Außer Atem: Das Berlinale Blog

Nach Sex und Liebe süchtig: Rebecca Millers Berlinale-Eröffnungsfilm "She Came to Me"

Von Thekla Dannenberg
17.02.2023.
Sing, o Muse... Peter Dinklage in "She Came to Me"

Eine Kapitänin ist eine wunderbare Figur, und Katrina gehört in die oberste Liga tougher Frauen. Sie ist Kapitänin auf einem Schleppkahn, der die Route zwischen Baton Rouge und New York befährt und nun an einer Mole von Brooklyn vor Anker gegangen ist. Marisa Tomei gibt sehr selbstbewusst diese Herrin über achtzig Tonnen Stahl. Man könnte auch sagen, sie ist die Königin des Schleppens, des Abschleppens und Verschleppens, besonders von Männern. Wenn sie einen Kerl erst einmal an Bord gebracht hat, gibt es für ihn kein Entkommen mehr, nicht nur, weil sich ihre Kajüte als behagliches Liebesnest erweist und sie unter ihrem Blaumann Spitzenwäsche trägt. Ihr erster Offizier ist ein ehemaliger, wegen Mordes verurteilter Sträfling, aber auch auf den Rest ihrer Besatzung ist Verlass, auf Maat, Matrose und mitreisende Tante. Von ihren Ärzten weiß Katrina, dass sie nach Sex und Liebe süchtig ist und dies etwas Ungesundes. Sie hat es schon so oft mit Entzug versucht, aber sie kommt einfach nicht von der Droge los.

In einer schraddeligen Bar trifft sie eines Vormittags auf den Opernkomponisten Steven, den Peter Dinklage als so mürrischen wie soziophoben Künstler in der Schaffenskrise spielt. Woher könnte die Inspiration kommen? Vielleicht von einer Muse? Die beiden sind wie für einander gemacht, um sich gegenseitig die Ängste und Zwänge auszutreiben. Und tatsächlich: Dank Katrina werden Stevens amouröse Abenteuer große Oper. Allerdings lebt Steven noch mit der Psychologin Patricia zusammen, von deren Neurosen der Putzfimmel die harmloseste ist. Denn in ihrem Innersten meldet sich der Katholizismus ihrer Mutter zurück. Jetzt soll ihre Reinheit auch spirituell werden, Anne Hathaway gibt den Traum in Blütenweiß.

Rebecca Miller lässt die drei Exzentriker in ihrer Romantik-Komödie "She Came To Me" mit Lust an Spiel und Übertreibung übereinander stolpern. Man hätte nicht gedacht, dass dieses Genre noch viel Witz bereit hält. Aber es funktioniert auch bei Miller nur bedingt: Zu Hilfe kommt der Regisseurin das Opernsetting, in dem sich noch jede abstruse Liebesgeschichte zu einem Drama von wagnerianischer Dimension aufdonnern lässt. Das Schöne an der Oper ist ja, dass sie sich selbst nicht ganz ernst nimmt und trotzdem an ihre eigenen Märchenhaftigkeit glaubt. Dass die Sopranistin bei der Premiere die Synkopen verschleppt, versteht sich von selbst.

Allerdings scheint dieser Strang des Films schnell zu Ende erzählt, weswegen Miller ihn mit einer jugendlichen Romanze verbindet, in der Romeo und Julia weniger als revoltierende Liebende erscheinen denn als Musterschüler New Yorker Bürgerlichkeit. Ein krasser Wechsel im Format, von hier an wirkt alles ein wenig zusammengestoppelt, auch die Witze zünden nicht mehr: Patricias achtzehnjähriger Sohn Trey ist schwer verliebt in die sechzehnjährige Tereza, für die High School basteln die beiden zusammen klimaneutrale Häuser, sie nennen sich selbst Futuristen. Als Tereza reaktionärer Vater, der am Wochenende historische Schlachten nachstellt, aber auch sonst gern den Colonel gibt, hinter die Liebschaft kommt, will er dem Jungen einen juristischen Strick aus der Verführung Minderjähriger drehen. Von der Unbedingtheit jugendlicher Liebe lässt Miller wenig übrig. Stattdessen lässt sie die beiden ausgerechnet auf die Idee kommen, aus New York nach Delaware zu fliehen, um dort zu heiraten. Rebecca Millers Komödie, die stürmisch-verrückt anhob, landet konventionell in seichten Gewässern.

Im vorigen Jahr hat Carlo Chatrian den Wettbewerb noch mit François Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant" eröffnet, in diesem Jahr scheint er sich wieder dem Druck zu beugen, über den roten Teppich die Stars aus Hollywood defilieren zu lassen. Dabei läuft Rebecca Millers Film nicht einmal im Wettbewerb, sondern als Weltpremiere im "Berlinale Special". Chatrian trennt damit Wettbewerb und Trubel, aber auch Politik: Vor Millers Gute-Laune-Film wurde zur Eröffnung der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zugeschaltet, der den Anwesenden ins Gewissen redete, sich nichts aus der Politik herauszuhalten.

Der Wettbewerb hätte in diesem kaum für internationalen Glamour gesorgt. Große Namen finden sich allenfalls in der Jury, die mit den Schauspielerinnen Kristen Stewart und Golshifteh Farakhani, den Regisseurinnen Valeska Griesebach und Carla Simon sowie den Regisseuren Radu Jude und Johnnie To sehr interessant  besetzt ist. Man kann nur hoffen, dass sie ein gutes Auge für diesen Wettbewerb entwickelt, in dem wenig prominente Namen zu finden sind, viele Debüts, keine europäischen Autorenfilmer von Rang, auch kein afrikanisches Kino. Die fünf deutschen Regisseuren bilden ein krasses Missverhältnis. Junges Kino muss nicht zwangsläufig ein Zeichen von Zweitklassigkeit sein. Wenn es gut für Chatrian und die Berlinale läuft, werden die vielen jungen und unbekannten Namen im Wettbewerb nach den Jahren von Kino-Krise und Pandemie einen neuen Aufbruch fürs Kino markieren.

Der Perlentaucher wird in den nächsten zehn Tagen vor allem über den Wettbewerb berichten, vereinzelt aber auch über Highlights aus den Nebenreihen Encounters, Panorama und Forum.

Thekla Dannenberg

"She Came to Me". Regie: Rebecca Miller. Mit Peter Dinklage, Marisa Tomei, Anne Hathaway, und anderen. USA 2023, 102 Minuten. (Alle Termine)