Essay

Zur Klärung der Begriffe

Von Gustav Seibt
25.11.2015. Wer die Menschenrechte ganz aufklärerisch für universal hält, braucht sich bei Kulturtypologien und Wertlehren oder Religionskritik nicht lange aufzuhalten. Es geht darum, diese universellen Rechte vernünftig zu vermitteln. Eine Antwort auf Thierry Chervel.
Gustav Seibt antwortet in diesem Artikel auf Thierry Chervels gestern publizierten Artikel "Dieser fragile Rahmen" (D.Red.)

===============

"Prinzipien" sind für mich stärker bindend als "Werte". Prinzipien kann (und wenn man sie anerkennt: sollte) man befolgen, anwenden. "Werte" sind erst einmal Setzungen, der Begriff stammt aus der Mottenkiste der deutschen Philosophie um 1915 (Max Scheler), als man mit den "Ideen von 1914" gegen die "Ideen von 1789" kämpfte. Ein schönes Beispiel für polemogenen Relativismus. Max Weber hat in seiner Kritik an Scheler und dem vorangehenden Neukantianismus die Hilflosigkeit materialer Wertlehren unwiderleglich dargelegt.

Eigentlich sind die "Werte", die kleinen unordentlichen Kinder des aristotelischen "Guten" der alteuropäischen Metaphysik.

Der Begriff fand dann seine dubiose Wiederauferstehung in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts der fünfziger Jahre, als man, aus Furcht vor dem angeblich haltlosen Rechtspositivismus der Weimarer Zeit, aus den subjektiven Grund- und Freiheitsrechten eine "Werteordnung" machen wollte. Dabei ergab sich aber nur, dass den subjektiven Grundrechten (Unverletzlichkeit der Person, Recht auf Selbstverwirklichung, Freiheit der Meinungsäußerung etc.) der "Wert der Menschenwürde" "vorgeordnet" sei - was immer das bedeutet. Dazu hat ausnahmsweise Carl Schmitt etwas sehr Erhellendes gesagt, in seiner Abhandlung "Tyrannei der Werte". Oder, wenn man es genauer wissen will: Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Untersuchung "Grundrechte als Grundsatznormen - Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtdogmatik" von 1990 (jetzt in dem stw-Band "Wissenschaft - Politik - Verfassungsgericht").

Wie antworten wir eigentlich einem gläubigen Christen oder Moslem, der dagegen seine eigenen "Werte" (Gottesbindung, Gemeinschaftsbezug) setzt? Doch wohl nur und am besten durch: Aufklärung, also durch vernunftgeleitetes Räsonnement in Hinblick auf das gemeinsame Interesse an einem friedlichen Zusammenleben in einer Welt, in der die Menschen an sehr Verschiedenes glauben.

Aufklärerisch ist es auch, dem Fundamentalismus seine kranke Modernität vorzurechnen. Und Aufklärung darf auch darauf hinweisen, dass das Begriffsglissando Werte-Kultur-Krieg, das wir derzeit so kämpferisch beobachten, nur wieder dazu führt, die Fehler von 2001/2003 zu wiederholen. Wer die Menschenrechte ganz aufklärerisch für universal hält, braucht sich bei Kulturtypologien und Wertlehren und nicht einmal bei Religionskritik nicht sehr lange aufzuhalten. Denn dann geht es darum, diese universellen Rechte in jedem noch so fremden kulturellen Code so vernünftig zu vermitteln, dass sie eben nicht als westlicher Gewaltexport ankommen.

Dafür müssten wir uns aber mindestens an unsere eigenen Prinzipien halten und beispielsweise auf Folter und rechtsfreie Räume (Guantanamo) verzichten, uns andere Verbündete als Saudi-Arabien suchen und vielleicht überlegen, ob Bombardements von Großstädten mit 500 000 Einwohnern wie Raqqa wirklich der richtige Weg sind.

Zusammengefasst: Der Wertebegriff ist mir zu relativistisch und zu kulturalistisch (nicht umsonst reden alle Seiten immer von "unseren", also ihren je eigenen Werten) - auch wenn ich für die Freiheit des Individuums Wahlfreiheit bei Werten ("relativistisch") durchaus an ihrem Platz sehe. Jeder nach seiner Facon, solange er niemanden anderen in seinen Rechten und Wertsetzungen beeinträchtigt.

Nicht überflüssig scheint es, auf etwas eigentlich Selbstverständliches hinzuweisen: Relativismus als Form der Freiheit in pluralistischen Gesellschaften (bei Lebensstilen, Werthaltungen und Weltanschauungen) hat natürlich in Gesetzen und Verfassungen, bei den Grundrechten vor allem, nichts zu suchen.

Das Unverhandelbare: der Rechtsstaat, die universellen Menschen- und Bürgerrechte liegen in ausformulierten Urkunden längst vor, die meisten Staaten dieser Welt habe diese Urkunden unterschrieben. Aufklärung als Prinzip sorgt sich um die kritische Überprüfung ihrer Anwendung unter wechselnden, auch kulturell unterschiedlichen Umständen. Und darum, diese Anwendung einzufordern, einzuklagen, in Situationen des Notstands und der terroristischen Bedrohung auch mit Gewaltmitteln durchzusetzen (im Sinne der jungen völkerrechtlichen Norm der "responsibility to protect"). Das ist mehr als das Herumreiten auf "Werten" oder gar das liebenswürdige Bestehen auf Champagnergenuss im Angesicht der Todesdrohung (unsere "Art zu leben").

Ich bin für schärfste Verbrechensbekämpfung, auch mit kriegerischen Mitteln, das steht so auch in meinem Artikel. Aber einen "Krieg" im Sinn des Kriegsvölkerrechts sollte man sich gut überlegen, wenn es um eine Terrorbande geht.

Den Kampf gegen den Terror gewinnen wir leichter, wenn wir uns Verbündete auch bei den vielen Gläubigen in der muslimischen Welt suchen, die genauso unter ihm leiden wie wir. Das geht mit Vernunft besser als mit Werten. Ausdrücklich unterstütze ich dabei die Überlegung von Necla Kelek, dass der Islam durch Säkularisierung erst (wieder) zu einer Religion werden kann. Eine Überlegung, die von Max Weber stammen könnte.

Gustav Seibt