Vom Nachttisch geräumt

Huber vor Jesus

Von Arno Widmann
03.06.2015. Ein sehr kursorisches Blättern in den letzten 25 Seiten des dicken Handbuchs der Evangelischen Ethik.
Ich habe den Band nicht gelesen. Ich notiere nur, was sich ohne Lektüre zu dem Buch sagen lässt. Ob es etwas über das Buch aussagt? Mich hat es jedenfalls dazu bewogen, das Buch nicht zu lesen.

Auf 736 Seiten schreiben 10 Autoren zehn Artikel über: Grundlagen und Methoden der Ethik; Rechtsethik; Politische Ethik, Ethik des Sozialen; Wirtschaftsethik; Ethik der Kultur; Ethik der Lebensformen; Bioethik des Menschen; Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen; Umweltethik. Von den zehn Autoren sind zwei Frauen. Sie schreiben über "Ethik der Kultur" und "Umweltethik". Alle sind Theologen. Abgesehen von der Verfasserin des kürzesten Beitrages, des über "Ethik der Kultur", sind alle Autoren Professoren. Einer davon ist außerplanmäßiger Professor. Herausgeber sind die Professoren: Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter. Wolfgang Huber war von 2003 bis 2009 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Nun ein paar Blicke in Personen- und Sachregister und natürlich ins Verzeichnis der Bibelstellen. Betrachtet man letzteres, fällt einem auf, dass, zählt man nach, von den 232 zitierten Bibelstellen 129 aus dem Alten Testament stammen. Wer jetzt auf die "Zehn Gebote" tippt, liegt falsch. Die beiden Stellen, an denen sie - leicht variierend - im Alten Testament auftauchen, sind Exodus (2. Buch Mose) 20, 2-17 und Deuteronomium (5. Buch Mose) 5, 6-21. Diese Stellen werden - immer vorausgesetzt die Register und meine Zählung sind korrekt - 8 respective 4 Mal erwähnt. Wer das Buch nicht liest, könnte auf die Vermutung kommen, die zehn Gebote spielten für die evangelische Ethik eine geringere Rolle als zum Beispiel Jürgen Habermas, der 16 Mal erwähnt wird.

Probieren wir es stattdessen einmal mit der Bergpredigt. Sie steht im Matthäusevangelium, in den Kapiteln 5-7. Der Autor lässt Jesus seine Lehre von einem Berg hinab - daher der Name - verkündigen. Man darf, ja man soll, das als eine Parallele verstehen zum Berg Sinai, von dem aus Moses den Israeliten Gottes Gebote mitbrachte. 16 Mal spielt die Bergpredigt eine Rolle auf den mehr als 700 Seiten dieser evangelischen Ethik. Sie zieht also immerhin gleich mit Habermas. Der Brief des Apostels Paulus an die Römer wird 29 Mal erwähnt. Dabei geht es zu fast gleichen Teilen um Paulus" Vorstellung, dass wir alle Sünder seien und um seine Erörterungen zum Verhältnis von Christ und Staatsmacht. Für viele wird christliche Ethik am besten an zwei Stellen im Neuen Testament zusammengefasst. Einmal von Paulus: "So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung." (Römerbrief, 13,10) und einmal von Jesus selbst: "Und einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5.Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten." (Matthäus 22, 35-40). Die Paulusstelle kommt im Buch zweimal vor. Die zitierten Jesusworte einmal.

Überhaupt Jesus. 21 Mal hat er einen Auftritt. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant dagegen als Rekordhalter 34 Mal. Dicht gefolgt von den 30 Erwähnungen des Professor Huber. Für 12 davon sorgt der Herr durch Selbstzitate. Jesus kommt bei ihm zweimal vor. Sehen wir nach den protestantischen Vätern. Welche Rolle spielen sie in der von mir ungelesen gebliebenen Evangelischen Ethik des Jahres 2015? Luther, der bei Huber auch nur zweimal vorkommt, hat insgesamt 27 Auftritte, also weniger als die Helden dieses Werkes Kant und Huber. Karl Barth kommt 22 Mal vor. Einmal mehr als Jesus. Es macht mir Spaß, mir seinen Kommentar dazu vorzustellen. Aber er hätte natürlich noch ganz anderes zu sagen, denn er hätte gewiss nicht darauf verzichtet, das Buch zu lesen. Bonhoeffer hat 16 Auftritte, Calvin 5, Peter Dabrock, einer der Autoren, 13, Melanchthon 5, Schleiermacher 9, Zwingli einmal. Und noch eines: Zwischen "Verfügungswissen" und "Vergewaltigung" fehlt im Sachregister dieses Handbuchs der Evangelischen Ethik die "Vergebung".

Zum Trost ein Monument protestantischer Ethik: Bachs Kantate "Jesu meine Freude"



Handbuch der Evangelischen Ethik, hrsg. von Wolfgang Huber, Torsten Meireis und Hans-Richard Reuter, C.H. Beck Verlag, München 2015, 736 Seiten, 34 Euro.