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Wem gehören die Inhalte im Internet?

Von Rüdiger Wischenbart
11.12.2006. Eliten contra Schwärme - die Diskussion um die Rechte an Inhalten im Netz wird langsam interessant. Aus der kunterbunten Debatte um Dieter Thomas Heck, Borat und MySpace könnten endlich neue Muster für Wissensproduktion und Kulturvermittlung entstehen.
Jüngst sorgte der Spiegel für einige Aufregung, und zwar mit einem Interview mit Jaron Lanier, der in der Diskursplattform "Edge" über den "neuen digitalen Maoismus" hergezogen war. Lanier, der gerne mittels name dropping darlegt, wer alles seine "friends" seien, polemisiert gegen die "Schwarmintelligenz", die er am schärfsten ausgerechnet in Gestalt der kollektiv redigierten Online Enzyklopädie Wikipedia dingfest macht. Wikipedia, so Lanier, sei deutlichster Ausdruck dieser neuerlichen Kehrtwende in Richtung Kolchose und Kollektivismus.

Gemeint sind mit den Schwärmen die vielen unberechenbaren, unlenkbaren, und deshalb je nach persönlicher Gemütslage der Betrachter helden- bis deppenhaften User, die da ihre wechselhaften Meinungen in Blogs abladen, ihr tägliches Leben in Gestalt von Videos mit Bedeutung auf- und dann irgendwo ins Web raufladen (und wir sollen das dann möglichst runterladen), kurzum jene, die mit ihrer schieren massenhaften Teilnahme anfangs obskure Webseiten plötzlich zu Milliardenfirmen machen, die jedoch schon morgen Milliardenruinen sein können.

Freilich, diese wirtschaftlichen Schwärmereien und Spekulationen interessieren mich weniger. Die plötzlich daraus hochschießende Debatte über Werte - über Eliten contra Schwärme - finde ich hingegen toll. Denn nach der Phase der technologischen Pioniere und, um 2000, nach dem Platzen der Blase der halbrohen Visionen und Phantastereien, leitet die heutige Kontroverse über zur Auseinandersetzung, wie nun all die neuen Vernetzungs-, Kommunikations- und Medientechnologien ins Ganze der Gesellschaft eingebettet werden sollen.

Dabei geht es um Werte. Darüber ist zu Recht zu streiten. Denn dies ist wohl erst richtig der Beginn des Neuen - alles Bisherige waren Präliminarien. Zunächst ein paar Indizien.

Die mit Abstand prächtigste Erkenntniskurve durchlief unlängst Bild, und dies innerhalb von wenigen Tagen: Erst entdeckte das Blatt am Puls der Menge Wikipedia, das populäre Wissensschatzkästlein, das nicht nur alle benutzen, sondern an dem auch alle mitwirken dürfen. "Alle" bezieht sich natürlich, unausgesprochen, auf alle "relevanten" Mitmenschen - und da dürfen die Bild-LeserInnen nicht fehlen.

Auf die Entdeckung folgte jedoch rasch die Ernüchterung: Denn seit Wikipedia nicht nur zum Wissens- und Meinungsarchiv, sondern zur Diskussionszone für fast alle Themen, die sich kommentieren lassen, wurde, sind auch die Helden der "Bild?-Welt davon nicht verschont geblieben. Und solche plötzliche Prominenz zieht, neben ernsthafter Wissensvermittlung, fast zwangsläufig auch den Schalk an wie das Weihwasser alle Teufel und Teufelchen.

Erstes laut Bild prominentes Opfer war Dieter Thomas Heck ("Dieter Thomas Heck in Internet-Lexikon beleidigt"). Bild schlug sich auf die Seite der (Promi-) Eliten, und wetterte gegen die Untugenden von Medien, die vermeintlich die journalistischen Tugenden der Wahrheitssuche im Alltag von Jux und Populismus opferten.

Der Online Dienst Heise fragte danach konsequent und ernsthaft, wer denn öfter vom Pfad korrekter Berichterstattung abweiche, Bild oder Wikipedia. (Archivare erinnern sich indessen an Fehlerquotenvergleiche vor rund einem Jahr zwischen Wikipedia und der Encyclopedia Britannica - mit durchaus ausgeglichenem Ergebnis.)

Zweites Exempel in nahezu gleicher Angelegenheit: Borat alias Ali G alias Sacha Baron Cohen wird für seinen neuesten Schwarm-Spaß von einzelnen Mitgliedern seiner (Schwarm-) Ziel-Community verklagt, die es nicht mehr witzig findet, nicht nur Lacher im Publikum, sondern auch gezielt Opfer der Veräppelung zu sein. Was zeigt, dass es bei unserem Thema nicht nur um die Neuen Medien (Web, Internet), sondern auch um den Brückenschlag zurück zu den etwas älteren (TV, Entertainment, Hollywood) geht.

Interessanter wird die Sache dort, wo sich aktuell Popularität ("Schwarm"), Business ("Eliten"), Recht ("Eliten") und Massenmeinung ("Schwarm") überschneiden. Nach all den dumpfen gerichtlichen Konfrontationen über Urheberrechtsverletzungen gab es neuerdings, innerhalb weniger Wochen, ebenso interessante wie neue Konstellationen.

Der prominenteste Anbieter von Musik online, Apple (iPod und iTunes) will möglichst nicht mehr jede Raubkopie gerichtlich anfechten, sondern arrangiert sich mit einem Musik-Major auf der Basis eines höchst konservativen Kooperationsmodells: Die Rechteinhaber (Musikverlage und Urheber) bekommen einen Fixbetrag für jedes Stück Hardware, so der Vorschlag. Das nannte man, als die Fotokopiergeräte erfunden wurden, "Kopierabgabe", und es galt damals schon vielen als allzu konsensual-heimelige Schrecklichkeit, die Innovation wie Markt zuwiderlaufe.

Gleichzeitig verklagt Universal, also der gleiche Musikkonzern, der sich mit Apple arrangiert hat, die Web 2.0 Plattform von Rupert Murdoch, MySpace, in Sachen Tantiemen. Ein Schalck, der darin eine Aufforderung zum Tanze um künftige Nutzungs- und Tantiemenmuster erkennt - frei nach dem Motto: Entweder wir arrangieren uns, oder wir klagen dich auf jeden einzelnen Song, der irgendwo in den Untiefen Deiner Community-Websites steckt. Kurzum, man kann sich allmählich vorstellen, wie Eliten (Rechteinhaber) und Schwärme (all die Piraten und gedankenlosen User) friedlich wie lukrativ ko-existieren könnten.

Das Meisterstück hat indessen, einmal mehr, Google bei der Übernahme der Video-Plattform YouTube vollbracht: Obwohl sonst alle Detailinformationen bei solchen Transaktionen der obersten Geheimhaltungsstufe unterliegen, sickerte diesmal durch, man habe 200 Millionen Dollar zur Seite gelegt, um all die Rechtsstreitigkeiten beizulegen, die aus den vielen urheberrechtlich geschützten Video- und Musikstücken entstehen könnten, die gerade ein gutes Stück weit die Attraktivität von YouTube ausmachen.

Die Barone der Content-Industrien stellen sich allmählich - endlich - auf ein Arrangement mit den Vielen ein, die für sie und mit ihnen das Land bestellen, und dies langfristig und möglichst zu beider Nutzen. Für solch einen künftigen Frieden ist es gewiss nur gut und billig, einen angemessenen Obulus - auf beiden Seiten - zu entrichten.

Genau an jenem Punkt aber bricht die intellektuelle Debatte nun los, dass es für eine Wissensreferenz untragbar sei, wenn in einer neuen, populären Wissensquelle wie Wikipedia aus krassem Ulk und bloß wegen eines Filmstarts ("Borat") der Eintrag über ein Land abgeändert werde und dann von der Wikipedia Redaktion gesperrt werden muss.

Nun gut. Aber (frei nach Naddel): Es gibt schlimmer: Denn dies bedeutet, aus einigem Abstand betrachtet, keineswegs den Sieg des Schwarms (der Nörgler, Deppen, Kulturlosen) über die Lordsiegelbewahrer des Wissens und der Künste, sondern vermutlich das Weben an einem - langfristig - soliden Musters für Wissen und Kultur.

Es gibt ein paar - und soweit ich es überblicken kann, noch nicht allzu genau erforschte - langfristige Entwicklungsmuster von sozialen Erfindungen zur Schaffung von Wissen und Innovation, die hier zu Buche schlagen.

Nur ein Beispiel: Das Prinzip der Peer Review. In den für Europa frühesten Wissenszirkeln in mittelalterlichen Klöstern wurde es allmählich üblich, dass, neben den Aufsehern der kirchlichen Dogmatik jeweils auch Fachgelehrte den Wert neuer Darstellungen eines Wissensgebietes bewerteten und für diese Wertungen zunehmend Autonomie und Autorität beanspruchten. In der Aufklärung entwickelten sich daraus die Grundprinzipien für jene Peer Review, die bis heute in den Wissenschaften als wichtigste Qualitätssicherung etwa für wissenschaftliche Publikationen gilt.

Heute, mit Web und Web 2.0, erweist sich das Prinzip der Peer Review plötzlich in millionenfacher Vergrößerung als wichtigstes Messinstrument für Vertrauenswürdigkeit im Wildwuchs der Netze, von Amazon (das jedem Kunden einzeln und persönlich mitteilt: "Käufer dieses Titels haben auch dies und jenes gekauft") bis zur Verkäuferbewertung bei eBay.

Die interessante Parallele nicht zur Entwicklung des Web, sondern zur technisierten Moderne der letzten zwei Jahrhunderte, also seit der Einführung von Dampfmaschine, Eisenbahn und zeitnaher Telekommunikation, ist dies: Die technologischen Innovationen katapultieren soziale Wissens- und Meinungsbildungspraktiken einer anfangs erst ganz kleinen Gruppe (also einer "Elite") in den Alltag von Millionen (und heute von Milliarden) von Menschen. Internet und Web sind da nicht neu. Aber sie beschleunigen den Prozess ganz erheblich.

Der aktuelle Streit darüber, wer dabei den Kurs und die Schlagzahl angibt - die Wenigen, die innovative Vorstellungen davon haben, wohin die Entwicklung ihrer Meinung nach gehen sollte, oder die Vielen, die klar sehen, dass es letztlich um sie und um ihr Leben geht - ist an dieser Schwelle genau der richtige Streit (und natürlich füge ich selbstironisch hinzu: Die anfängliche Formulierung "der richtige Streit" ist arg elitär, ja besserwisserisch.)

Wissen ist letztlich jedoch keine Gewissheit, sondern ein sozialer Konsens, auf den sich Eliten und Schwarm mittelfristig verständigen. Nicht in dem Sinn, dass die Wissenden den Schwarm übertölpeln. Und auch nicht, dass der Schwarm irgendwie mit Mehrheitsvotum abstimmt, welche Elitenmeinung die rechte sei. Konsens entsteht aus einem nach beiden Seiten hin verteilten Geben und Nehmen, Recht haben und konterkarieren.

Ich denke deshalb, der aktuelle Streit könnte ein guter Einstieg in eine neue, vernetzte Wissensgesellschaft werden, und ein Abgesang auf die Hexen- (und Piraten-) Verbrennungen der letzten paar Jahre und Jahrhunderte. Allerdings, diese Zwischenzeit wird noch einige Zeit dauern, und damit auch der gute Streit.