9punkt - Die Debattenrundschau
Ausbreitung von Partikularinteressen
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Internet
Nächste Woche stimmt das EU-Parlament über die Urheberrechtsreform ab.
Wenn junge Menschen fürs Klima auf die Straße gehen, werden sie von den Zeitungen gern als rebellische kluge junge Aktivisten gefeiert. Wenn sie gegen die EU-Urheberrechtsreform, an der die Zeitungen ein massives Interesse haben, auf die Straße gehen, beschimpft man sie lieber als Dummköpfe, die das Geschäft der großen Internetkonzerne besorgen. Die Zeit hat sich dafür Jaron Lanier geholt, der einen "fiktiven Dankesbrief an die naiven Aktivisten" schicken darf: "Ein großes Dankeschön aus dem Silicon Valley! Wir danken Euch Europäern, insbesondere Euch jungen Mitgliedern der Piratenparteien, dass Ihr die Linken unschädlich und uns damit reich machen wollt. Manchmal reißen wir Witze darüber. Die ganzen Kids, die das Internet frei und offen halten wollen, selbst wenn das, was sie propagieren, am Ende immer nur unsere geschlossenen, monopolistischen Plattformen stärkt. We love it!"
Im vorderen Teil der Zeit ist dem Thema eine Doppelseite gewidmet. Eine ganze Reihe von Redakteuren stimmt das in dieser Hinsicht sicherlich nicht übermäßig interessierte Publikum des Blatts auf die Position der Verwerterindustrien zu den umstrittenen Artikel 11 und 13 (12 erwähnt ja kaum einer) der EU-Urheberrechtsreform ein und beziehen sich dabei stark auf die Grünen-Politikerin Helga Trüpel die für die Position der "Kreativen" kämpft: "'Das ist ein gutes Gesetz', sagt Helga Trüpel." Als eigentlichen Treiber der Proteste gegen die Reform stellen die Autoren Susan Wojcicki, die Youtube-Chefin, dar. Dass bei der deutschen Politik die andere Lobby gesiegt hat, erwähnen die Autoren aber auch: "Eigentlich hatten CDU/CSU und SPD die Uploadfilter im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Dann aber stimmte die Regierung in Brüssel für die Reform des Urheberrechts und damit indirekt auch für die Filter."
Julia Reda, Piraten-Abgeordnete in Brüssel und Gegenspielerin Helga Trüpels, rät den Verlagen in einem Interview mit Katharina Nocun von Netzpolitik, statt für Artikel 11, 12 und 13 zu lobbyieren, eher für die e-Privacy-Verordnung einzutreten, die personalisierte Werbung im Internet beschränken will - hier sind die Verlage aber auf der Seite von Google und Facebook.: "Die Umsatzeinbußen, die bei den Presseverlagen in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, haben nichts mit Urheberrechtsverletzungen zu tun, sondern mit den Verschiebungen auf dem Werbemarkt. Dass eben durch das Erstarken von Google und Facebook und deren Nutzung persönlicher Daten einfach die Werbung in der Zeitung nicht mehr so lukrativ ist."
Auch Sascha Lobo wendet sich in seiner Spiegel-online-Kolumne nochmal gegen die umstrittenen Artikel der EU-Urheberrechtsreform. "Die alte Verwerterindustrie unterstützt ein Gesetzeswerk, das die Refinanzierung der Kreativität zur Industriesache macht. Das ist ein Gesetz des Kapitalismus: Große Konzerne profitieren von großen Strukturen, die nur sie selbst fachgerecht bedienen können. Die Verwerterreform soll in erster Linie klassische Verwerter alternativlos machen."
Heute muss das deutsche Publikum ohne Wikipedia auskommen. Sie streikt, um gegen die EU-Urheberrechtsreform zu protestieren. In der Erklärung heißt es: "Obwohl zumindest Wikipedia ausdrücklich von Artikel 13 der neuen Urheberrechtsrichtlinie ausgenommen ist (allerdings nicht von Artikel 11), wird das Freie Wissen selbst dann leiden, wenn Wikipedia eine Oase in der gefilterten Wüste des Internets bleibt." "Wie die Wikipedia ihre Rolle im Netz missbraucht", titelt die FAZ zu dieser Aktion der Wikipedia. Stefan Niggemeier hatte vor einigen Wochen in Uebermedien darauf hingewiesen, wie die FAZ bei diesen Thema ihren Ruf als Qualitätsmedium verspielt (unser Resümee) - mit fragwürdigen Recherchen, auf die sich heute auch die Zeit wieder beruft.
Europa
Gesellschaft
Sollte man das Böse nicht beim Namen nennen? Die neuseeländische Premierministiern Jacinda Ardern hat bei ihrer Trauerrede gesagt, sie werde den Attentäter von Christchurch niemals benennen. Viele deutsche Medien verzichten ebenfalls auf Namensnennung. Lin Hierse findet das in der taz richtig. Zwar solle man das Böse beim Namen nennen: "Harry Potters Gegenspieler Lord Voldemort heißt nicht ohne Grund 'Er, dessen Name nicht genannt werden darf', oder 'Du-weißt-schon-wer'. In J. K. Rowlings magischer Welt vermeiden die Menschen den Namen Voldemorts aus Angst. Es sind lediglich die Mutigen, die sich trauen, seinen Namen auszusprechen und ihm auf diese Weise etwas von seiner selbst gewählten Bedrohlichkeit zu nehmen. Doch der Name des Übels, der im Falle von Christchurch ausgesprochen werden muss, ist nicht der Name des Täters. Das Übel trägt die Namen Rassismus, Muslimfeindlichkeit und Menschenhass."
Die "genialste Entscheidung" des 20. Jahrhunderts war Kemal Atatürks Beschluss, die Hagia Sophia zum Museum zu machen, entgegnet Bazon Brock in der Welt insbesondere den Islamisten, die nach dem Attentat von Christchurch fordern, das ehemalige Gotteshaus wieder zur Moschee zu machen. Christlich-orthodoxen und muslimischen Fundamentalisten schreibt er, was man auch Links- wie Rechtsidentitären ins Stammbuch schreiben möchte: "Hier wie überall ist der Kampf um kulturelle Identitäten nur ein Vorwand, Ahnungs- und Kenntnislosigkeit zu verbrämen. Denn Würdigung seiner behaupteten kulturellen Identität kann nur der verlangen, der selbst die Identität anderer anerkennt. Man muss also lernen, die zu würdigen, von denen man sich gerade unterscheiden will. Sonst bleibt man eine prätentiöse Nullität oder ein Gewalttäter, der bei anderen auslöscht, was er für sich reklamiert. Das leuchtet doch wohl ein: Wenn man sich bloß von einer Unerheblichkeit unterscheiden will, bleibt man selbst unerheblich."
Wir werden "geschichtslos", wenn wir die Sprache bereinigen, schreibt die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf in der Zeit, die ebenfalls die Petition gegen den "Gender-Unfug" (Unser Resümee) unterschrieben hat. Sie zitiert ihren Mann Torsten Schulz, der als Universitätsprofessor tätig ist: "Gender, sagt er, ist längst eine Lobbyangelegenheit geworden. Es geht vor allem um Einfluss und Macht, um die Ausbreitung von Partikularinteressen. Die Mehrheit an der Uni fügt sich diesen Gruppen, die nicht bei Sprache haltmachen, sondern besonders in kultur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen ganze Segmente von Forschung und Lehre okkupieren. Und die Studenten? Die Mehrzahl sieht diese Entwicklung kritisch. Sie interessieren sich vielmehr dafür, wie sie nach dem Studium Jobs bekommen. Deshalb gibt es auch einige, die sagen unter vier Augen, dass sie den Zirkus mitmachen, weil sie dadurch vielleicht eine Uni-Karriere ansteuern können."
Das "Rebellische" kann schnell zu einem "gefährlichen Nihilismus" werden, schreibt auch der Psychiater Jan Kalbitzer in der Welt und hat dennoch kein Verständnis für die UnterzeichnerInnen: "Die Sprache so zu verändern, dass sich mehr Menschen in ihrer Vielfalt respektiert fühlen, bedroht weder die Freiheit noch unsere Werte."
Wie haltet ihr es mit dem Gendern?, hat der Tagesspiegel indes bei Verlegern nachgefragt. Helge Malchow von Kiepenheuer und Witsch antwortet etwa: "Wir richten uns nach den Regeln im Duden, die letzte Instanz aber ist immer der Autor, die Autorin. Grundsätzlich finde ich, dass hinter der ganzen Diskussion ein falsches Bild von Sprache steckt. Sie wird als Schlachtfeld benutzt. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne sie von heute auf morgen durch ein paar neue moralisch oder politisch begründete Interventionen verändern. Sprachveränderungen sind ein zäher Prozess."
Kulturmarkt
Geschichte
Ideen
Die Welt druckt die Rede, die Masha Gessen gestern anlässlich des Buchpreises zur Europäischen Verständigung für ihr Buch "Die Zukunft ist Geschichte" auf der Leipziger Buchmesse hielt. Gessen führt noch einmal aus, wie das Erbe des Totalitarismus eine liberale Demokratie in Russland bis heute verhindert, indem Menschen in der Sowjetunion der Möglichkeit beraubt wurden, auf ihre Geschichte zu blicken, wodurch, Gessen zitiert Erich Fromm, eine "psychische Leere" entstand: "Auf Befehl von Lenin wurden mehr als zweihundert der führenden Philosophen, Historiker, Soziologen und andere Gelehrte des Landes auf Schiffe verfrachtet und ins Exil geschickt. Dies, so sagte er, sei die 'humane Alternative zur Todesstrafe' - und anderen erging es noch schlimmer. Im nächsten Jahrzehnt wurden ganze Disziplinen verbannt. Die Soziologie fiel Lenins idiosynkratischer Abneigung zum Opfer - und der Angst des Regimes vor dem Wissen, über das sie verfügen könnte. Die Psychologie wurde faktisch wegtheoretisiert. In der Vision der Bolschewiki von einer marxistischen Gesellschaft würden die Bürger in perfekter Harmonie mit sich selbst und allen anderen existieren. Die Geschichte musste nach den imaginären Gesetzen der totalitären Ideologie neu geschrieben werden."
In der FR ist Arno Widmann sehr zufrieden mit der Auszeichnung für Gessen: "Sie hat sich nicht darum gekümmert, dass Deutsche und Franzosen oder gar Polen und Russen mehr Verständnis füreinander haben. Sie versteht Putin - sie hat ein großartig wütendes Buch über ihn geschrieben -, aber gerade darum bringt sie kein Verständnis für ihn auf. Wer Verständnis für Putins Trauer um den verlorenen Weltmachtstatus aufbringt, wer bereit ist, mit ihm den Zusammenbruch der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu empfinden, der hat die Lage nicht nur nicht verstanden. Er weigert sich, die Augen zu öffnen, um die Welt zu sehen, wie sie ist."
Weiteres: In der NZZ denkt Herfried Münkler sehr grundsätzlich über das Wesen von Grenzen und Strömen nach und plädiert mit Blick auf die EU für ein "praktikables Arrangement" aus beiden. Jens-Christian Rabe (SZ) und Rene Scheu (NZZ) gratulieren Slavoj Zizek zum Siebzigsten. In der auf einer Textsammlung von John Brockmann basierenden SZ-Serie zum Thema "Künstliche Intelligenz" versucht der Psychologe Steven Pinker Ängste vor KI zu entkräften.