Bücherbrief

Finsteres Lesevergnügen

06.09.2013. Clemens Meyer führt uns in die Unterwelt Leipzigs. Daniel Kehlmann konstruiert doppelte Böden. Swetlana Alexijewitsch komponiert einen vielstimmigen Chor über das Leben in der SU. Kurt Flasch erklärt, warum er kein Christ mehr ist. Dies alles und mehr in den besten Büchern des September.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2013 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2013 und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Clemens Meyer
Im Stein
Roman
S. Fischer Verlag 2013, 560 Seiten, 22,99 Euro



Äußerlich mag Clemens Meyer, der jetzt Sakko und Goldring trägt, vom Literaturbetrieb domestiziert sein, aber nicht erzählerisch. Sein neuer dunkler, böser Roman spielt in Leipzigs Unterwelt nach der Wende, Sex und Kapital krachen auf einander: Glücksritter, Immobilienmakler und Höllenengel kämpfen ums Geschäft, die Huren träumen vom eigenen Pferd. "Grandios" nennt Jürgen Verdofksy den Roman in der FR, besonders beeindruckte ihn, wie Meyer mal kraftvoll und mal auf Zehenspitzen erzählt. In der SZ nennt Ina Hartwig den Roman ein Buch "der Sehnsüchte, des kippenden Bewusstseins, des Kontrollverlustes" und vergleicht ihn mit Hubert Fichtes Interviews aus St. Pauli. Lena Bopp staunte in der FAZ, dass Meyer selbst dann nicht aus dem Rhythmus kommt, wenn er die Grenzen des Erträglichen überschreitet. Als "Crashkurs im Systemwechsel" lässt sich in der Zeit Ronald Düker den Roman gefallen, stört sich allerdings ein wenig an der "ledrigen Gutherzigkeit" mancher Typen. (Leseprobe als pdf)

Daniel Kehlmann
F
Roman
Rowohlt Verlag 2013, 384 Seiten, 22,95 Euro



Seit der "Vermessung der Welt" ist jedes Buch von Daniel Kehlmann ein Feuilletonereignis - und dieses ganz besonders, denn "F" ist der erste große Roman seit dem Welterfolg von 2005. Die Geschichte um die drei Halbbrüder Eric, Iwan und Martin Friedland und ihr Ringen mit Schicksal, Wahrheit und Lüge löst bei den Rezensenten weitgehend Begeisterung aus. Nie zuvor habe der Autor "die doppelten Böden so lässig aufgefächert" wie hier, schwärmt Felicitas von Lovenberg in der FAZ, für die sie Kehlmann auch interviewte. Jörg Magenau hebt in der taz die "spielerische Eleganz" hervor, während sich Judith von Sternburg in der FR biswielen gar an Novellen von Thomas Mann erinnert fühlt. Verhaltener äußert sich Kristina Maidt-Zinke in der SZ, die Kehlmanns "Denksportaufgaben" zwar unterhaltsam, die Doppelbödigkeit zwischen Realität und unerklärlichen Phänomenen jedoch etwas zu "konstruiert" und "flach" findet. Spiegel-Online-Rezensent Sebastian Hammelehle konnte mit dem Buch überhaupt nichts anfangen: Unter der Überschrift "F wie Firlefanz" bemängelt er die "erzählerischen Zirkustricks" Kehlmanns.

Helene Hegemann
Jage zwei Tiger
Roman
Hanser Berlin 2013, 320 Seiten, 19,90 Euro



Die Rezensenten bescheinigen Helene Hegemann großzügig, dass sie sich seit ihrem furiosen Debüt "Axolots Roadkill" enorm weiterentwickelt hat. In einem ist sich die Autorin jedoch treu geblieben - auch an ihrem Zweitling "Jage zwei Tiger" scheiden sich die Geister. Mit der Geschichte um zwei Jugendliche, die beide aus guten Elternhäusern mit künstlerischem Einschlag kommen, "zeigt Helene Hegemann, dass sie erzählen kann", versichert eine begeisterte Silke Janovski in der FR, und Eva Behrendt empfiehlt den Roman in der taz als ein "großes, bewegendes, oftmals finsteres Lesevergnügen". Auch Ijoma Mangold zeigt sich in der Zeit beeindruckt von Hegemanns "Professionalisierungsschub" und davon, wie es ihr gelingt, "hochkomplexe Hypotaxe mit süffigstem Jugendslang" zu kombinieren. Verrisse gibt es jedoch von FAZ und SZ. Felicitas von Lovenberg stört sich an "pseudosubversiven Statements" und selbstverliebten "Schwurbeleien", während Catrin Lorch den "vorauseilenden Exhibitionismus" bedauert, mit dem Hegemann "doch nur den Voyeurismus des Kulturbetriebs befriedigt". (Leseprobe als pdf)

Jennifer Egan
Black Box
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2013, 89 Seiten, 9,95 Euro



Jennifer Egan hat Romane schon wie ein Konzeptalbum konstruiert oder wie eine Powerpointpräsentation, in "Black Box" nun erzählt sie die Geschichte einer Superagentin im Twitterformat: Die Protagonistin stellt sich in den Dienst der patriotischen Sache und ihren schönen Körper zur Verfügung, um Informationen über einen fremdländischen Mann unter Beobachtung zu ergattern. Eine "Black Box" eben. Jeder Satz ist ein Tweet, auf Englisch konnte man die Geschichte auf dem Account des New Yorkers verfolgen, auf Deutsch bei Spiegel Online (mehr hier). In der Zeit feiert Robin Detje diesen gelungenen Versuch, eine heutige Geschichte in heutiger Form zu erzählen und erkennt darin eine Geschichte der "narzisstischen Notstandsgesetze". Im Deutschlandradio zeigte sich Katharina Döbler begeistert von der Raffinesse, mit der Egan quasi im Schrumpfformat eine solch packende und gehaltvolle Erzählung aufbauen kann: Nach nur sieben Tweets war sie mitten drin. Und im Independent pries Lisa Gee die Geschichte als höchst "suggestives und aphoristisches Prosa-Gedicht".

Botho Strauß
Lichter des Toren
Der Idiot und seine Zeit
Diederichs Verlag 2013, 176 Seiten, 20,00 Euro



Nein, da ist keine Wiederholung. Vor knapp zwanzig Jahren übertönte Botho Strauß das permanente Getöse des Medienmarkts noch mit seinem "Anschwellenden Bocksgesang". Heute ist der Bock heiser wie ein alternder Wagner-Tenor, wenn man Lothar Müller glauben darf, der das Buch für die SZ gelesen und enttäuscht zur Seite gelegt hat: Die hin und wieder aufscheinenden Geistesblitze gehen in der kulturkritischen Suada unter, die Strauß bereits mit einem Spiegel-Essay vorauskoppelte: Die "schmissig-ungefähre" Klage über die Herrschaft der Vielen, die Quote, die Vergötzung der populären Kultur, all das hat Müller hundertmal gehört. Andere Rezensenten machen es sich gerade damit gemütlich: Lorenz Jäger träumt in der FAZ davon, mit Strauß und einer gepflegten Außenseiter-Attitüde alt zu werden.

Swetlana Alexijewitsch
Secondhand-Zeit
Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Hanser Berlin 2013, 576 Seiten, 27,90 Euro



Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch, die im Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, hat auch für dieses Buch wieder - das ist ihre literarische Methode - Interviews mit Zeitzeugen zu einem vielstimmigen Chor versammelt, der vom Leben in der Sowjetunion und der Enttäuschung über die Perestroijka singt. In der FAZ war Regina Mönch absolut schockiert über den hier beschriebenen "vom Staatsterror vergifteten, angstbesetzten Alltag" und über die Grausamkeiten in Lager und Krieg. Zugleich stellt sie fest, dass viele der hier Interviewten, denen wohl noch niemand so zugehört habe wie Alexijewitsch, der Sowjetunion hinterhertrauern. "Viele, denen dieser entsetzliche Staat alles war, so dass sie kein eigenes Leben mehr spürten und ersehnten, gingen unter in der neuen Zeit", so Mönch. Das stellt im Deutschlandfunk auch Ingo Petz fest, der bei der Lektüre "tiefe Einblicke in alltägliche, politische, kulturelle und psychologische Belange in unterschiedlichen Epochen der Sowjetunion" gewann. Im Börsenblatt erzählt Hanser-Berlin-Verlegerin Elisabeth Ruge von ihrer langen Zusammenarbeit mit Alexijewitsch. (Leseprobe als pdf)

Rutu Modan
Das Erbe
Carlsen Verlag 2013, 224 Seiten, 24,90 Euro



Eine Graphic Novel über die Rückkehr einer israelischen Seniorin zu ihrer Warschauer Jugendwohnung - klingt nach einem eher trockenen Brot? Mitnichten, versichern die Rezensenten. Christoph Haas attestiert dem Comic in der SZ eine waghalsige, aber voll und ganz gelungene Verschränkung von Komik und Ernst, und in der FR hebt Christian Schlüter Rutu Modans "ästhetisch kluges, experimentierfreudiges Ringen um eine angemessene Darstellungsform" hervor. Auf Spiegel Online zeigt sich Sebastian Hammelehle begeistert von Modans stilistischer Nähe zu Hergé und bescheinigt dem Comic, "alle Kategorien eines intelligenten und unterhaltsamen Romans" zu erfüllen. Im Interview mit Lars von Törne erläutert Modan im Tagesspiegel den autobiografischen Gehalt der Geschichte und wie sie zu ihrer auffallend filmischen Erzählweise fand.


Sachbuch

Rüdiger Safranski
Goethe
Das Kunstwerk des Lebens. Biografie
Carl Hanser Verlag 2013, 752 Seiten, 27,90 Euro



Rüdiger Safranski hatte bereits ein Buch über Goethe und Schiller geschrieben, nun also Goethe an und für sich - ungefähr das ambitionierteste Unterfangen, das man sich in deutscher literarischer Biografik vorstellen kann. Im Interview mit dem Standard stellt Safranski die Herausforderung nicht ohne Selbstironie dar: "Es gibt viele Goethe-Biografien, aber noch keine von mir." Aber es ist gelungen, so scheint es: Zuerst bekam Safranski die Huldigung des größten Goethe-Kenners unter deutschen Feuilletonisten, Gustav Seibt (der übrigens demnächst in München über Goethe und Napoleon spricht): Seibt freut sich in der SZ vor allem, dass er Einblicke in das Leben des späten Goethe bekommt und stellt ein gelehrtes, zitatreiches und anschauliches Porträt in Aussicht. Lorenz Jäger betont in der FAZ, dass es Safranski gelingt, die lebensgeschichtlichen Kontexte der Werke Goethes darzustellen. Die "urbane Sprache" Safranskis kreidet er ihm als Makel an - andere werden das eher als Vorteil empfinden. Allein Eberhard Geisler in der taz bleibt distanziert: Er vermisst die philosophische Eigenleistung. (Leseprobe als pdf)

Kurt Flasch
Warum ich kein Christ bin
Bericht und Argumentation
C. H. Beck Verlag 2013, 280 Seiten, 19,95 Euro



Kurt Flasch erklärt, warum er kein Christ mehr ist, obwohl er als Katholik aufwuchs, beste Erfahrungen mit Kirchenleuten machte (also kein Missbrauch, stattdessen intellektuelle Bereicherung). Aber er ist kein deutscher Christopher Hitchens. Ihm ist nicht gleich alle Religion Nonsens: sondern er sucht die Wahrheit in der Schrift und ist ehrlich genug zuzugeben, dass sie am Ende nicht zu finden ist. Er argumentiert sozusagen theologisch und führt die Sache von innen heraus ad absurdum. Seltsamerweise kamen die Zeitungen alle auf dieselbe Idee und ließen das Buch von Gläubigen besprechen. In der FAZ runzelt der ehemalige Generalkatholik Hans Maier die Stirne und faltet die Hände, und man sieht ihn förmlich für Flasch beten, damit er den Beistand der Theologen suche. In der SZ fehlt dem Theologen Johann Hinrich Claussen typisch protestantisch die Differenzierung, alles Christentum werde bei ihm über einen Kamm geschert. In der Zeit kann sich Linkskatholik Otto Kallscheuer der Argumente Flaschs allerdings kaum erwehren: Flasch interessiert, woran die "lauen postmodernen Christen" denn nun tatsächlich glauben: an die Unsterblichkeit der Seele? An die Auferstehung des Leibes? (Leseprobe als pdf)

Philip Hoare
Leviathan oder Der Wal
Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe
Marebuchverlag 2013, 522 Seiten, 26,00 Euro



"Warum haben Wale eine so starke Anziehungskraft auf den Menschen?", fragt der Klappentext. Aber die Frage scheint, nach Lektüre der Kritiken, eine andere zu sein: Warum haben Wale eine so starke Anziehungskraft auf Philip Hoare? Zwei Rezensenten feiern den Autor dafür, dass er sich dem Wesen seiner Träume und seiner Faszination so geradezu frenetisch nähert. Harald Eggebrecht fühlte sich nach der Lektüre in der SZ geradezu ozeanisch: So reichhaltig ist die Information, so unwiderstehlich und erzählerisch wird sie dargeboten, und ähnlich geht es Alexander Cammann in der Zeit. Von der Biologie über die Geschichte des Walfangs, die sexuelle Symbolik bis zur Wal-Darstellung in Kunst und Literatur: Alles kommt vor. Allein Hannes Hintermeier fühlt sich in der FAZ ein wenig angefasst: Das Buch ist das Dokument einer Obsession, das hat für ihn durchaus auch etwas Monströses.

Arne Reimer
American Jazz Heroes
Besuche bei 50 Jazz-Legenden
Jazz Thing 2013, 228 Seiten, 49,00 Euro



Meistens werden Jazzmusiker in einem verrauchten Keller während eines Konzert fotografiert, und natürlich immer in Schwarzweiß. Arne Reimer hat sie dagegen zu Hause, bei der Arbeit oder in der Akademie besucht und, immer mit dem Instrument in der Mitte, in Farbe porträtiert. Für einen Prachtband hätte dies wohl schon gereicht, aber dass Reimer die Geschichten dieser großen Musiker mit so viel Sinn für Tragik, Schmerz und Lebensfreude erzählt, macht das Glück der Rezensenten perfekt. Als "erzählerische Schatzkammer" feiert Stefan Hentz das schöne Buch in der NZZ. In der FAZ preist Ulrich Olshausen dieses "Welttheater existentieller Zufälle" und erkennt in dem Vorwort von Roger Willemsen sogar "höchste Liebesintelligenz".