Magazinrundschau

Die Jungs in Urdu, die Mädchen in Hindi

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.09.2023. Literary Hub fragt mit dem Writers Workshop in Kalkutta: Ist Englisch eine indische Sprache? In The Bitter Southerner erinnert sich Wyatt Williams mit Hingabe an die ersten Songs von Lucinda Williams, die seine Mutter hörte. HVG verneigt sich vor dem unbeugsamen Philosophen Janos Kis. Der New Statesman rätselt, wo Giorgia Meloni hin will - rechts, ganz rechts, in die Mitte? Der New Yorker stellt einen jungen Architekten vor, der unseren Verstand umprogrammieren will - zur Not mit Mehlwürmern.

Literary Hub (USA), 07.09.2023

Ist Englisch eine indische Sprache? Ende der 50er Jahre bejahten dies die Mitglieder des von Purushottama (P.) Lal gegründeten Writers Workshops auf jeden Fall so, erzählt Liesl Schwabe die in Literary Hub diesen unabhängigen Verlag aus Kalkutta ehrt, der immer noch publiziert. Wie wäre es auch anders möglich gewesen, sich in einem Land mit gut 100 großen Sprachen und tausenden Dialekten zu verständigen? Aber es gab natürlich auch Stimmen wie den bengalischen Autor Buddhadeva Bose, der die Mitglieder des Workshops der Anglomanie bezichtigte. Lal reagierte auf diesen Vorwurf mit einem Fragebogen, den er per Post an Dutzende indischer Dichter schickte und in dem er fragte: "'Aus welchen Gründen verwenden Sie die englische Sprache?' Insgesamt gab es sieben Fragen, darunter auch die, ob die Schriftsteller Englisch als indische Sprache betrachteten. Die verschiedenen Antworten wurden zusammen mit den dazugehörigen Gedichten 1969 zu einem Klassiker des Writers Workshops, 'Modern Indian Poetry in English: An Anthology and a Credo', herausgegeben von P. Lal. Die Nuancen und die Intimität der Antworten sind heute noch genauso ergreifend wie vor sechzig Jahren. 'Wir sprachen einen Punjabi-Dialekt', schrieb der Journalist und Dichter O.P. Bhagat, der in einer kleinen Stadt in Pakistan aufgewachsen war. Allerdings, so sagte er, 'wurde er nur gesprochen, nicht geschrieben - es sei denn, man benutzte absichtlich die persische oder Devanagari-Schrift.' In seiner Schule, so Bhagat, wurden die Jungen in Urdu und die Mädchen in Hindi unterrichtet, was die ohnehin schon vielfältigen Variablen des sprachlichen Erbes weiter verkomplizierte. Bhagat stimmte mit Bose überein, dass Englisch keine indische Sprache sei. 'Aber', so argumentierte er, 'es ist durch die historischen Umstände für viele Inder zur kulturellen und literarischen Sprache geworden.' In seiner Antwort auf den Fragebogen formuliert der südindische Schriftsteller M.P. Bhaskaran, dessen Gedichtband 'The Dancer and the Ring' 1962 vom Writers Workshop veröffentlicht wurde, eine Sichtweise, die auch heute noch bei vielen Südindern Widerhall findet: 'Die Hindi-Imperialisten fürchten, dass das Englische, wenn es nicht ausgerottet wird, dem Hindi nicht erlauben könnte, Indien zu dominieren.'" Diese Befürchung wird gerade durch die Modi-Regierung bestärkt.
Archiv: Literary Hub

Novinky.cz (Tschechien), 14.09.2023

Fünf Jahre sind seit dem Mord an dem slowakischen Journalisten Ján Kuciak vergangen, der den mutmaßlich damit in Verbindung stehenden Premier Robert Fico damals zum Rücktritt zwang. Bei den anstehenden slowakischen Parlamentswahlen droht nun das Comeback Ficos und damit ein prorussischer Kurs mitten in Europa. Apolena Rychlíková unterhält sich mit dem slowakischen Publizisten Michal Havran über seine Einschätzung der Lage. "Die Slowaken erkennen eigentlich keine Autoritäten an", meint Havran. "Das hat wohl mit einer gewissen Isoliertheit der Menschen zu tun. Wir haben zwei große Städte, aber der wesentliche Teil der Bevölkerung lebt quasi in den Bergen. Daher rührt die Gewohnheit, sich mehr auf sich selbst zu verlassen, sich auf einer lokalen, nachbarschaftlichen Ebene zu helfen. Von der Politik erwarten sich die Menschen in bestimmten Gegenden der Slowakei nichts (…), keine Lösungen, höchstens eine Show." Dennoch glaubt Havran, dass sich die slowakische Gesellschaft zum Positiven verändert. "Wir haben hier eine stille, unauffällige Kraft, die unter bestimmten Bedingungen sogar die Wahlen gewinnen könnte - die Partei Progresivne Slovensko, die in den Umfragen gerade an zweiter Stelle steht." Diese proeuropäische Partei repräsentiere die jüngeren Slowaken und habe einen völlig anderen Politikstil. "Die meisten Kommentatoren nehmen gar nicht wahr, dass sich Progresivne Slovensko zur treibenden Kraft der demokratischen Opposition im Land entwickelt hat. Vermutlich verwirrt es sie, dass die Vertreter eines emanzipatorischen Modernisierungsethos bei uns erstmals nicht die liberalen Rechten sind. Progresivne Slovensko ist eine ökologisch orientierte Mitte-Links-Kraft. Und viele, die die Politik bisher nach dem Rechts-Links-Maßstab kommentiert haben, können diese Partei nicht richtig greifen."
Archiv: Novinky.cz

The Bitter Southerner (USA), 19.09.2023

Zum ersten Mal hörte Wyatt Williams Lucinda Williams im Auto seiner Mutter, die aus ähnlich ärmlichen, von Drogen geprägten Verhältnissen in Louisisana kam. Und noch heute kann er keinen Song von Williams hören, der keine Erinnerungen weckt, erzählt er anlässlich der Veröffentlichung von Williams' Memoiren: "Ich höre Lucinda immer noch mit meiner Mutter, wenn wir uns treffen. Die Musik ist ein klarer Teil meiner Erinnerungen an sie. Es muss in St. Landry Parish gewesen sein, nach ihrer zweiten Scheidung, als sie wieder nach Louisiana zurückgezogen war, im Schaukelstuhl auf ihrer umlaufenden Veranda saß und auf das pensionierte Rennpferd auf der Weide schaute. Es muss gegen Sonnenuntergang gewesen sein, als die schwachen goldenen Strahlen durch die Äste einer Eiche auf der nahen Weide fielen. Spinnweben über den Außenlautsprechern. Wir trinken Bier nach der Arbeit. Nicht viel sagen, nur den Liedern zuhören. Lucindas Stimme erfüllt die Ferne: 'Er hatte einen Grund, nach Lake Charles zurückzukehren / Er redete immer darüber / Er redete immer weiter.' Es gab Stapel Brennholz und einen krummen Stacheldrahtzaun und eine ausgefurchte Auffahrt, die durch eine Reihe von Eichen hinunterführte. Die einzige Möglichkeit, die Schönheit dieses Ortes zu beschreiben, besteht darin, die Dinge zu benennen, die es dort gibt. Meine Mutter fragte zwischen zwei Zügen an der Zigarette: 'Wer würde jemals so über Lake Charles sprechen?' Lucinda Williams wurde in Lake Charles, Louisiana, geboren, ein paar Monate vor meiner Mutter. Lucindas Vater, Miller, lehrte Poesie an Universitäten. Die Familie zog im Laufe ihrer Kindheit ein Dutzend Mal um - auf der Jagd nach kurzen, schlechten Lehrverträgen zwischen College-Städten in Iowa, Mississippi, Utah, Georgia, Louisiana und weiter südlich nach Chile und Mexiko. Ihre Mutter, Lucy, war eine Trinkerin. Sie waren oft knapp bei Kasse und liehen sich manchmal Brot von den Nachbarn, um zu essen.(...) In ihren Liedern kehrt sie immer wieder in dieselbe Gegend zurück und verortet ihre Worte an denselben vertrauten Orten. Eine der häufigsten Beobachtungen über Lucinda ist ihre Gabe, diese Ortsnamen zu singen. Auf ihrem Meisterwerk 'Car Wheels on a Gravel Road' kommen sie in der folgenden Reihenfolge vor: Macon, Jackson, Rosedale, Mississippi, Algiers, Opelousas, Louisiana, Lake Charles, Nacogdoches, East Texas, Lafayette, Baton Rouge, Lake Pontchartrain, Heaven, Greenville, West Memphis, Slidell, Vicksburg. Keiner singt diese Worte so wie Lucinda. Wenn sie sie benennt, macht sie sie zu ihren eigenen. Im Rest des Werks gibt es noch viele mehr: Beaumont, La Grange, Pineola, Subiaco, Thibodaux. Ich könnte weitermachen. Sie haben es verstanden. Sie hat es deutlich gemacht. Ziehen Sie eine Linie, die in Ost-Texas beginnt und durch Süd-Louisiana und über den Fluss und durch das Delta den ganzen Weg nach Memphis und über die Ozarks in Arkansas und wieder zurück nach Texas führt. Fügen Sie das Jenseits hinzu - das ist ihr Territorium."

Lake Charles:

HVG (Ungarn), 14.09.2023

Anlässlich seines 80. Geburtstags, ehrt Miklós Haraszti den Philosophen János Kis und erinnert an sein Lebenswerk: "Obwohl er 'eher' ein Philosoph ist, gelten doch seine Interviews und öffentliche Vorträge, in denen er den Durchbruch der Autokratie nach 2010 analysiert, als politische Akte. Mehr noch, sie erinnern an seine Anfangszeit in der Walachei, als er die kommunistische Autokratie herausforderte, auch wenn er sich nur auf den vereinzelten Inseln in der von Propaganda erdrückten Öffentlichkeit äußern konnte. In der Regierungspresse steht János Kis heutzutage unter Dauerfeuer, als hätte er eine Partei und Macht. Sein regimeverändernder Liberalismus, der dazu beitrug, die dritte ungarische Republik nach 1989 ins Leben zu rufen, geriet unter doppelten Beschuss: Von links wurde er als kapitalistischer Wegbereitung und von rechts als kommunistischer Rettungsversuch verunglimpft. János Kis wurde durch akademische Erkenntnisse zu einem pragmatischen Revolutionär, der seine Erfahrungen in eine Theorie umformte, als wäre die Bewegung das Versuchskaninchen der Philosophie im Käfig des Autoritarismus. ... Er wurde von seinem Wunsch nach moralischer Politik zur Politik hingezogen und von der Antinomie der moralischen Politik zur politischen Philosophie. Es war sein Mut, der ihn zum Philosophen und Politiker machte, der bereit war, die Herausforderung mit seinem Intellekt und seinem täglichen Leben anzunehmen. Aus einem einfachen Grund: moralische Integrität war in jeder Epoche eine Notwendigkeit zum Glücklichsein."
Archiv: HVG

New Lines Magazine (USA), 12.09.2023

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat viele ethnische Minderheiten in der Russischen Förderation aufgeweckt, berichtet Courtney Dobson: "Andrejew, ein 34-Jähriger mit kurzgeschorenem Haar und Schnurrbart, ist Mitbegründer der Stiftung Freies Jakutien, die sich gegen den Krieg einsetzt und potenziellen Wehrpflichtigen hilft, die Mobilisierung zu vermeiden. Er war Redner beim Forum of Free Peoples of Post-Russia, einer Plattform, die Angehörige der zahlreichen ethnischen Minderheiten Russlands zusammenbringt, um über die Zukunft Russlands zu diskutieren. Andrejew ist nicht allein. Er ist einer von Tausenden von Angehörigen ethnischer Minderheiten in Russland, die Teil einer Bewegung sind, die die Entkolonialisierung des Landes fordert, wobei einige sogar die Unabhängigkeit von Moskau fordern. Der Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 löste eine Welle nationaler Bewegungen unter den ethnischen Minderheiten Russlands aus, doch ihre Beschwerden über 'Moskau', wie viele Mitglieder der Bewegung die Zentralmacht in Russland bezeichnen, haben eine jahrzehntelange, manche würden sagen jahrhundertelange Vorgeschichte. Der Krieg in der Ukraine hat dem Westen vor Augen geführt, was viele in Russland bereits wussten: dass Russland eine imperiale Macht ist. Für einige wurde Russlands Revanchismus nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 offensichtlich. Weniger bekannt ist jedoch, dass sich der Kreml innerhalb seiner Grenzen wie ein Kolonisator verhalten hat, der seine riesigen Regionen wegen ihrer Ressourcen ausbeutet und ethnischen Minderheiten die Möglichkeit verweigert, ihr kulturelles und sprachliches Erbe zum Ausdruck zu bringen."

Weitere Artikel: Im indischen Punjab sind Frauen mit Englischkenntnissen sehr begehrt, berichtet Ravleen Kaur: Das hilft ihren Ehemännern, mit der Familie zu emigieren. Syrische Frauen, die mit ihren Familien nach Dänemark emigriert sind, sind wiederum oft von ihren Ehemännern abhängig: Wer sich von einem gewalttätigen Mann trennt, kann leicht seine Aufenthaltserlaubnis in der EU verlieren, berichten Megan Clement und Mais Katt

Meduza (Lettland), 19.09.2023

Das Handy der Mitbegründerin von Meduza, Galina Timtschenko, wurde am 10. Februar 2023 mit Pegasus infiziert, einer Spyware des israelischen Unternehmens NSO Group. Die Redaktion fand dies erst am 23. Juni heraus und arbeitet diesen ersten bekannten Fall von Cyber-Spionage auf eine russische Exil-Journalistin in einem ausführlichen Beitrag auf. "Sobald die Pegasus-Infektion bestätigt war, schloss sich die Meduza-Geschäftsführung zu einer Krisensitzung in Timtschenkos Büro ein.(…) Chefredakteur Iwan Kolpakow, der gerade auf Reisen war, nahm per Telefonkonferenz an der Sitzung teil. Er war sichtlich ratlos und zählte immer wieder laut auf, was hätte durchsickern können: Firmenpasswörter und -korrespondenz, Kontostände, die Namen von Meduza-Mitarbeitern und - was am gefährlichsten war - die Identitäten von Meduza-Mitarbeitern in Russland. Es war jedoch bald klar, dass niemand abschätzen konnte, wer kompromittiert worden war. 'Sie haben alles bekommen', erinnert sich Kolpakow. 'Alles, was sie wollten.'" Dabei ist unklar, wer für diese Spionage verantwortlich ist. Die NSO Group sagt, sie verkaufe nicht an Russland - bleiben als nur noch andere Kunden - zum Beispiel europäische Staaten. "'Ich bin absolut schockiert, dass wir ernsthaft darüber diskutieren, dass ein europäischer Staat dies getan haben könnte', sagt Iwan Kolpakow(…). 'Ich bin wahrscheinlich naiv, aber das schien mir unmöglich. Die Folgen könnten verheerend sein, und das betrifft nicht nur die Nachrichtenmedien im Exil, sondern die Medien in Europa allgemein. Wenn eine solche Software auf dem Telefon eines Journalisten aus Russland installiert werden konnte, wer weiß, was europäische Geheimdienste davon abhält, beliebig Journalisten zu infizieren.'"
Archiv: Meduza

Desk Russie (Frankreich), 16.09.2023

Der Westen hat es vielleicht noch nicht gemerkt, obwohl er es unbewusst auch gewollt haben könnte. Aber er hat die Ukraine in eine Position manövriert, die zwar nicht einem russischen Sieg auf ganzer Linie gleichkommt, wohl aber einer Situation, die Russland strategisch gelegen kommt, schreibt die Russlandexpertin Françoise Thom in einer großen Analyse über russische Desinformation und Einflusspolitik, die passagenweise wie ein Warnruf klingt: "Die russische Führung glaubt, dass sie die westlichen Führer schon so weit hat, einen Sieg der Ukraine zu verhindern. Noch im Frühjahr schien sie ratlos zu sein, aber dann kam für sie die freudige Überraschung, dass der Westen Kiew nicht mit genügend Waffen ausstattete, um der ukrainischen Armee bei ihrer Gegenoffensive im Sommer den Sieg zu sichern. Nun ist der Moment gekommen, die verständliche Verbitterung der Ukrainer auszunutzen, die mit gefesselten Händen und Füßen gegen einen Gegner kämpfen müssen, dem der Westen das Eskalationsmonopol zugestanden hat. Die Russen können zur zweiten Phase ihrer psychologischen Kriegsführung übergehen, in der sie in der Ukraine das Gefühl des Verrats durch den westlichen 'Partner' schüren, um den Weg für eine politische Krise zu ebnen - und die soll dazu führen, dass in Kiew getarnte Prorussen an die Macht kommen."

In einem zweiten lesenswerten Artikel erklärt der Historiker Mykola Rjabtschuk, wie zäh sich auch im Westen das "imperiale Narrativ" über die russische Geschichte gehalten hat: Wer erinnert sich nicht an Texte berühmter Russlandexperten wie Jörg Baberowski, die schlicht behaupteten, es gebe die Ukraine eigentlich gar nicht. Ähnliche Zitate sind von Dutzenden Großkopferten von Helmut Schmidt bis Günter Verheugen überliefert. Sie übernahmen hier die Erzählungen sowjetischer Historiker und wichtiger Exilrussen, die in diesem Punkt einmütig die "imperiale Erzählung" hochhielten. Nach dem Mauerfall sah man die Ukraine so: "Die De-jure-Unabhängigkeit verschaffte der Ukraine keine De-facto-Unabhängigkeit. Westliche Experten und die internationalen Medien stützten sich noch immer weitgehend auf die 'imperiale Erzählung' (und die aktualisierte russische Propaganda, die sich diese Erzählung zunutze machte) und beschrieben die Ukraine ständig als 'temporäres Phänomen', 'zerklüftetes Land' oder verächtlich als 'unerwünschtes Kind der Perestroika'. Düstere Vorhersagen über eine unvermeidliche Spaltung der Ukraine entlang zahlreicher regionaler, ethnischer, religiöser und anderer Bruchlinien tauchten immer wieder auf und wurden von apokalyptischen und stark übertriebenen Debatten über die atomare Abrüstung der Ukraine begleitet."
Archiv: Desk Russie

New Statesman (UK), 19.09.2023

David Broder ist sich nach wie vor nicht sicher, wie Giorgia Melonis Politik sich auf die Dauer gestalten wird. In der Außendarstellung bleibt die italienische Premierministerin oft vage, wobei die Rhetorik langsam schärfer wird, auch aufgrund der Konkurrenz von (noch weiter) rechts: "Melonis Tonfall ist weicher als der Roberto Vannaccis, aber auch sie ruft völkische Diskurse auf. Diesen April wurde ihr Agrarminister Francesco Lollobrigida scharf kritisiert, als er von 'ethnischen Säuberungen' sprach, einem Begriff, der den vermeintlichen Austausch einheimischer Italiener durch Ausländer aufruft. In ihrem Buch schreibt Meloni, dass diese Anschuldigungen gegenstandslos sind, da 'Ethnizität' sich auf 'Kultur' beziehe, nicht auf 'physische' Eigenschaften. Sie fügt hinzu, dass in der Tat 'Pläne' bestünden, die italienische Identität auszulöschen. 'Große ökonomische Mächte' bevorzugten afrikanische Migranten gegenüber Osteuropäern, da sie 'besser dazu geeignet' seien, das Italienertum in einem 'Melting-Pot-Plan, einer Mischung, die verdünnt' aufgehen zu lassen." Wenn es um konkrete Politik geht, bleiben die Konturen hingegen vage: "Abgesehen von formalen Dingen beschäftigt sie sich wenig mit den zentralen Problemen der Gegenwart, auch ihre EU-Politik hat wenig Substanz. Ihre Auseinandersetzung mit Ökologie bringt ein wichtiges Thema in den Fokus: Europa darf nicht mehr so abhängig sein von chinesischen Importen. Ihre 'anti-globalistische' Position bleibt allerdings widersprüchlich, da sie weiterhin auf das Reagan'sche Mantra setzt, demzufolge der Staat sich aus der Wirtschaft herauszuhalten habe."

Außerdem: Auch Quinn Slobodian liest, wie derzeit alle Welt, Walter Isaacsons Elon-Musk-Biografie und außerdem ein Buch Jonathan Taplins über vier Milliardäre der Gegenwart. Er steigt etwas tiefer ins Thema ein und stellt den die Weltwirtschaft revolutionierenden südafrikanischen Unternehmer neben einen seiner Vorgänger: Henry Ford. Es gibt einige interessante Gemeinsamkeiten wie etwa die Vorliebe für Verschwörungstheorien, aber letztlich fällt der Vergleich zuungunsten Musks aus: "Worin sich der Unterschied von Fordismus und Muskismus am deutlichsten zeigt: Musk ging es nie darum, eine Welle auszulösen, die alle Schiffe hebt. Es geht um einen Geysir bestehend aus Raketentreibstoff, der ein einziges Schiff - wortwörtlich ein Raumschiff - in die Höhe wirft und ihn selbst mitsamt seinen (bislang) zehn Sprößlingen weit weg bringt von uns Zombies. Was gut für Tesla ist, ist gut für den Mars, ist gut für Musk. Auf der Privatinsel des Milliardärs Larry Ellison hebt Musk seinen Sohn X Æ A-Xii zu einem Teleskop empor und sagt: 'Schau, das ist, wo wir einmal leben werden.' Die schmerzhafte Ironie dieser angeblich futuristischen Vision besteht darin, dass sie in Wirklichkeit alt und angestaubt ist. Seine Fluchtpläne kehren zu dem Ort zurück, an dem er begonnen hat: die vergilbten Landkarten des Großen Treks der Boers nach Südafrika, mit dem Auftrag, die Nachkommenschaft jenseits der verschwindenden Grenze zu mehren. Wie Taplin im besten Kapitel seines Buchs klarstellt, gibt es keine wissenschaftliche Rechtfertigung dafür, einen Fuß auf den Mars zu setzen. Der einzige Grund bestünde im überwältigenden Verlangen danach, allein zu sein."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.09.2023

Die 1987 geborene Theaterkritikerin und Schriftstellerin Panni Puskás veröffentlichte vor kurzem ihr zweites Buch. Im Interview mit Csaba Károly spricht sie über ihren neuen Roman und über die Unmöglichkeit, sich von den eigenen Wurzeln loszulösen aber auch, warum dies gar nicht notwendig sein müsste: "Wo auch immer wir hingehen, ich denke, wir werden immer ein Teil dieser Gesellschaft hier sein. Wir können uns darüber freuen oder darüber auch traurig sein, dass wir Ungarn sind. Dieses Doppelgefühl ergreift mich in der Regel auch, wenn ich die Social-Media-Aktivitäten meiner ausgewanderten intellektuellen Freunde beobachte. Mit immer neueren Posts wollen sie beweisen, dass das System, unter dem wir Gebliebenen leben, unerträglich ist und dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben, nämlich zu gehen Aber ich sehe nur, dass sie den Nachrichten aus Ungarn nicht entkommen können, dass sie also, obwohl sie woanders wohnen, obwohl sie woanders ihre Steuern zahlen, eigentlich immer noch hier leben. (…) Mal abgesehen davon, dass es auch anderswo Probleme gibt. Aber was ich vor allem mit meinem letzten Buch sagen wollte, ist, dass die Lösung nicht in der Flucht liegen kann. Die Lösung besteht darin, sich den Problemen zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, wo auch immer wir sind. Je mehr von uns dazu bereit und in der Lage sind, desto besser wird es uns allen gehen."

New Yorker (USA), 19.09.2023

Sam Knight stellt im New Yorker den in Dänemark lebenden schwedischen Architekten Pavels Hedström (Instagram) vor. Von den japanischen Metabolisten beeinflusst, gehört er zu einer wachsenden Gruppe jüngerer und älterer Architekten, die der Ansicht sind, dass wir in Zeiten des Klimawandels nicht einfach so weiterbauen können wie bisher, dass kleine Verbesserungen nicht helfen, sondern ein grunsätzliches Umdenken erforderlich ist. Immerhin verursacht die Baubranche ein Drittel der weltweiten Emissionen, so Knight. Viel gebaut hat Hedströn noch nicht, aber es geht ihm auch weniger um Gebäude als um Ideen: "'Es geht darum, unseren Verstand umzuprogrammieren, wie wir uns mit der Natur verbinden', sagt er. 'Ich denke, das ist es, was ich erreichen möchte.' Hedström sieht die meiste Architektur als 'eine Membran, die uns schützen und vom Rest der Natur trennen soll'. Seine Absicht ist das Gegenteil: Er möchte, dass das nicht-menschliche Leben nah ist, unentrinnbar. Eine seiner Erfindungen ist der Inxect-Suit, ein PVC-Anzug mit Kapuze und Gesichtsmaske, der auf der Ausrüstung basiert, die bei der Reinigung von Bohrinseln getragen wird, und den sich eine Person mit einer Kolonie von Mehlwürmern teilt. Die Wärme und Feuchtigkeit im Inneren des Anzugs nähren die Würmer, die bestimmte Formen von Plastik verdauen können und dann ihrerseits als Nahrungsquelle für den Menschen dienen können. 'Wie Krabben-Popcorn', sagt Hedström. 'Wirklich lecker.' Ein weiterer Prototyp von Hedström, der Fog-X, ist eine oberschenkellange Outdoor-Jacke, die in einen Unterschlupf umgewandelt und mit Hilfe von leichten Stangen zu einem segelähnlichen Gerät umfunktioniert werden kann, das Trinkwasser aus der Luft sammelt. Eine App liefert Echtzeitdaten zur Überwachung von Nebel und Wolken. Im Februar gewann der Fog-X den internationalen Lexus Design Award für junge Designer und setzte sich damit gegen mehr als zweitausend Einsendungen durch. 'Pavels ist eine Art sehr romantischer, 'Dune'-ähnlicher Charakter, so wie er sich und seine Arbeit präsentiert', sagte mir Sumayya Vally, eine südafrikanische Architektin, die den Serpentine-Pavillon 2021 entworfen und Hedström als Mentorin begleitet hat. 'Es ist dystopisch, aber auch sehr, sehr real.' Paola Antonelli, leitende Kuratorin in der Abteilung für Architektur und Design des Museum of Modern Art, war Mitglied der Jury für den Lexus Award. Sie ordnete Hedströms Arbeit in eine Tradition spekulativer und radikaler Architektur ein, die in den sechziger Jahren begann. Gruppen wie Archigram in London und Archizoom in Florenz stellten sich wandelnde Städte, Plug-in-Städte und die 'No-Stop City' vor, eine Stadt, die von der Architektur selbst befreit ist. Sie loteten die Zukunft aus, um die Gegenwart zu verwirren. 'Wunderschöne Artefakte - also eine große formale Eleganz -, die das Auge anziehen, um dann den Geist zu fesseln', so Antonelli. 'Pavels, gerade aus der Schule gekommen, ist sozusagen der Sohn all dieser Designer.'"

Weitere Artikel: Rebecca Mead erinnert sich anlässlich einer britischen Ausstellung an die Ästhetik der Bloomsbury Gruppe. Rachel Sym beschreibt die Karriere des amerikanischen Designer Thom Browne, der jetzt erstmals eine Kollektion bei den Haute Couture-Schauen in Paris zeigen darf. Vinson Cunningham porträtiert den Theaterautor Jeremy O. Harris. Und Anthony Lane sah im Kino Kenneth Branaghs neuen Poirot-Film, "A Haunting in Venice".
Archiv: New Yorker