Essay

Kreative Dissidenz

Von Ulrike Ackermann
10.12.2009. Die liberale Idee gilt den Deutschen als kalt und kalkulatorisch. Ein Irrtum: individuelle Freiheit kann sich nur entfalten, wenn sie ihre irrationale Seite einbegreift. Und nur ihr Widerstand gegen die Trägheit der Masse führt aus der Krise
lDie "Kraft der Freiheit" hat Angela Merkel jüngst in ihrer beeindruckenden Rede in Washington beschworen. Doch davon ist in Deutschland heute, 20 Jahre nach dem Sieg der Demokratie und Marktwirtschaft über den Kommunismus, kaum noch etwas zu spüren. Statt dessen ist den Deutschen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit weitaus wertvoller als die Freiheit. Das fügt sich hierzulande in einen Traditionszusammenhang, in dem die Freiheit stets mit Einheit und Gemeinschaft verbunden war und nicht wie im angelsächsichen Raum mit jener des Individuums. Politischen Opitionen jenseits des Mainstreams, die just die individuelle Freiheit ins Zentrum rücken und das Heil gerade nicht in der paternalistischen Fürsorge von Vater Staat erblicken, seinen Übergriffen und Lenkungsgelüsten dafür mit großer Skepsis begegnen, wird dann gerne das Etikett der "sozialen Kälte" angeheftet. Hinter liberalen Positionen verstecke sich doch bloß ein auf Gewinnmaximierung fixierter Wirtschaftsliberalismus, der einzig die wirtschaftliche Freiheit im Blick habe. "Der Hass gegen den Liberalismus ist das Einzige, in dem sich die Deutschen einig sind", schrieb Ludwig von Mises 1927. Obwohl die Bürger nun mehrheitlich eine liberalkonservative Regierung gewählt haben, scheint diese Einschätzung immer noch den wunden Punkt der deutschen Gemütslage zu treffen.

Macht es da nicht großen Sinn, uns die gedanklichen Wurzeln des Liberalismus und die Erfolge unserer westlichen Freiheitsgeschichte in Erinnerung zu rufen? Wir haben es über die Jahrhunderte so weit gebracht, weil unsere Entwicklung angetrieben war von einem ständigen Wettbewerb des Wissens, der Ideen, der Erfindungen, die die Individuen hervorgebracht haben. Der Markt hat dabei als Entdeckungs- und Entmachtungsinstrument den Lebensstandard weltweit verbessert, den Menschen ein längeres und gesünderes Leben beschert. Es entstand ein immer differenzierteres soziales und rechtliches Regelwerk, das den Zusammenhalt und das Fortkommen der Gesellschaft ermöglichte. Die Entfaltung der Geld- und Marktwirtschaft ging mit der Herausbildung des modernen Individuums Hand in Hand.

Dem Soziologen Georg Simmel verdanken wir den luziden Hinweis auf den Zusammenhang von sich ausweitender Geldwirtschaft und der Zunahme individueller Freiheit. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts beschrieb Simmel diesen Prozess in seiner Philosophie des Geldes (1898). Für Simmel ist die moderne Freiheit des Individuums ohne das Geldwesen nicht denkbar. Erst das Geld ermöglichte die Befreiung aus persönlicher Herrschaft und schuf die Möglichkeit, ein individuelles Leben zu führen, neue Freiheiten zu entdecken und auszuschöpfen. Das Geld stiftete eine Entfernung zwischen Person und Besitz, zwischen Haben und Sein, indem es das Verhältnis zwischen beiden zu einem vermittelten machte. Zugleich schuf der Geldverkehr eine neue starke Bindung zwischen Mitgliedern desselben Wirtschaftskreises: "Indem das Geld die Teilung der Produktion ermöglicht, bindet es die Menschen unweigerlich zusammen, denn nun arbeitet jeder für den andern, und erst die Arbeit aller schaft eine umfassende wirtschaftliche Einheit, welche die einseitige Leistung des Individuums ergänzt."

Daraus konnte allmählich eine Kultur der Eigenverantwortung und der freiwiligen Zusammenschlüsse entstehen. Das Selbstbestimmungsrecht und die rechtliche Gleichrangigkeit der Einzelnen zeichnen bis heute den Markt als sozialkulturelles Konzept aus. Das Ineinander und Gegeneinander der Handlungen, Zwecke und Pläne vieler Einzelner in einer Gesellschaft ist indes nie ein geplantes, großes Werk gewesen. Unsere Geschichte mit ihren Fortschritten und Rückschlägen ist gerade keinem Plan oder einem geheimem Telos der Geschichte, dem "Weltgeist" oder einem "göttlichen Uhrmacher" zu verdanken. So scheiterten denn auch alle Versuche, eine perfekte Gesellschaft mit perfekten Menschen zu planen.

Das Selbstbestimmungsrecht ist der Kerngedenke des Liberalismus und geht zurück auf den englischen Aufklärer John Locke. Sein Prinzip der "selfownership", des Eigentums an sich selbst, ist das personale Recht, über sich selbst, den eigenen Körper und die Ergebnisse der eigenen Arbeit zu verfügen. Dieses gleiche Recht eines jeden Individuums auf Selbstbestimmung hat John Stuart Mill vor 150 Jahren in seiner berühmten Schrift "On Liberty" noch weiter ausgefeilt. Die freie Entwicklung der Persönlichkeit war für ihn die Hauptbedingung der Wohlfahrt. Gegen Konformismus, Gleichförmigkeit und die Tyrannei der öffentlichen Meinung setzte er die Eigenwilligkeit des Individuums: seine Freiheit des Denkens und des Fühlens, die Unabhängigkeit seiner Meinung und Gesinnung, die Freiheit, einen eigenen Lebensplan zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt, so lange wir niemandem etwas zuleide tun. Die Unterschiede der Lebenspläne und -stile und das Recht, sich von jedem anderen Individuum zu unterscheiden, macht gerade den Motor und die Dynamik unserer Entwicklung aus. Die Uniformität sozialer Gleichheit würde Stillstand bedeuten.

Spätestens seit der Aufklärung begleitet uns jedoch ein Dilemma, nämlich die Sehnsucht nach Freiheit, die ständig mit der Angst vor der Freiheit ringt. Beide sind angetrieben vom Eros, jenen Lebens- und Erkennnistrieben, die die Vernunft nicht hat bändigen können, die nicht Ruhe geben und uns zugleich die Kraft verleihen, die Freiheit zum Guten wie zum Bösen zu nutzen. Das ist ihr Doppelgesicht. Der Eros ist die untergründige Antriebskraft unserer Zivilisationsgeschichte und zugleich jene, die unser persönliches Leben trägt und der individuellen Freiheit den Ansporn gibt. Er verkörpert die Lust und die Neugierde auf das Leben, auf die Welt, auf andere Menschen. Zuweilen zieht er sich zurück, ist müde und erschöpft vom Kampf gegen die Feigheit, überrumpelt von Bänglichkeit. Oder gerät ins Straucheln, sieht den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen angesichts der überbordenden Möglichkeiten, zwischen denen er wählen kann.

Der westliche Zivilisationsprozess war so erfolgreich, weil sich die Vernunft etablierte und den Glauben in Wissen verwandelte und anschließend dieser Vernunft die Skepsis und Kritik begegnete. Bekanntlich war dies ein schmerzvoller und immer wieder mit Rückschritten gepflasterter Weg, angetrieben von der Vernunft aber zugleich von ihrer anderen dunklen Seite, der Irrationalität, nämlich der Phantasie, den Wünschen und dem Erfindungsgeist. Denn was die Individuuen in einer Gesellschaft zusammenhält, sind nicht nur ihr Wille, rationale Zwecke, Kalküle, soziale Regeln und ein der Freiheit verpflichtetes Vertragswerk in Gestalt unserer demokratischen Verfassungen, sondern das sind auch Gefühle, soziale Beziehungen und schöpferische Imaginationskräfte. Das dynamische Wechselspiel zwischen Rationalität und Irrationalität sorgt dafür, dass sich beide weiterentwickeln und Neues entsteht. Die individuelle Freiheit kann sich indes nur entfalten, wenn sie ihre irrationale Seite einbegreift: indem sich das Individuum seiner Potenzen und Möglichkeiten, angetrieben vom Eros, ebenso bewusst wird wie seiner Widerstände und Ängste.

Seit der griechischen Polis durchzieht der sukzessive Freiheitsgewinn wie ein roter Faden unsere Zivilisationsgeschichte. Er wurde erkämpft mit dem fortlaufenden Aufbegehren gegen die Unfreiheit und den Zwang, im sozialen, politischen, gedanklichen oder privaten Felde. Die Freiheit konnte gedeihen, weil sie sich zäh und beständig aus Ketten, Zwängen und Verstrickungen emporschwang und unbeirrlich weiterwuchs. Der größte Schatz unserer Zivilisationsgeschichte ist die individuelle Freiheit. Jeder und jede kann sie auf ureigenste Weise ausschöpfen, ob als zurückgezogener Rosenzüchter, politisch engagierter Bürger, leidenschaftliche Musikerin, gläubiger Tapezierer, atheistischer Koch, aufopfernder Vater, kämpferische Dichterin oder akribischer Hausmeister. Die westliche Zivilisation hat die Bedingungen dafür geschaffen. Sie hat Menschen hervorgebracht, die aufgrund ihrer Kapazitäten in der Lage sein können, mündig und zugleich ihrer Abgründe bewusst, ein autonomes und unabhängiges Leben zu führen. Die Ambivalenzen und Widersprüche, in die uns die Freiheit verwickelt, kann uns jedoch niemand abnehmen, die müssen wir schon selbst aushalten. Aber wir sind so erwachsen geworden, dass wir keine Tugendwächter brauchen, weder den Staat noch eine Ideologie, die uns moralisch oder politisch vorschreibt, wie wir zu leben haben und wie unser Glück auszusehen hat. Es gibt keine bestimmte Konzeption des guten Lebens, die für alle gültig wäre, aber das Recht eines jeden, frei und gleich geboren, sein jeweiliges Glück zu verfolgen.

Unsere bisherige Geschichte war so erfolgreich, weil sich wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit immer gegenseitig bedingen und vorantreiben. Ohne die Neugierde, Risikobereitschaft und mutige Schaffenskraft der Individuen hätten wir heute weder Wohlstand noch Demokratie. Um unsere Wirtschafts- und Freiheitskrise zu meistern, ist wieder bürgerlicher Eigensinn, Phantasie, Selbsttätigkeit und kreative Dissidenz gegenüber der "sozialen Tyrannei" ( J. S. Mill) der Mehrheit angesagt. Eine Besinnung auf die liberalen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts kommt uns da bestens zupass. Es könnte ja sogar ein erneuter Aufbruch in die Freiheit werden - 20 Jahre nach dem Ende des Eisernen Vorhangs und dem Fall der Mauer.

Ulrike Ackermann