sind die Torten aus der Fresswelle der Nachkriegszeit keine würdigen Nachfolger der Flaschen Morandis oder der Äpfel Cézannes. Wenn es letztlich keinen Grund gibt, diese Dinge anzuschauen, ist es umso bedenklicher, dass der Maler demonstrieren möchte, "alles" malen zu können. Er treibt einen in einen völlig überflüssigen Konflikt des Schauens.

Wayne Thiebaud, "Girl with Pink Hat" (1973)





Wunderlich ist bereits das Ausstellungplakat: Das doch etwas verhärmte Portrait einer knochigen Dame von etwa dreißig Jahren im Halbprofil, mit Haar aus Hanf und einem Schwimmreifen auf dem Kopf, der per Titel als Hut firmiert: "Girl with Pink Hat". Diese namenlose Dame, erfahren wir aus dem Katalog, wurde beim Maler - der angeblich sonst keine Aufträge annahm - von einem Freund als Modell abgeliefert. Tatsächlich zeigt das Gemälde sie, vom Hut abgesehen, bis zum Bauchnabel nackt. Was das Plakat beschneidet, ein Akt umgemünzt zum Portrait, springt dann aus dem fünfzig Jahre alten, durchaus frisch wirkenden Gemälde heraus mit der Kraft, die aus der Überwindung der Zensur her rührt: Brüste, die mit der gleichen leckeren Zuwendung gemalt sind wie die Eiskugeln und Torten. Was sind sie nun, ihre Brüste, ein hübsches Surplus von Menschlichkeit oder Fetischobjekte der Warenwelt, die sich an einen Körper geklebt haben?

Nicht nur das Plakat verweist auf die zentrale Rolle von "Girl with Pink Hat", sondern auch dessen Hängung. Es ist nämlich so, dass in der neuen Präsentation der letzte Saal Thiebaud sich zur ständigen Sammlung öffnet, und dort hängt quer ein riesiges, flächiges Pin-up-Gemälde, das "Strandszene mit Seestern" heißt. Es stammt von Roy Lichtenstein, die allerschönste Matisse-Veralberung, die man je gesehen hat. Der war auch schon über siebzig, als er das Volleyballspiel am FKK-Strand zum Vorwand nahm, um sich über den "male gaze" lustig zu machen.

Steht man vor diesem grandiosen Werk und dreht sich um, sieht man, genau auf Achse gehängt, winzig in der Ferne den Gelegenheitsakt von Wayne Thiebaud. Könnte das ideal beleuchtete barbusige "Mädchen" den Kopf drehen, würde es seine splitternackten Gespielinnen am Comic-Strand entdecken, und mit größtem Schrecken feststellen, dass es selbst in der Anmutung amerikanischer Süßspeisen zur Kennedyzeit arretiert ist.

Es ist schon richtig, dass der Kunstbetrieb lange männlich dominiert war. Die PopArt war der letzte prägende Stil, in dem Frauen keine Rolle spielten. Mit Minimal, Super 8, Fotografie, "Appropriation" änderte sich das. Dass Cindy Sherman, Mona Hatoum, Barbara Kruger, Katharina Grosse, Louise Bourgeois und Marlene Dumas am Markt so riesig erscheinen, ist gerecht, hat aber den Vergessenen erst einmal nichts genützt. Die Museen haben schließlich ihre Verantwortung begriffen: Da wurde am Whitney Carmen Herrera - supercentenarian - endlich entdeckt. Alice Neel in den Deichtorhallen, Shirley Jaffe im Pompidou (jetzt Basel), Wiebke Siem in Salzburg (demnächst Bonn), Lois Dodd nächstes Jahr in Den Haag. Das sind die großen Gelegenheiten, und Retrospektiven sind deshalb Augenöffner, weil diese Werke einer Prüfung standhalten im Sinn von Zeitbezug, Stil, Imagination und Durchhaltevermögen. Es sind keine in irgendeiner Weise "kleineren" oder "marginalen" Werke.

Shirley Jaffe: "X, encore" (2007) © ProLitteris, Zürich. Private Collection New York. Foto: © Alan Wiener



Nun liegt der Fehler in der Wahl Thiebauds nicht in dem Umstand, dass er ein Mann war, sondern dass er mitgeschwommen ist im männlich dominierten Betrieb von Pop und "wiedergefundener" Figuration. Als Grafiker und Illustrator hatte er einen schönen teaching job in Sacramento; mit seinen Studenten besuchte er Willem de Kooning, einen echten Künstler, gewissermaßen. Dieser verwickelte ihn in ein ernsthaftes Gespräch über Sinn und Zweck der Kunst. "Warum malen Sie eigentlich?", fragte er Thiebaud, der mit vierzig Jahren noch Hobbykünstler war. Als Hundertjähriger erinnerte er sich an seine ersten Versuche mit leckeren Törtchen: "Mit einer intellektuellen Erkenntnis hatte das nichts zu tun, das kann ich wirklich nicht für mich in Anspruch nehmen." Und dabei ist es auch geblieben.

Als mormonisch-kalifornischer Alleskönner hat er einen guten Schnitt gemacht. Es reichte dann auch für eine Foundation, die den Rest des Lebenswerks aufnahm und als kooperativer Leihgeber dem Museum, das ihn groß ausstellen möchte, eine unverzichtbare Hilfe ist. Möglicherweise aber auch zur Denkfaulheit einlädt. Kleine Törtchenbildern in großen Sammlermuseen hier und dort: Damit war Thiebauds Stellenwert im Betrieb exakt markiert. Nicht seine Dingfixierung als solche ist entnervend, sondern die mangelnde Abstraktion im Katalog dieser äußerst schmalen Ikonografie. Wäre Thiebaud wirklich der Urkünstler des American way-of-life, wäre seine Kunst nichts anderes als kapitalistische Propaganda, etwas Nostalgie "untergehoben", wie man in der Küche sagt.

Und dagegen Shirley Jaffe: Sie hat wirklich keine Möglichkeit ausgelassen. Sie hat die Massierung probiert und die Entleerung; die Zitatecollage und deren Auslöschung; die Dominanz der Farben und deren Relativierung in der Fläche. Sie hat versucht, Spiel und Dogma zu versöhnen. "Meine Gemälde können in jede denkbare Richtung gehen", erklärte mir die 93-Jährige in Paris. "Und tun sie das?", habe ich gefragt. "Wenn alle Widersprüche benannt sind", antwortete sie, "liegt die Lösung in der Totalität."

Ulf Erdmann Ziegler

Die Ausstellung "Wayne Thiebaud" in der Fondation Beyeler läuft noch bis zum 21 Mai. Die Ausstellunng "Shirley Jaffe - Form als Experiment" ist im Kunstmuseum Basel bis zum 30. Juli zu sehen.