Vom Nachttisch geräumt

Kunst ist auch eine Frage des Formates

Von Arno Widmann
14.10.2015. So schön kann altmodisch sein: Rosie Sanders "Überwältigende Blüten"
Die Blüten werden meist gemalt, als wären sie von hinten beleuchtet. Zum Beispiel die durchscheinenden, orangenfarbenen Canna. Die Zartheit der Äderung des Blütenblattes wirkt dadurch prägnanter. Die Pflanze wird als moderne, lichtdurchflutete Architektur sichtbar. Glasnost. Wer - wie ich - Rosie Sanders nicht kennt, der gehe aber jetzt erst einmal an seinen Computer, gebe ihren Namen ein und sehe sich die Aufnahmen an, die das Internet ihm bietet. Eine ist darunter, die mit einem Schlag deutlich macht, worum es ganz wesentlich bei Rosie Sanders Kunst geht. Sie ist leider in dem gerade erschienenen eindrucksvollen Buch nicht zu finden. Auf dem Foto sieht man die Künstlerin vor einem ihrer Bilder stehen: Die Blüte ist doppelt so groß wie der Kopf der Malerin. Kunst ist auch eine Frage des Formats. Andy Warhols Campbell-Dose wäre Einszueins eine schlecht gemalte Kopie gewesen. Die Vergrößerung rückte die Ansicht in eine andere Dimension.

Ähnlich geht es offenbar mit den Bildern der Rosie Sanders. Ihre Gegenständlichkeit wird hyperrealistisch. Das Licht spielt dabei eine wichtige Rolle, aber das Format eben auch. Ein Buch kann das nicht wiedergeben. Der Schweizer Journalist und Gartenliebhaber Andreas Honegger, der die Texte zu Sanders" Bildern geschrieben hat, weist zwar immer wieder auf die Übergröße der Bilder hin, aber wirklich begriffen habe ich es erst durch dieses eine Foto im Internet.


Blüte von Rosie Sanders

Vielleicht wäre Rosie Sanders längst nicht "nur" eine berühmte Früchte- und Blumenmalerin, sondern eine Berühmtheit des internationalen Kunstmarktes, wären ihre Bilder drei, vier oder gar fünf Meter groß. 140 mal 184 Zentimeter - so groß sind die Canna im Buch - sind offenbar nicht genug, um so groß rauszukommen. Vielleicht aber sind Aquarelle ganz allgemein nicht marktgerecht. Ganz sicher ist auch ein Fehler, dass die Bilder keine Titel haben. Sie werden durch das auf ihnen Abgebildete identifiziert. Das ist das Gegenteil von Kunst. Jedenfalls im derzeitig herrschenden Verständnis. Auf Rosie Sanders" Website kann man Reproduktionen, Bücher und Originale kaufen. 180 Pfund kostet die Reproduktion der orangenfarbenen Canna. Genau so viel ist für den Druck eines Bildes hochhackiger blauer Damenschuhe zu zahlen. Bei den Originalen fand ich keine Preise.

Wen die Frage nach Kunst oder Nicht-Kunst kalt lässt - es gibt sehr gute Gründe für diese Haltung -, der findet in den Texten von Andreas Honegger Aufklärung über die abgebildeten Blumen, wie auch über ganz andere Aspekte der Arbeit von Rosie Sanders. Da ist zum Beispiel der Hinweis darauf, dass die geflammten Rembrandttulpen ihre Farbunregelmäßigkeit einem Virus verdanken. Oder dass Jahr für Jahr allein in Europa 200 Millionen Orchideen der Gattung Phalaenopsis verkauft werden. Andreas Honegger verweist auf Videos, die Rosie Sander beim Malen zeigen. Man kann das auch auf Youtube tun. Wer es ganz ernst meint, der kann in ein um 1800 erbautes Haus in die Nähe von Dartmoor in Devon und dort einen der Malkurse von Rosie Sanders besuchen: Bett, Frühstück, Mittag- und Abendessen mit Wein, Tee, Kaffee für eine Person 550 Pfund. Vom 4. bis 8. November gibt es wieder einen.

Rosie Sanders: Überwältigende Blüten, Sandmann Edition, mit Texten von Andreas Honegger, 160 Seiten, mehr als 90 Farbabbildungen, 38 Euro.