Vom Nachttisch geräumt

Berichte aus einer vergangenen Hölle

Von Arno Widmann
27.02.2017. Bestätigt die schlechten Ansicht vom Menschengeschlecht insgesamt: Band 8 und 12 der Reihe "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945".
"Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945" ist ein auf 16 zeitlich und territorial gegliederte Bände geplantes Mammutprojekt.  Bisher sind neun Bände erschienen (Leseproben zu Band 2, Band 3, Band 5 und Band 7). Vor mir liegen zwei. Der 2016 erschienene "Band 8 Sowjetunion mit annektierten Gebieten II" und der im Jahr davor erschienene "Band 12 West- und Nordeuropa Juni 1942- 1945". Band 8 hat 762 Seiten, Band 12 896. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt alle 16 Bände von der ersten bis zur letzten Seiten lesen wird. Ich zum Beispiel blättere immer wieder darin. Warum ich das tue? Ich weiß es nicht.

Ich tue es nicht in der Erwartung, etwas ganz und gar Neues zu lesen. Ich lese darin auch nicht, wie manche gerne vermuten, als Bußübung für das, was die Deutschen Juden angetan haben. Ich lese es auch nicht einmal als Erinnerung daran, was Juden haben erleiden müssen. Ich lese es mehr als Bestätigung meiner schlechten Ansicht vom Menschengeschlecht insgesamt. Ich halte die Naziverbrechen nicht für einmalig. Ich halte sie nicht für das Schlimmste und Schrecklichste, das jemals geschehen ist. Schon weil ich nicht an den Wettbewerb um den besten Menschen glaube und darum auch nicht an den um den schlechtesten. Ich lese in diesen und ähnlichen Bänden immer wieder, um mich - das klingt paradox - daran zu erinnern, dass dergleichen auch heute passiert.

Mal in einer entfernten Ecke der Welt, mal ganz nahe. Die abgedruckten Dokumente - Berichte von Tätern und Opfern, Verwaltungsakte und Augenzeugenäußerungen - bilden ja meist nicht das Große-Ganze, den umfassenden Völkermord ab, sondern eine Szene in einem französischen Dorf oder in einer Stadt in Weißrussland. Dieser Blick aufs Detail erschreckt immer wieder. Nicht nur, weil man es so genau dann doch nicht wusste, sondern weil die Mordaktion einem dadurch näher rückt. Wie eine Großaufnahme. Aber auch, weil das Detail vergleichbar ist. Beim Ganzen melden sich sofort die Stimmen, die sagen, der Holocaust ist nicht vergleichbar mit irgendetwas sonst in der Weltgeschichte. Wer die Details betrachtet merkt schnell, dass alle verglichen werden können mit anderen Massenmorden.

Friedrich Fenz (1892-1943) kämpfte 1919 in einem deutschen Freikorps im Baltikum, 1928 trat er in die NSDAP ein, 1934 in die SA, 1939 als Hauptmann in die Wehrmacht. 1941 war er Hauptkommissar in Baranowicze. Im Wikipedia-Artikel über die Schlacht steht: "Im Gegensatz zu umliegenden Gemeinden konnten die meisten Juden in Baranowicze, trotz einiger Massenerschießungen, das Jahr 1941 überleben. Das lag daran, dass in der Stadt Arbeitskräfte benötigt wurden. Friedrich Fenz legte dagegen in einem geheimen Schreiben Einspruch ein. Er erklärt den Zustand, dass die deutsche Wehrmacht gerne auf Juden als Dienstpersonal zurückgreift, für "auf Dauer unhaltbar". Er plädiert dafür, sich die Wehrmachtslisten der zur Arbeit kommandierten Juden genau anzusehen. "Selbst bei Offizieren in verantwortungsvollen Dienststellungen trifft man oft auf eine völlig instinktlose Einstellung zur Judenfrage."

Sein Schreiben - oder doch der erhaltene Teil davon - endet mit den Worten: "Eventuelle Klagen der Wehrmacht über ein zu rücksichtsloses Vorgehen der Zivilverwaltung in der Judenfrage müssen im Hauptbezirk Baranowitsche zurückgewiesen werden. Wenn hier jüdische Facharbeiter dem Standrecht verfielen, so geschah dies s. Zt. durch die Waffen-SS, die allerdings radikal auftrat, oder durch die Wehrmacht selbst, wie dies in der Stadt Mir der Fall war, wo der Ortskommandant alle Juden erschießen ließ."

Man sieht wie die verschiedenen Ziele des NS-Staates und so auch seine Organe in Konflikt miteinander geraten. Die Anmerkungen, denen ich zum Beispiel die biografischen Daten über Friedrich Fenz entnehme, stehen dankenswerter Weise unten auf der Seite. Wer sich für das Geschehen im genannten Mir interessiert, der geht zum Ortsregister und stößt zum Beispiel auf Oswald Rufeisen, ein Jude aus dem polnisch-tschechischen Grenzgebiet, den es nach Mir verschlagen hatte. Er hatte, so erfährt man aus dem Bericht des deutschen Polizisten Reinhold Hein, die Juden in Mir vor dem anstehenden Massaker gewarnt. Hein schreibt: Rufeisen gab seiner Zeit an, Pole und Vollwaise zu sein. Er hatte absolut keine jüdischen Manieren und sprach ein reines Deutsch. Kein Mensch hatte in ihm einen Juden ersehen." Rufeisens Aktion hatte dazu geführt, dass etwa einhundert Juden den Pogrom der Wehrmacht überlebten. Rufeisen selbst floh. Er überlebte den Krieg u.a. in einem Nonnenkloster und als Partisan. Er wurde nach dem Krieg Karmeliter, ging 1959 als Seelsorger nach Israel, wo er 1998 76-jährig starb.

Aus dem anderen Band nur eine ganz kurze Passage. Pierre Laval (1883-1945) war auf Druck von Adolf Hitler gegen den nicht so kooperationsbereiten Henri Philippe Pétain im April 1942 zum französischen Ministerpräsidenten ernannt worden. Am 6. Juli 1942 schreibt Theodor Dannecker (1913-1945), Judenreferent des Reichsicherheitshauptamtes, an die Leitung seiner Behörde in Berlin: "Präsident Laval hat vorgeschlagen, beim Abschub jüdischer Familien aus dem unbesetzten Gebiet auch die unter 16 Jahre alten Kinder mitzunehmen. Die Frage von im besetzten Gebiet zurückbleibenden Judenkindern interessiert ihn nicht."

"Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945", Band 12 West- und Nordeuropa Juni 1942-1945, bearbeitet von Katja Happe, Barbara Lambauer und Clemens Maier-Wolthausen, Mitarbeit: Maja Peers, De Gruyter/Oldenbourg, Berlin, München, Boston 2015, 896 Seiten, 59,95 Euro.

"Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945", Band 8 Sowjetunion mit annektierten Gebieten II, bearbeitet von Bert Hoppe, Mitarbeit: Imke Hansen, Martin Holler, De Gruyter/Oldenbourg, Berlin, München, Boston 2016, 762 Seiten, 59,95 Euro.