Bücherbrief

In einem fremd-fernen Kosmos

16.10.2019. Tommy Orange feiert ein poetisch-drastisches indianisches  Powwow. Erik Fosnes Hansen blickt melancholisch auf die Grandezza eines Grand Hotels der Achtziger zurück, Sandra Newman rappt die Apokalypse und Gilles Kepel legt sein opus magnum zu den Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten vor. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Tommy Orange
Dort dort
Roman
Carl Hanser Verlag. 288 Seiten. 22 Euro

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Tommy Orange ist Sohn einer weißen Mutter und eines Vaters vom Stamm der Cheyenne, weiß also, wovon er schreibt, wenn er uns in seinem Debütroman aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte von zwölf Native Americans erzählt, die sich alle sehr unterschiedlich auf ein Powwow, ein traditionelles indianisches Fest vorbereiten. Die KritikerInnen feiern das Debüt des jungen amerikanischen Autors einstimmig: Oranges HeldInnen führen im Alltag teilweise ganz normale Stadtleben als Postbotin, Drogenberater oder Filmemacher, sind aber auch immer wieder
mit Alltagsrassismus konfrontiert. Aber auch die Identitätssuche gestaltet sich nicht immer ganz einfach, und so lernt der ein oder andere per Youtube indigene Tänze. Gabriele von Arnim bewundert im Dlf-Kultur das Einfühlungsvermögen, mit dem Orange erzählt. Wobei er die Natives keineswegs glorifizert: Wenn er aus verschiedenen Perspektiven und in "feinen Abstufungen" von sehr unterschiedlichen, aber stets gebrochenen Lebensläufen erzählt, so Judith von Sternburg in der FR. Dass es registrierte, nicht registrierte und nicht berechtigte Stammesmitglieder gibt, lernt die Rezensentin hier ebenso, wie sie erfährt, dass auch die Schichtzugehörigkeit eine Rolle spielt. Für NZZ-Kritikerin Angela Schader ist der Roman eine "wohlabgewogene Mischung aus Wut und Klarsicht".

Erik Fosnes Hansen
Ein Hummerleben
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 384 Seiten. 24 Euro.

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Besonders viel norwegische Literatur aus dem diesjährigen Buchmessen-Gastland haben uns die KritikerInnen bisher noch nicht präsentiert. Aber Erik Fosnes Hansens "Hummerleben" klingt ziemlich erfrischend. Dlf-Kritiker Holger Heimann verrät uns, dass der Roman autobiografisch geprägt ist. Hansen entführt uns hier in die Grandezza eines Grand Hotels der 80er Jahre in den norwegischen Bergen, in dem der Lack längst ab ist, die Hoteliersdynastie aber den Schein noch aufrecht erhält. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive des 13jährigen Sedd, der bei seinen Großeltern, den Hoteldirektoren aufwächst. Für Heiman  liegt darin der Clou des Romans: So entstehe eine komische Diskrepanz zwischen der rosigen Vorstellung des Kindes und der rauen Wirklichkeit. Die Freude des Autors an der Schilderung der Realitätsverweigerung seiner Figur überträgt sich auch auf den Leser, versichert Heimann. In der SZ findet auch Christian Mayer die Idee raffiniert und auf erheiternde Weise überzeugend. Das Buch vergleicht er mit Vicki Baums "Menschen im Hotel" und Irvings "Das Hotel New Hampshire", auch wenn die Nebenstränge weniger gut gelingen, wie er findet. "Melancholisch, wortreich, sehnsuchtsvoll und nostalgisch" erscheint Annemarie Stoltenberg im NDR der Roman.

William Melvin Kelley
Ein anderer Takt
Roman
Hoffmann und Campe Verlag, 304 Seiten, 22 Euro

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Wie konnte dieser Autor bisher nur an uns vorbeigehen, fragt sich eine fassungslose Angela Schader in der NZZ und ist glücklich, dass zumindest Kelleys Debütroman von 1962 nun von Dirk van Gunsteren ins Deutsche übersetzt wurde. Wenn ihr Kelley hier innerhalb von drei Tagen und nur aus der Perspektive der weißen Dorfbewohner die Geschichte um den schwarzen Farmer Tucker Caliban erzählt, der Pferd und Kuh erschießt und sein Haus in Brand steckt, um dann mit Frau und Kind das Südstaaten-Kaff zu verlassen, bewundert die gefesselte Kritikerin wie Kelley "gewohnte Denkschemata" hinterfragt. Und wenn der Autor ganz unaufgeregt schildert, wie Tucker schließlich immer mehr Afroamerikaner folgen, bis der Staat ein Drittel seiner Einwohner verliert und dabei erst zum Schluss des Romans die ganze Abgründigkeit seiner Geschichte entfaltet, erkennt Schader die große Kunst des Autors. In der FR staunt Sylvia Staude, wie Kelley in den hier geschilderten Ansichten der Weißen auch eine geradezu visionäre Aussicht auf aktuelle Migrationsdebatten entwirft. Im Dlf-Kultur lobt Maike Albath das Verdienst, den Leser zum Nachdenken über Rassismen und das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft anzuregen.

Sandra Newman
Ice Cream Star
Roman
Matthes und Seitz. 667 Seiten, 28 Euro.

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Kein Buch hat diesen Monat mehr Aufsehen erregt als Margaret Atwoods "Die Zeuginnen", (Bestellen) die Fortsetzung ihres vor 34 Jahren erschienenen Romans "Der Report der Magd". Die Reaktionen der KritikerInnen fielen allerdings äußerst ambivalent aus. Empfehlen wollen wir deshalb lieber die ebenfalls gerade erschienene Dystopie der amerikanischen Autorin Sandra Newman, die uns in "Ice Cream Star" von einer Welt erzählt, in der nur junge Afroamerikaner ein mysteriöses Virus überleben. Newmans toughe 15jährige Heldin muss sich auf der Suche nach einem Gegenmittel quer durch die USA schlagen und gegen katholische Extremisten, korrupte Regime und Clans behaupten. Die RezensentInnen loben vor allem Newmans Sprache: In der NZZ bewundert Angela Schader neben der temporeichen und vielschichtigen Story den schrägen, von Gallizismen und Neologismen durchsetzten Sound, den Milena Adam ihrer Meinung nach treffend ins Deutsche übersetzt hat. Als "Rap-ähnlichen Fantasieslang" bezeichnet Johannes Kaiser im Dlf-Kultur die Sprache, die er ebenso bewundert wie Newmans Vermögen, Gegenwartsbezüge zur amerikanischen Gesellschaft herzustellen und auf die Spitze zu treiben. So eine außergewöhnliche junge literarische Heldin wird man lange suchen müssen, meint Spon-Kritikerin Anne Haeming, die sich in diesem "fremd-fernen Kosmos" wie einer Szenerie aus "Blade Runner" fühlt. Eine weitere Besprechung in der New York Times.

Gusel Jachina
Wolgakinder
Roman
Aufbau Verlag. 591 Seiten. 24 Euro

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Ein Schmöker über das Schicksal der Wolgadeutschen? Funktioniert, wenn man den KritikerInnen glaubt. Gusel Jachina erzählt uns die Geschichte des Lehrers Jakob Iwanowitsch Bach, der sich in eine seiner Schülerinnen, die Bauerntochter Klara verliebt und mit ihr im Versteck zusammenlebt, bis sie vergewaltigt wird und bei der Geburt des aus diesem Gewaltakt entstandenen Kindes stirbt. Bach zieht sich in Einsamkeit und Sprachlosigkeit zurück, übernimmt aber die Verantwortung für das Kind. Im Dlf Kultur lobt Olga Hochweis Jachinas Detail- und Einfallsreichtum, die bildgewaltige Sprache, Sinnlichkeit und "filmische Präzision", lernt aber auch einiges aus den Exkursen über die Geschichte der Russlanddeutschen. Auch taz-Kritikerin Katharina Granzin staunt, wie Machina hinter der Kulisse des Zweiten Weltkriegs magischen Realismus aufscheinen lässt. Nur auf die wenigen Kapitel, in der die Autorin aus der Sicht Stalins erzählt, hätte Granzin verzichten können. Dass Jachina zu Melodramatik und opulenten, auch grausamen Bildern neigt, geht auch für Maria Frisé in Ordnung: Für sie ist der Roman  nicht nur ein buntes Sprachgewebe aus Märchen, Legenden und Geschichte, sondern so etwas wie das "tragische Epos" der Wolgadeutschen. Im WDR steht Renate Nabers Kritik online.

Sachbuch

Michael Jeismann
Die Freiheit der Liebe
Paare zwischen zwei Kulturen. Eine Weltgeschichte bis heute
Carl Hanser Verlag. 352 Seiten, 26 Euro

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Dieses Buch möchte man gern Nationalisten auf den Nachttisch legen. Der Historiker Michael Jeismann schreibt hier die Weltgeschichte interkultureller Paarbeziehungen nieder und erntet dafür nicht nur von seinem Kollegen Axel Weidemann in der FAZ Lob: Wenn der Autor ihm die facettenreiche Parade "gemischter" Paare von Gilgamesch und Ishtar bis Setsuko Koizumi und Lafcadio Hearn vorführt, dabei Hindernisse und Verbote und ihren Wandel durch die Zeiten und Orte und die Bedeutung von Märchen als "Mutmacher" vorführt, ahnt der Kritiker, wie sich kollektive Fremdheit überwinden lässt. Schade, dass nur wenig Zeitgenössisches zu finden ist, meint er, als Plädoyer gegen die "Vereindeutigung der Welt" empfiehlt er das Buch aber gern. In der SZ folgt auch Hannelore Schlaffer dem Historiker gern durch die Erzählungen von Götterlegenden, Frauen, die es wagten, über ihren Stand hinaus zu lieben und Paaren, die sich über nationale Grenzen hinweg fanden. Dass die Widerstände, die jene Paare überwinden mussten, stets in der Familie begannen und erst dann vom Staat intensiviert wurden, lernt sie in diesem geschickt Geschichte und Poesie verbindenden Buch ebenfalls. Eine Prise mehr Psychologie und etwas mehr sprachlichen Pepp hätte sie sich allerdings schon gewünscht. Im Dlf-Kultur spricht der Autor über Liebe zwischen den Kulturen.

Gilles Kepel
Chaos
Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen
Antje Kunstmann Verlag. 448 Seiten. 28 Euro

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Der französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel gilt als einer der renommiertesten Kenner des politischen Islam und des radikalen Islamismus. Dennoch hat sein neues Buch über die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten seit 1973 erst eine Besprechung erhalten, die aber fällt hymnisch aus: Als opus magnum, Summe eines Gelehrtenlebens preist Jürgen König im Dlf dieses Werk, in dem ihm Kepel  erzählt, wie die arabischen Ölförderländer mit dem Jom-Kippur-Krieg und der drastischen Erhöhung der Rohölpreise die Bühne der Weltpolitik betraten, und wie kurz darauf der iranische Ajatollah Chomeini mit der Fatwa gegen Salman Rushdie nachzog und die gesamte Erde zum Geltungsgebiet des Islams machte. Kepel sprach mit Bauern, Politikern, Opfern, Soldaten und Dshiadisten ebenso wie mit Opfern terroristischer Gewalt, klärt König auf, der allerdings vorwarnt: Wenn der Autor Radikalisierung, Afghanistankrieg, Irakkrieg, Islamischen Staat und Arabischen Frühling rekapituliere und auch die muslimischen Glaubensrichtungen im Detail erläutere, verlange er seinen Lesern einiges ab. Der Lohn dafür ist laut König allerdings reichlich: Überschäumender Kenntnisreichtum, eine präzise Struktur und ein üppiger Anmerkungsapparat machen das Werk zu einem "grandiosen" Buch, versichert er.

Edward Snowden
Permanent Record
Meine Geschichte
S. Fischer Verlag. 432 Seiten. 22 Euro

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Die Welt ist schlechter geworden, seit uns Edward Snowden mit dem Heldenmut eines engagierten Bürgers über die Machenschaften der NSA und die Gelüste der "Five Eyes" informierte. Seitdem ist er ausgerechnet ins Moskauer Exil verbannt, in eine Falle, die fast so unbezwingbar scheint wie bis vor kurzem Julian Assanges ecuadorianische Botschaft. Seine Enthüllungen kamen im Jahr 2013. Aber seitdem ist die von Snowden beschriebene real existierende Dystopie um einige Grade akuter geworden: Russland zeigte, dass man ausländische Wahlen gewinnen kann. Und China lauscht den Hirnströmen seiner Bürger. Nun hat Snowden seine Memoiren veröffentlicht, und überall erschienen weltexklusive Interviews, die die Welt nicht mehr hinterm Ofen hervorlockten. Lesenswert aber dürfte Snowdens Buch auf jeden Fall sein: "Was für ein seltsam gewöhnlicher Mann!", rief der bekannte Autor Jonathan Lethem in seiner Kritik in der New York Review of Books nach der "großartigen Lektüre" (unser Resümee). Sehr viel ungnädiger schreibt dagegen die Historikerin Jill Lepore im New Yorker (Unser Resümee): "Google, Facebook und Amazon wissen viel mehr über US-Bürger als die NSA." Nun ja, könnte Snowden erwidern. Aber anders als die Regierung haben sie nicht das Gewaltmonopol. Und dann ist da wie gesagt das warnende Beispiel des chinesischen Staats.

Kathryn Lomas
Der Aufstieg Roms
Von Romulus bis Pyrrhus
Klett-Cotta Verlag. 541 Seiten. 32 Euro.

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Als "großen" Wurf bezeichnet der Althistoriker Stefan Rebenich in der SZ dieses Buch seiner britischen Kollegin Kathryn Lomas, die ihm in ihrer Monografie die Aufstiegsgeschichte Roms nachzeichnet. "Richtungsweisend" erscheint ihm der Ansatz de Autorin, die anders als die bisherige Forschung, römische Geschichte nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund italienischer Geschichte erzählt, um Mythen von der Gründung der Stadt zu erhellen. So betrachte die Autorin etwa wesentliche Transformationen seit der Bronzezeit, um Rückschlüsse auf die römische Frühzeit zu ziehen. Überhaupt lobt Rebenich, dass sich Lomas nicht auf die Geburt der "res republica" versteife, sondern sich auf die Ursprünge und Frühzeit der Stadt konzentriere. Interessiert liest er auch nach, dass Rom ein hoch effizientes politisches, militärisches und völkerrechtliches Bündnissystem aufbaute, das ganz Italien umfasste und den hegemonialen Anspruch sicherte. Dass die Autorin Kontroversen innerhalb der Forschung aufgreift und kommentiert, verbucht der Rezensent ebenfalls als Gewinn. Nicht zuletzt lobt Rebenich die Übersetzung durch den Althistoriker Uwe Walter, den er als hervorragenden Kenner der Materie und "glänzenden Stilisten" würdigt. Ein "Lektüregenuss", schließt der Rezensent.

Sebastiao Salgado
Gold
Taschen Verlag. 208 Seiten. 50 Euro

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Der brasilianische Fotograf Sebastiao Salgado wird für sein fotografisches Werk dieses Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. Berühmt wurde der Magnum-Fotograf vor allem für seine Schwarzweiß-Aufnahmen der Goldgräber in Sierra Pelada von 1986, mit denen er nicht nur auf die "archaischen" Arbeitsbedingungen der Goldgräber aufmerksam machte, wie Arno Widmann in der FR schreibt, sondern auch auf die Bedrohung des Amazonasgebiets hinwies. Für Widmann ist die Neuausgabe dieses Fotobandes ein Glücksfall: Zum einen, weil ihn die Fotos der Säcke schleppenden Arbeiter, die einander auch noch bedrohen, auch heute noch ebenso berühren wie zornig machen. Vor allem aber, weil dem Band ein aktuelles Vorwort Salgados beigegeben ist, in dem der Fotograf über die Geschichte der Goldgräber und über die Schicksale einzelner Tagelöhner aufklärt. Die Bilder werden umso eindrucksvoller, wenn man den Wahnsinn hinter dem Goldrausch und die komplexen Strukturen, die aus ihm entstehen, kennt, meint er. Im Monopol-Interview spricht Salgado über die Brände in Brasilien und Umweltaktivismus. In der Zeit kommentiert Björn Hayer die Vergabe des Friedenspreises an Salgado.