Außer Atem: Das Berlinale Blog

Hunde und Füchse: Arpád Bogdáns "Genezis" (Panorama)

21.02.2018.


Der neun Jährige Risci ist ein aufgeweckter Junge: Er bewundert die Welt mit leuchtenden Augen, umsorgt liebevoll seinen Hund und verspricht seinem Vater, der wegen Holzdiebstahls im Gefängnis sitzt, gut auf seine Mutter aufzupassen. Er lebt mit ihr in einer abgelegenen Roma-Siedlung, auf dem ungarischen Land. In dessen herbstlichen nebelverhangenen Feldern soll sich ein mysteriöser "Pistolen-Mann" herumtreiben, der Hunde erschießt, um sie anschließend zu essen. Der Schuss, der plötzlich vor dem friedlichen Haus fällt und Riscis Alptraum wahr werden lässt, fällt gleich nach einer grausigen Ouvertüre, die den kommenden Schrecken vorausahnen lässt: Fenster werden eingeworfen, Hütten und Autos in Brand gesetzt, Schüsse fallen. Der Junge wird verwundet, die Mutter stirbt.

Mit Riscis Augen, die keinerlei kindliche Naivität mehr kennen, schauen wir auf eine Realität, die geschlagene Wunden wieder und wieder aufreißt: Risci wird während des Sportunterrichts von seinen Klassenkameraden so heftig beschimpft und mit dem Ball beworfen, dass seine Schusswunde wieder aufplatzt. Mit solcher Sinnbildhaftigkeit inszeniert der Film all seine drei Kapitel. Diese drehen sich jeweils um einen der Protagonisten, die mit dem Ereignis im Roma-Lager auf verschiedene Weise verstrickt sind: als Opfer, als Freundin des Täters, als Anwältin, die den Täter verteidigen soll.

Spätestens mit dem Auftauchen von Virág, der jugendlichen Freundin eines Neonazis, der an der Tat beteiligt war, wird erkennbar, dass sich bestimmte Motive wiederholen: Immer wieder tauchen die Protagonisten in der Badewanne unter die Wasseroberfläche, sodass Geräusche nur noch gedämpft wahrzunehmen sind. Wie im Gegensatz dazu lodert immer wieder Feuer über die Leinwand, und Hunde wie Füchse erscheinen fortlaufend als Hauptfiguren der nebligen Tristesse - als liebkoste Verbündete, als Feinde, die aus Notwehr umgebracht werden müssen oder als totes Versteck auf der Ladefläche eines Jeeps. "Ich esse kein Hundefleisch", sagt der apathisch gewordene Risci einmal, als seine Großeltern ihn zum Essen nötigen und stopft sich dann wütend und seinem Ekel zum Trotz das Fleisch in den Mund. Milán Csordás verkörpert den traumatisierten Jungen mit derart eindrücklicher Heftigkeit in Blick und Gestik, dass einem der Boden unter den Füßen wankt, so sehr spürt man seine Trauer, seine Wut, sein Verlorensein.

Die Vielschichtigkeit, mit der Bogdán die Geschichte erzählt, nimmt immer weiter zu mit den zwei folgenden Kapiteln um die melancholische Bogenschießerin Virág, die zunächst zu ihrem Täter-Freund steht, sich später aber abwendet, und um die Anwältin Hanna, die im Gerichtsprozess nur schwer ihre Rolle einnehmen kann. Es entsteht ein komplexes Gefüge. Die genauen Hintergründe des Angriffes stehen nicht im Fokus der Erzählung, vielmehr liegt ein Blick auf den weitreichenden Folgen jener Tat, die nicht nur allein die Opfer selbst trifft, sondern das Herz der Gesellschaft.

So wird nach und nach ein gewaltiger Deutungshorizont offen gelegt: Motive erinnern an Worte, die Verluste des Einen werden zu verwirklichten Wünschen des Anderen. Dabei begegnen sich die drei Charaktere nur flüchtig: durch ein paar rechtmäßige Fragen während des Prozesses, durch einen gestreiften Blick. Wer steht für wen ein? Bogdán verhandelt diese Frage in bildgewaltigen Aufnahmen, die eine sehr präzise gesetzte oder stellenweise verstummende Musik untermalt, bis der Wille zur Vergeltung in Sinnlosigkeit verpufft.

Genezis - Genesis. Árpád Bogdán. Mit Milán Csordás, Anna Marie Cseh und Enikő Anna Illési. Ungarn 2018, 120 Minuten (Vorführtermine)