Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
10.12.2004. Die großen LIFE-Fotografen, Gedichte von Hans Thill, eine Brigitte-Reimann-Biografie, komische Gedichte von Deutschen, ein erheiterndes Navigationssystem durch vierzig Jahre Bundesrepublik von Klaus Wagenbach.
Feindliche Übernahme

621 Seiten mit 555 komischen deutschen Gedichten aus fünf Jahrhunderten bringt die Sammlung "Hell und Schnell" von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer. 878 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren auf 940 halb so großen Seiten stellt die von Steffen Jacobs herausgegebene Anthologie "Die komischen Deutschen" vor. Beide Werke sind mit Nachworten versehen, die über die Auswahlkriterien aufklären, und beide Anthologisten sind überrascht und ein wenig stolz auf die vielen komischen Gedichte, die sie bei ihrer Arbeit gefunden haben.

Es gibt eine Schnittmenge. Sie ist aber kleiner als man denkt. Natürlich wird, wer in den Bänden blättert und liest, bei dem einen oder anderen Gedicht denken: Was fanden die komisch daran? Aber es bleiben doch eine ganze Reihe von Texten, die die unterschiedlichsten humoristischen Gelüste befriedigen können. Allerdings wird, wer den Versuch unternimmt, einfach auf Seite eins anzufangen und so von Gedicht zu Gedicht weiter zu lesen, bald feststellen, dass es ihm schwer fällt. Das dauernde auf eine Pointe-hin-lesen ist anstrengend. Der Lachmuskel bekommt schnell einen Kater.

Die Sammlung Gernhardt-Zehrer nimmt es vielleicht auch deshalb nicht so genau mit der Komik. Heinrich Heines "Mein Herz, mein Herz ist traurig..." ist großartig und schrecklich, ein Meisterwerk schwarzer Romantik. Selbst bei allergroßzügigster Auslegung gelingt es mir nicht, es in die Kategorie des komischen Gedichts zu legen. Allenfalls hat der Knalleffekt der letzten Zeile "Ich wollt, er schösse mich tot" auch etwas Komisches. Aber es ist eine Komik des Vortrages, keine des Inhalts. Es ist klug, gleich zu Beginn der Sammlung einen solchen sperrigen Fremdkörper in eine durch ihr Thema sonst leicht ins Schnurrige, Possierliche abgleitende Anthologie zu mischen. Das schafft einen Grundton, der über vieles gar zu Verträgliche hinweg hilft. Ein paar Seiten später findet man auch Jakob van Hoddis "Weltende".

Auch in Steffen Jacobs Anthologie heißt es:

"Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken."

Gedichte wie dieses hat man schülergenerationenlang in den Ernst hinein interpretiert, sodass ihre ursprüngliche Komik kaum noch zu sehen war unter all dem, was man über sie zu denken angehalten wurde. Ein Hauptreiz beider Anthologien liegt genau darin, dass sie nicht nur das Komische zeigen, sondern es auch da, wo wir es nicht ahnten, sichtbar machen.

Der in Frankfurt/Main lebende, "Pardon" geschulte Robert Gernhardt hat es sich nicht nehmen lassen, den ehemaligen Herausgeber und Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, Karl Gerold, einen Meister der unfreiwilligen Komik, mit aufzunehmen in sein Hausbuch. Die Zeilen für Gustav Heinemann aus dem Jahre 1970 seien zitiert:

"Unsere Zeit ist eine Brandung
mit gefährlich Fels und Riff,
Masse bringt uns die Versandung,
Leitung lenkt der Zukunft Schiff!"

Heinz Erhardt und Wilhelm Busch tummeln sich in beiden Sammlungen. Aber Hölderlin aufzunehmen, hatte nur Gernhardt die Chuzpe. Hölderlin, der hohe Priester des noch höheren Tones, ist der natürliche Feind der Liebhaber der Komik. Er steht für das, wogegen sie Sturm laufen. Die Infamie, mit der Gernhardt Hölderlin aufnimmt, ist völlig frei von jeder Komik. Es handelt sich um nichts als eine feindliche Übernahme. Wir bewundern sie. Endlich lachen wir über den armen Gefangenen:

"Auf falbem Laube ruhet
Die Traube, des Weines Hoffnung, also ruhet auf der Wange
Der Schatten von dem goldenen Schmuck, der hängt
Am Ohre der Jungfrau.

Und ledig soll ich bleiben
Leicht fanget aber sich
In der Kette, die
Es abgerissen, das Kälblein.

Fleißig"

Nun, das ist ein Fragment und zum hohen Ton gehört, dass er seine eigene Parodie gleich mit liefert. Hier ist er so schön getroffen, als habe Gernhardt selbst nach ihm geschossen.

Steffen Jacobs hat auf die Aufnahme "unfreiwilliger Komik" verzichtet: "Weil sie sich nicht primär aus dem Gedicht selbst, sondern aus dessen literaturwissenschaftlicher Interpretation speist, haftet ihr der Ruch der Fachidiotie, des Insider-Jokus an. Wo Bäcker- und Klempnerwitze außen vor bleiben mussten, ist nicht einzusehen, dass Germanistenwitze eine Ausnahme bilden." Das ist nun selbst nicht ohne Komik. Nur in den seltensten Fällen wird die unfreiwillige Komik eines Gedichts ja durch die literaturwissenschaftliche Interpretation aufgedeckt. Viel öfter doch gerade durch den Verzicht auf sie. Die Wissenschaft ist schließlich selbst einer der fruchtbarsten Produzenten unfreiwilliger Komik. Zehrer sieht das Prekäre des Genres mehr darin, dass man sich nicht ganz so sicher sein soll, was den Grad an Unfreiwilligkeit angehe. Das Mischungsverhältnis von Ernst und Spaß ist bei jedem anders.

Beide Bände stellen sich die Frage, warum ausgerechnet die Deutschen so gerne komische Gedichte schreiben? Die Seiten, auf denen die Autoren das tun, sind zwar völlig versfrei, gehören aber nicht zu den unkomischsten der beiden Bände. Ich glaube, die Frage stellt sich nur dem, der sich in anderen Literaturen nicht umgesehen hat nach komischer Dichtung. Mit ein wenig Zeit und Geduld ließen sich aus der englischen und italienischen, ja sicher auch aus der spanischen und französischen Literatur ähnlich umfangreiche Anthologien herstellen. Wir Deutsche haben nicht weniger Sinn für Komik als die anderen Völker, und wir haben ihn auch nicht weniger in der Literatur ausgelebt, wir haben aber sicher auch nicht mehr, obwohl der Versuch unserer Anthologisten, uns zu Weltmeistern im Komischen Fach zu machen, dieser Illusion Nahrung geben könnte. Aber komischer Größenwahn ist auch keine deutsche Spezialität.

Vom Ernst, mit dem auch Freunde der Komik nicht nur ihr heimatliches Territorium, sondern auch ihre ganz privaten Claims verteidigen, zeugt eine Notiz in Steffen Jacobs "Die komischen Deutschen": "Dieser Band sollte ursprünglich 12 Gedichte von F.W. Bernstein und 14 Gedichte von Robert Gernhardt enthalten. Leider haben die Autoren einem Abdruck ihrer Werke nicht zugestimmt."

Zum Abschluss sei noch Wolf Wondratschek zitiert, den es nur bei Steffen Jacobs gibt:

"Einer schreit Hilfe,
doch niemand hört.
Ich sage, angenehm diese Wohnung,
wo einer schreien kann
und nicht stört."

"Hell und Schnell - 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten". Herausgegeben von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2004, 621 Seiten, 24,90 Euro. ISBN 3-10025-505-4.

"Die komischen Deutschen - 878 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren". Ausgewählt von Steffen Jacobs. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2004, 940 Seiten, 17,50 Euro ISBN 3-86150-531-2.


Mythos der Reportage

Es macht Spaß alte Fotobände durchzublättern. Das beginnt bei Familienalben und endet bei "Die großen LIFE Fotografen". Oder umgekehrt. Die Vorteile bei den Familienfotos liegen auf der Hand: Man erinnert sich an die eigene Geschichte, man kennt fast jeden. Die Nachteile sind ebenso offensichtlich: Die Aufnahmen sind fast alle unscharf und das, was man hatte festhalten wollen, spielte sich meist gleich rechts oder links neben dem Foto ab. Die LIFE Fotografen dagegen haben alles genau im Focus. Es gibt keine Unschärfen. Es gibt nicht einmal schlechte Fotos.

Aber auch das ist ermüdend. Man darf die 608 Seiten mit den 600 Aufnahmen in Farbe und Duotone nicht einfach durchblättern, man muss den dicken Band immer wieder hinlegen, muss sich Pausen gönnen, sonst ist einem anschließend so schlecht wie nach einem Abend vor dem Fernseher, den man mit Zappen verbracht hat. Glücklicherweise ist der Band nicht chronologisch geordnet, dann nämlich wäre die Versuchung, in einem Schnelldurchlauf die eigene Lebensgeschichte mit der von LIFE zu konfrontieren, zu groß. Das Buch ist alphabetisch geordnet - nach den Namen der Fotografen. Der Band beginnt also mit Carlo Bavagnoli, Jahrgang 1932 und endet mit John Zimmerman (1927-2002). Dazwischen 97 Fotografen, darunter Margaret Bourke-White (1904-1971), von der das Titelfoto der ersten Ausgabe von LIFE stammte, Robert Capa, dessen Aufnahme eines tödlich getroffenen spanischen Milizionärs aus dem Jahre 1936 zu den berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts gehört, David Douglas Duncans (1916) Picasso in der Badewanne, Alfred Eisenstaedts (1898-1995) atemraubende Sophia Loren, Milton Greenes (1922-1985) Bilder der fast transparenten Marilyn Monroe, Lennart Nilssons (1922) farbige Fetusaufnahmen aus dem Jahre 1965, der Hoffotograf der Kennedys, Mark Shaw (1922-1969), und W. Eugene Smith' (1918-1978) Albert Schweitzer. Um nicht einmal die bekanntesten zu nennen.

Man beginnt die Fotografen zu beneiden. Sie kommen überall hin. Joe McNally (1952) zum Beispiel hat Leonard Bernstein beim Komponieren fotografiert und die Feuerwehrmänner von Ground Zero, Michelle Pfeiffer (noch eins) und den Völkermord in Ruanda. (Mehr Fotos hier.) Niemand kennt die Welt so gut wie ein Fotograf. Zu seinem Glück kann er sie sich mit der Kamera, mit der er sie sich heranholt, auch vom Leib halten.

Das zwanzigste Jahrhundert war ein Jahrhundert des Krieges. Die LIFE Fotografen waren ganz wesentlich solche des Todes. Allein 21, so unterrichtet uns das Vorwort des Buches, berichteten als Kriegskorrespondenten von den Fronten des Zweiten Weltkrieges. Wer die Fotos aufmerksam betrachtet, der bemerkt bald, dass Kindersoldaten nichts Neues und keine afrikanische Spezialität sind.

Das Buch ist natürlich auch ein Geschichtsbuch. Ein unfreiwilliges und dadurch vielleicht besonders interessantes. Da ist jene berühmte Aufnahme von Margaret Bourke-White, aus dem Kentucky des Jahres 1937, die eine Schlange von Menschen zeigt, die um Lebensmittelzuteilungen anstehen. Hinter ihnen ein riesiges Plakat mit einer fröhlich Auto fahrenden Familie. Zwei Slogans stehen auf dem Plakat: "World's highest standard of living" und "There's no way like the American Way". Es wäre interessant zu wissen, ob irgendwo - verdeckt von den um ihre Ration anstehenden Afroamerikanern - auf diesem riesigen Plakat doch noch Reklame für eine Automarke gemacht wurde, oder ob es in den USA damals Plakate gab, die - spiegelbildlich zu denen in der UdSSR - statt eines Produkts das Gesellschaftssystem selbst propagierten.

Es ist gut, dass der eine oder der andere Fotograf ein paar Worte über die Entstehung seiner Fotos sagt. Es wird dann klar, dass es sich keineswegs immer um erhaschte Augenblicke, sondern oft auch da, wo der Laie es nicht bemerkt, um kunstvolle Inszenierungen handelt. Harry Benson (1929) erklärt zum Beispiel zu seiner Aufnahme von Oliver North - jenem Marineoffizier, der an den geheimen, widerrechtlichen Waffenlieferungen der Reagan-Regierung an Iran und die Contras in Nicaragua beteiligt war: "Ich wollte, dass die Aufnahme wie die Propagandaporträts von Hitler aussieht ... wie ein SA-Mann." Das ist ihm sicher gelungen. Die Pointe aber ist wohl, dass North und seine Freunde das Porträt superchic fanden. Propaganda kann auch mächtig daneben gehen.

Bei den Texten gibt es merkwürdige Formulierungen. Ich habe leider nichts herausbekommen über die Vita von Ralph Crane, aber es macht doch nachdenklich, wenn man liest, dass er "in einer deutschen Kleinstadt geboren wurde, wo sein Vater und sein Großvater als Ärzte arbeiteten" und ein paar Zeilen später: "1941 zog Crane in die USA". Ein Umzug mitten im Krieg? Man grübelt: Hatte er das nationalsozialistische Reich schon vorher verlassen und kam aus England oder gar aus China in die Staaten? Man grübelt aber auch über den Texter, der das so hinschreiben konnte, und über den Herausgeber Robert Sullivan, dem daran nichts auffiel. Vielleicht aber, so grübelt man weiter, war der englische Text länger und erst durch die Kürzung kam es zu diesem unvermittelten "Umzug". Aber das ist unwahrscheinlich. Der Band ist optisch ganz und gar ein amerikanisches Buch. Allerdings wurde er, wir leben im Zeitalter der Globalisierung, in China gedruckt.

Die Texte genau zu lesen, lohnt sich noch aus einem anderen Grund. Man kann erst dann begreifen, wie die Qualität dieser Aufnahmen zustande kam. Zu einer Folge von sechs schwarz-weiß-Fotos von Bill Eppridge (1938) aus dem Jahre 1965 heißt es: "Für diese Geschichte lebte Eppridge zwei Monate mit einem Junkie Paar. Um die beiden zu überreden, dass sie ihn und einen Autor in ihre Welt aufnahmen, erklärte er ihnen, sie hätten damit die Chance, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Das Paar überlegte es sich und sagte schließlich: 'Okay, das ist eine Möglichkeit für uns, etwas Gutes zu tun.' Eppridge ging derart in der schäbigen, hoffnungslosen Welt der Heroinsüchtigen auf, dass die Drogenpolizei ihn einmal fast verhaftete - sie waren davon überzeugt, er habe seine Kameras und seinen LIFE-Ausweis gestohlen. Erst als der Autor des Artikels hinzukam, konnte die Sachlage geklärt werden." Mancher Leser wird seine Zweifel an dieser Darstellung der Sachlage haben, aber dass die Fotografen damals in einem Umfang Zeit hatten für ihre Arbeit und Geld, von dem heute niemand mehr auch nur träumen kann, das wird deutlich.

Manchmal wuchsen die Fotoreportagen sich zu Büchern aus und einmal sogar zu einem der größten Bucherfolge des zwanzigsten Jahrhunderts. Horace Bristol (1908-1997), festangestellter Fotograf von LIFE, war mit seinem Vorschlag, in der Zeitschrift Platz für eine große Reportage über die von der verheerenden Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre betroffenen Amerikaner zu schaffen, bei seinem Arbeitgeber zunächst auf Ablehnung gestoßen. Bristol entschloss sich, ein Buch über die Wanderarbeiter zu machen - wie Dorothea Lange schon eines gemacht hatte - und gewann John Steinbeck als Autor der Bildunterschriften. "Nach zwei Monaten zog Steinbeck sich aus dem Projekt zurück mit der Begründung, es stecke zwar tatsächlich ein Buch in dem Thema, doch sähe er es eher als einen Roman. Später erklärte Bristol, Steinbeck habe seinen Anteil bei der Entstehung von 'Früchte des Zorns' nie anerkannt."

Das vielleicht erschütterndste Foto (Bild links) stammt von George Rodger (1908-1995). Es entstand 1945 in Bergen Belsen und zeigt einen kleinen Jungen wie er mit abgewandtem Gesicht an auf einer Böschung niedergelegten Leichen vorbei geht. Man ist so erschrocken, dass man das Foto zunächst für einen Schnappschuss hält, bis man genauer hinsieht und einem klar wird, dass der Junge jedenfalls den Fotografen bemerkt hat, und dann liest man den Text, in dem es heißt: "Er (George Rodger) überlegte, wie er die Toten und Sterbenden Fotografieren solle, und 'plötzlich dachte ich, mein Gott, was tue ich überhaupt? Das ist das Ende... das absolute Grauen... und ich denke nur an eine gelungene Bildkomposition'." Vielleicht hatte Rodger den Jungen den Weg entlang gehen gesehen und ihn gebeten, noch mal ein paar Schritte zurück zu gehen, um ihn fotografieren zu können. Vielleicht hatte er den Jungen aber geholt, weil er dachte - zu Recht dachte - das Foto ist besser mit dem Jungen.

Dass das Buch einen nicht dumm macht, nicht am Mythos der Reportage strickt, sondern auch dem Leichtgläubigen hilft, die Aufnahmen kritisch zu sehen, ist nicht genug zu rühmen.

"Die großen LIFE Fotografen". Herausgegeben von LIFE. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wulfekamp. Einführung von John Loengard, ein Rückblick von Gordon Parks. Schirmer/Mosel Verlag, München 2004, 608 Seiten, 600 Fotografien in Farbe und Duotone, Format: 20,3 x 25,4 cm,49,80 Euro. ISBN 3-8296-0156-5.


Die eigenen Zähne

In dem neuen Gedichtband "Kühle Religionen" von Hans Thill findet sich ein Gedicht, das hier ganz zitiert sei:

"Er ging jetzt klirrend wie auf
Tassen kleidete sich bunt nach Art
der Steppentiere die in seinem Innern
reißaus nahmen

Seine Haut war trockener geworden
knarzte im Schritt. Essend füllte
er seine sandigen Eingeweide
während die Gürtellinie langsam

Richtung Kehlkopf stieg
ging er auseinander in zwei
gleichschwere Teile die sich in der
Mitte eines Längsschnitts trafen

Der eine knatternd und vollgetankt
der andere bereits ausgeräumt
wie ein Maul das im Schlaf
die eigenen Zähne frißt."

"Hälfte des Lebens" ist das Gedicht überschrieben. Damit der Leser eine Ahnung davon bekommt, wie der in Baden-Baden geborene seit Jahrzehnten in Heidelberg als Dichter und Übersetzer lebende Hans Thill verfährt, sei Friedrich Hölderlins gleichnamiges Gedicht ebenfalls zitiert:

"Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen."

Es ist schön, wie Thill die letzte Zeile Hölderlins aufnimmt und weiter geht. Weiter zurück in die Wirklichkeit, aus der Hölderlin - jeden Nerv anspannend - sich entfernt hatte. Wer beim Lesen der letzten Zeilen von Thills Gedicht "wie ein Maul das im Schlaf die eigenen Zähne frißt" nicht spürt, wovon sie schreiben, der hat die "Hälfte des Lebens" noch nicht erreicht.

Hans Thill: "Kühle Religionen". Gedichte. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2003, 104 Seiten, 17,90 Euro. ISBN 3-88423-212-6.


Die Tragödie unserer zwei Deutschland

Brigitte Reimann (1933-1973) war eine der bekanntesten Autorinnen der DDR. Sie schrieb Hörspiele und Drehbücher, Erzählungen, Reportagen, hinterließ Romane und Tagebücher. 1968 weigerte sie sich, dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag zuzujubeln. Sie starb nach langer Krankheit an Krebs.

Der von Margrid Bircken und Heide Hampel vorgelegte Band "Brigitte Reimann - Eine Biografie in Bildern" ist ein Rückblick auf die frühen Jahre der DDR und auf die Schwierigkeiten, sich in dieser Gesellschaft als Schriftsteller zu definieren. Zu den Schwierigkeiten, die jeder hat, der glaubt, sagen zu müssen, was ihn bedrängt, kam in der DDR hinzu, dass es ein Staat war, der sich als Gesellschaft verstand. Der Staat hatte nicht nur das Gewaltmonopol, sondern auch das ökonomische und das Meinungsmonopol. Er definierte alles, also auch, was ein Schriftsteller war. Es war kein Stalinismus mehr, man konnte, selbst wenn man sich der Definition nicht beugte, überleben, aber es war für die harmlosesten Schritte, ja schon für bloße Erwägungen, so viel Kraft nötig, die man lieber und sicher auch effektiver für die schriftstellerische Arbeit selbst eingesetzt hätte.

Die sogenannten gesellschaftlichen Anforderungen an den Autor waren groß. Wer sie durchstand, war stärker geworden. Aber was war so großartig daran, seine Texte mit Arbeitern durchdiskutieren zu müssen, die es auch nicht aus Interesse taten, sondern dafür abkommandiert worden waren? Diese Welt, in der Schriftsteller besangen, dass innerhalb von vier Jahren eines der größten Braunkohlewerke der Welt entstand, ist uns fremd. Wir verstehen nicht mehr, warum die Staatsführung Wert darauf legte, und warum die Schriftsteller es - keineswegs alle und keineswegs immer - ungern taten. Das Pathos der Produktion ist uns fern gerückt. Wir sind wieder vertrauter mit den Schwierigkeiten des Schreibens.

1956 war Hoyerswerda nicht viel mehr als Heide. Ein paar Jahre später standen das Werk und die Stadt. Brigitte Reimann war begeistert: "Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, dass ich den ganzen Tag wie besoffen herumlief. Hoyerswerda und das Kombinat werden noch oft genug - falls dies literarisch überhaupt zu bewältigen ist - in Erzählungen oder sogar einem Roman auftauchen." So schreibt sie im September 1959 in ihrem Tagebuch. Am 26.1.1960 notiert sie etwas ganz anderes: "Diese ganze Stadt Hoyerswerda war mir unsympathisch in ihrer aufdringlichen Neuheit (obgleich ich recht gut weiß, was die schönen, komfortablen, sonnigen Wohnungen für unsere junge Stadt und für die Bewohner bedeuten, die zum größten Teil aus engen und beengenden Verhältnissen kommen); sie hat keine Tradition, keine Atmosphäre, sie ist nur modern. Gewiss ist dies nicht ohne Romantik - aber es ist ein Ding, für einen Tag schwärmerisch besichtigend durch die von Balken und Bauschutt unebenen Straßen zu wandeln, und es ist ein ander Ding, selbst in dieser Stadt zu wohnen, als einer unter Tausenden."

Es macht die Qualität des Buches aus, dass diese beiden Äußerungen neben einander stehen. Zusammen lassen sie ahnen, was in der jungen Frau vorging. Man hat das Gefühl, ihrem Denken zuschauen zu können. In der Klammer des Zitats steht, was Brigitte Reimann Wissen nennt. Es ist nichts anderes als die offizielle Deutung des Geschehens. Sie hat sie sich zu eigen gemacht, dabei widerspricht sie Reimanns Empfindungen und dem, was sie sieht. Dieser Konflikt zwischen dem - von der Partei - vorgegebenen "Wissen" und der Erfahrung, der Anschauung durchzieht das ganze Buch wie er das Leben der Brigitte Reimann und vieler anderer Autoren und Bürger der DDR durchzog. Am 29.4.1960 notiert sie in ihrem Tagebuch über ihren Bruder:

"Lutz ist mit Gretchen und dem Krümel in den Westen gegangen (er ist eben jetzt - vielleicht nur zwei oder drei Kilometer entfernt und dennoch unerreichbar - im Flüchtlingslager Marienfelde). Spüre zum ersten Mal schmerzlich - und nicht nur mit dem Verstand - die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das gegeneinander von Bruder und Schwester - welch ein literarisches Thema! Warum wird es von keinem gestaltet, warum schreibt niemand ein gültiges Buch?"

"Brigitte Reimann - Eine Biografie in Bildern". Herausgegeben von Margrid Bircken und Heide Hampel. Aufbau Verlag, Berlin 2004, 224 Seiten, 290 s/w Abbildungen, 22,90 Euro. ISBN 3-351-02582-3.


Standortvorteil Berlin

Man schiebt dergleichen gerne als Werbebroschüre beiseite, gibt sich belästigt. Aber das ist in diesem Falle einfach nur dumm. "Warum so verlegen?" ist eine überaus vergnügliche und intelligente Anthologie zum Thema des Untertitels: "Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft". Klaus Wagenbach hat sie zusammengestellt zum 40-jährigen Jubiläum seines Verlages. Es kommen also Wagenbach selbst und seine Autoren zu Wort. Das sind jede Menge großer Namen: Ingeborg Bachmann, Johannes Bobrowski, Gianni Celati, Aime Cesaire, Ernst Jandl, Franz Kafka, A. L. Kennedy, Giorgio Manganelli, Pier Paolo Pasolini, Javier Tomeo. Aber es sind auch die, die der Revolte der sechziger und siebziger Jahre zur Sprache verhalfen: Wolf Biermann, Rudi Dutschke, Erich Fried, Ulrike Meinhof, Peter Schneider. Dem jungen Leser wird alles neu sein und schon darum interessant oder doch wenigstens exotisch. Wer "Über den Kolonialismus" schon kennt oder Kurt Wolffs "Vom Büchermachen" oder Erich Frieds "Höre, Israel" wird die alten Texte wiederlesen mit dem Gefühl, wie fremd, ja manchmal rätselhaft ihm geworden ist, was er damals für so klar und eindeutig richtig hielt. Wer sich gefangen nehmen lässt von dem Buch, und es liest von der ersten bis zur letzten Seite, der macht eine Zeitreise, einen schnellen Ritt über die letzten vierzig Jahre bundesrepublikanischer Geschichte, gesehen durch die Brille eines Mannes, der 1979 den Standortvorteil, den ihm Berlin als Sitz seines Verlages bot, folgendermaßen beschrieb:

"In Westberlin musste ich viel Zeit in den architektonisch ja nicht gerade berückenden Sälen des Landgerichts zubringen, stets in Begleitung meines lieben Freundes Otto Schily - und wir haben alle Prozesse (und alle wegen Gedrucktem!) redlich verloren; Ost-Berlin steuerte ein siebenjähriges Durchreiseverbot bei, so lernte ich meine Flugangst überwinden und machte - notgedrungen, weil angeschnallt - viele Bekanntschaften. Berlin hatte den Vorteil, dass man sich hier ziemlich sicher auf deutschem Boden befindet. Alles ist da: die Ordnung und der Größenwahnsinn, altdeutscher Stuck und neudeutsches Plastikuniversum, Wüstenrot und Betonsilo, Herrenmensch samt Schäferhund. Als Verleger zeitgenössischer Literatur und als Linker kann man ohne ein Verhältnis zu seinem Volk und seiner Geschichte nicht arbeiten. Ich sage Verhältnis, das schließt Konsens und Dissens ein. Reden wir also vom Dissens, das heißt von Anarchie, Geschichtsbewusstsein, Hedonismus."

Wagenbachs eigene Texte - die heute beigesteuerten wie die in den vergangenen vierzig Jahren geschriebenen - sind ein sehr informatives und erheiterndes Navigationssystem durch die ein wenig gar zu schnell vergangenen Jahrzehnte. Das Nachwort seiner Gattin, der neuen Verlagsleiterin Susanne Schüssler, trägt den Titel "Reizende Aussichten". Die bietet der Text, die bieten alle Texte und die wünschen wir dem Verlag und Klaus Wagenbach.

"Warum so verlegen? - Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft". Herausgegeben von Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004, 160 Seiten, zahlreiche s/w Fotos, 5 Euro. ISBN 3-8031-2487-5.