Essay

Ein Turm aus sieben Eiern

Von Marie Luise Knott
11.06.2013. Biennale Venedig: Artur Zmijewski lässt Blinde sich selbst malen. Fischli-Weiss präsentieren kritische Momente der Weltgeschichte in ungebranntem Ton. Tino Sehgal arbeitet mit Tänzern in gleichem Rhythmus, ohne sich je zu vereinigen. Flüchtige Impressionen einer Kunst, die nie statisch sein will.
1. Der Enzyklopädische Palast

Wer als Journalist nach der Eröffnung nach Venedig kommt, findet eine Biennale vor, die sich von der Preview unterscheidet: kein Anstehen, kein Gedrängel. Doch auch die Pressemappen sind aus, die Künstler, Kuratoren sind abgereist. Was bleibt, sind italienisches Personal und: die Kunst.

Auf einem Video der beiden portugiesischen Künstler Joao Maria Gusmao und Pedro Paiva sieht man einen Mann, der einen Turm aus rohen Eiern baut. Er schlägt ein Ei auf ein Brett, dann nimmt er das nächste und schlägt es an der stumpfen Seite an und setzt es mit dieser angedetschten Seite auf das erste. Und so fort. Die Konstruktion bricht mehrmals zusammen, doch nach und nach gerät der Mann auf dem 16 mm-Video-Film - ebenso wie der Betrachter - in die nötige Ruhe und Konzentration, bis irgendwann ein Turm aus sieben Eiern vor unserem Auge steht wie eine Skulptur von Constantin Brancusi. Hier werden Schönheit und Verschwendung, Spiel und Konzentration im dunklen Raum zu einer lichten Erscheinung. Das Leben, so ärmlich es äußerlich beschaffen sein mag, hält in seinem Innern imaginative Kräfte bereit, die unsere Welt zusammenhält.

Der Leiter des diesjährigen Biennale-Schwerpunkts, Massimiliano Gioni, der den beiden Portugiesen einen ganzen Raum offerierte, will neue Akzente setzen in der zeitgenössischen Kunstbetrachtung und hat die von ihm kuratierte Großschau unter den Titel "Der Ezyklopädische Palast" gestellt. Er will, ähnlich wie Denis Diderot, der im 18. Jahrhundert mit seiner Enzyklopädie das überlieferte Weltverständnis revolutionierte, das derzeitige Kunstverständnis erneuern. Diderot schuf damals eine gemeinsame Grundlage der Weltverständigung aus Vernunft, wissenschaftlicher Methodik und Empirie und versammelte das Wissen aller, nicht nur das der professionellen Schriftsteller und Schriftgelehrten, sondern auch das der Handwerker. Der italienische Kurator Massimiliano Gioni hat neben den durchgesetzten Künstlern in seinem "Palast" eine ganze Reihe von künstlerischen Autodidakten versammelt: Philosophen, Mystiker, Anthropologen und Geisteskranke. Ihre visionären, verrückten, ephemeren und obsessiven Innenwelten stehen nebeneinander, denn Gioni hat es sich zum Ziel gesetzt, angesichts einer Welt, in der wir immer mehr von außen von Bildern überflutet werden, den inneren Bildern jenseits von Hype und Mode seine Tanzsäle zu öffnen: Träumen, Halluzination und Vision. Er will das in den letzten hundert Jahren entwickelte vorherrschende "Wissen" und Denken über die Kunst unterlaufen und eröffnet seine Schau mit Reproduktionen aus Carl Gustav Jungs "Das rote Buch", der das Wissen fremder Kulturen und Theosophien mit Selbstanalysen und Visionen verband, und mit Kreidetafeln von Rudolf Steiner, die um 1923 dessen anthroposophisches Weltbild illustrieren sollten.

In den weiten Hallen in den Giardini und im Arsenale wird der Besucher angelockt von Stimmen und Klängen: hier flötet es, dort summt es; manchmal klingt es von Ferne, als würde jemand in einer unbekannten Sprache Psalmen rezitieren oder das Vaterunser aufsagen. Im Arsenale zeigt der Franzose Neil Beloufa ein Video, auf dem ein Schwarzer von Tieren und Autos spricht, als seien sie Menschen, und von sich behauptet, dass er mitunter mit seiner Hunderte von Kilometern entfernten Frau per Telepathie vögelt. Die Rumänin Andra Ursuta konstruiert Kinderstuben, um ihre Traumata zu verarbeiten, Shinichi Sawada aus Japan, der an Autismus leidet, baut stachelig abweisende Holz-Skulpturen. Augustin Lesage, der Stimmen hörte, die ihm ein Künstlerdasein prophezeiten, schuf ebenso streng symmetriebetonte Eigenwelten wie Friedrich Schröder Sonnenstern, ein deutscher Vertreter der "Outsider-Art", der ob seiner Schizophrenie von den Nazis als Arbeitsunfähiger eingesperrt wurde und für seine erotisch-alptraumartigen Bilder Wortgetüme wie "Mondamtsschimmelreiter" oder "Volksbeglückungswunderhemd" erfand. Der Comic-Künstler Robert Crumb malt die Genesis, Frédéric Bruly Bouabré von der Elfenbeinküste, dessen Serie "Das Wissen der Welt" mit 150 Zeichnungen zu sehen ist, arbeitete seit seiner Vision im Jahr 1948 an einer "Ecriture africaine", in der er taktile und spirituelle Welt zu vereinigen suchte. Und der britische Video-Künstler Steve Mc Queen, versammelt in "Once upon a time" 116 Bilder, die unheimlich übergangslos durch Computerbearbeitung auseinander hervorgehen. Als sei die Welt noch in einer gemeinsamen Erzählung fassbar, werden die Bilder in einer uns unverständlichen - vorbabylonischen - Sprache kommentiert.

Als Walter Benjamin um 1930 seine Haschisch-Versuche unternahm, notierte er: "Die Eingangstore zu einer Welt des Grotesken scheinen aufzugehen. Ich wollte nur nicht hereintreten." Gionis "Enzyklopädischer Palast" macht dort nicht Halt. Er hat den italienischen Experimentalfilmer Yuri Ancarani eingeladen, der den riesigen Operationsapparat "Da Vinci" ins Bild setzt. Erst tanzen minutenlang die "Arme" des Riesenroboters, winken und schwingen zu einem unbekannten Rhythmus hin und her, was uns verwirrt und beängstigend an Roboter-Visionen der 1970er Jahre erinnert, dann setzt sich der Operateur an die Maschine, und bevor wir auf Großleinwand dem Entfernung eines Darmkarzinoms beiwohnen, übt der Mensch seine Zielsicherheit mit Dominosteinen. Die Kunstwelt ist alles, was der Fall ist.

Zu Gionis Enzyklopädie gehören Frauenköpfe von Okhai Ojeikere, das Foto-Ensemble "Lebensmittel" von Michael Schmidt, eine Fernseh-Installation von Dieter Roth und Tuschzeichnungen des Chinesen Lin Xue, die zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos changierend die geballte sichtbare und unsichtbare Energie der Natur in schimärische Bildwelten übersetzen und das Sirren der Insekten, das Rascheln der Waldtiere, die unsichtbaren Vibrationen der Pflanzen auffangen wollen.

Nicht weit entfernt, besonders berührend, die Videoarbeit "Blindly" von Artur Zmijewski, der mehrere Blinde aufgefordert hat, auf einem am Boden ausgebreiteten Blatt Papier ihr Selbstporträt zu malen. Man sieht, wie sie sich zunächst die Größe des Bildträgers ertasten, dann die Farben der bereitgestellten Tuben erfragen, bevor sie loslegen und mit nichts als dem Tastsinn innere Bilder zu Papier bringen.



"Don't you recognize me", singt einer der Akteure in der Performance, mit der ihr Autor, Tino Sehgal, dieses Jahr in Venedig ausgezeichnet wurde. Sehgal, dessen Kunst sich der Fixierung verweigert und nur auf den Moment setzt, da Betrachter und "Interpreten" einander begegnen, hat in Venedig Tänzer und Sänger als Akteure engagiert. Auf der Grundlage eines starken gemeinsamen Rhythmus singen, sprechen, tönen oder bewegen sie sich je einzeln und in verschiedenen Konstellationen, ohne sich in Klang oder Geste zu vereinen. Dafür, dass es nicht ganz so obsessiv und ernst zugeht in Gionis Weltinnen-Palast sorgt auch das schweizer Künstler-Duo Fischli-Weiss, deren Knetfiguren aus ungebrannten Ton, über die Jahre unter dem Titel "Plötzlich diese Übersicht" auf über 180 Mini-Skulpturen angewachsen ist. Unter dem Vorwand, die großen Momente der Welt-Geschichte zu erfassen, schufen sie Objekte mit Titeln wie "Pytagoras wundert sich über seinen Satz", "Charlton Heston küsst Dr. Zira im Planet der Affen" oder "Herr und Frau Einstein kurz nachdem sie ihren Sohn, das Genie Albert, gezeugt haben."




Massimiliano Gioni scheint in seinem Biennale-"Palast" die Bildinnenwelten vergangener Zeiten, die im Hype der Kunstmoden unbeachtet blieben, in der Zusammenführung mit bekannten Werken für kommende Zeiten retten zu wollen. Er wollte eine Plane des Vergessens lüften, als könnte von diesen neu vom Licht der Öffentlichkeit beschienenen enthierarchisierten Bildern für die Künstler der Gegenwart neue Impulse ausgehen. Was daraus wird, wissen wir nie.



2. Die nationalen Pavillons

Enzyklopädische Elemente finden sich hier und dort auch in den nationalen Pavillons. Denn auch wenn der in New York lebende chilenische Künstler Alfredo Jaar im chilenischen Pavillon die Giardini unter Wasser setzt, weil er die nationalen Zuschreibungen der Künstler in diesen globalen Zeiten für ein überholtes Konstrukt hält, auch wenn Kenia aus lauter wirtschaftlicher Kooperationsbereitschaft seinen nationalen Pavillon in einer selbstironischen Geste weitgehend chinesischen Künstlern zur Verfügung stellt, auch wenn die Deutschen, sich als Migrationsland sehend, in dieses Jahr im französischen Pavillon Ai Weiwei, Santu Bofeng, Romualdo Karmakar und Dayanita Singh eingeladen haben, muss man jedes Jahr neu feststellen: es gibt sie noch, die nationalen Pavillons mit ihren spezifischen Themen- und Bildwelten. Im polnischen Pavillon inszenieren Kirchenglocken als Toninstallation, dass auch das, was man als immerwährend denkt - Kirche, Kapitalismus, Kommunismus - ein Ende haben kann. Koki Tanaka hat im japanischen Pavillon in Fotos und Videos die Kraft kollektiven Handeln erkundet: Kann und soll man gemeinschaftlich Gedichte schreiben, im Kollektiv auf einer Drehscheibe eine Tonschale formen? Was geschieht, wenn man in Katastrophenzeiten das ausgegebene Notessen am Tisch gemeinsam zelebriert?




Im britischen Pavillon, den Jeremy Dellers unter den Titel "English Magic" stellt, sitzt man bei Tee in der Sonne. Ein Raum versammelt Zeichnungen von Afghanistankämpfern, in einem anderen läßt der Künstler unter dem Titel "Da sitzen wir und hungern in unserem Gold" in Übergröße den Viktorianischen Sozialisten William Morris die Yacht von Abramovitsch ins Meer werfen, die in den letzten Biennale-Jahren den Giardini-Besuchern den Ausblick auf die Lagune versperrte.

Überhaupt das Geld: Im russischen Pavillon läßt Vadim Zakharov es in einer recht simplen Installation unter Hinweis auf den Danae-Mythos vom Himmel herabregnen, doch der Goldsegen ist den Frauen vorbehalten, während die Männer im oberen Stock ermahnt werden, Gier, Habsucht, Rohheit, Zynismus usw. zu beichten, die sie vom Mythos entfernt haben. Subversiver geht es im griechischen Pavillon zu, wo der in Amsterdam lebende Stefanos Tsivopoulos in einer klassischen Rotunde reale und fiktive Tauschwährungen der Geschichte zusammengestellt hat. Die Videos in den Nebenräumen fantasieren unter dem Titel "History Zero" eine gerechte Umverteilung, bei der ein bettelarmer schwarzer Altwarensammler - welch ein Glück! - aus einem Abfallcontainer einen Origamistrauß aus Geldscheinen fischt, den in einem anderen Video eine demente steinreiche Kunstsammlerin gefaltet hat, derweil ein ratloser Künstler auf der Suche nach einem vermarktbaren Objekt, das die Lage in Griechenland repräsentieren könnte, den Einkaufswagen des Altwarenhändlers in ein Installationsobjekt ummünzt.

Die Installationskünstlerin Sarah Sze hat den gesamten US-amerikanischen Pavillon mit mehreren fragilen Großinstallationen bespielt. Staunend steht man vor den ephemeren Ensembles, in denen sie, wie damals, im Kinderspiel, Objekte des Alltags - Kekse, Schals, gefaltete Postkarten, Mandeln, Stäbe, Kämme - als Räume anordnet, einzelne erinnern an Wohnräume in Landhäusern, andere an Spielstätten wie Amphittheater. Man sieht: Räume gewähren nicht nur Schutz und Unterschlupf; sie prägen Erleben und formen Erinnerung.

Der albanische Videokünstler Anri Sala hat im diesjährigen französischen Pavillon mit musikalischen Mitteln die Frage gestellt, welches Gewicht der Einzelne heute noch haben kann im Gang der Welt. Unter dem Titel "Ravel, Ravel, Unravel", der mit dem englischen "to ravel" (einmischen) spielt, hört und sieht man im Mittelsaal überdimensional vergrößert, wie zwei verschiedene linke Hände jeweils Maurice Ravels "Klavierkonzert für die linke Hand in D-Dur" darbieten. Das Stück, das der Pianist Paul Wittgenstein, der im 1. Weltkrieg seine rechte Hand verlor, 1929 bei dem Komponisten in Auftrag gegeben hatte, war eine kompositorische Herausforderung, die in der Installation wiederhallt: wie kann man an eine Hand delegieren, was traditionell im Konzert zwei Hände erfüllen. Kurz nach der Aufführung kam es 1930 zum Zerwürfnis zwischen Komponist und Pianist, da Wittgenstein sich in seiner Darbietung, so Ravels Vorwurf, zu viele Eigenwilligkeiten erlaubte. Die hier anklingende Virtuosität jedes Einzelnen im Konzert der Vielen wird in den Nebenräumen ergänzt durch zwei Videos, auf denen eine Frau - Cutterin, DJ ? - dem aufgenommenen Spiel der Hände eine eigene Interpretation hinzufügt.

Ob bei der Eierskulptur der Portugiesen, den Knetfiguren von Fischli-Weiss, ob beim dröhnenden Glockengeläut oder bei den minimalen Fotografien des mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Edson Chagas im angolanischen Pavillon - was in der Kunst zählt, ist, dass sie in Gestus, Farbklang, Rhythmus, Bild oder Gestalt eine Gefühlssaite anschlägt, die dann - einmal in der Welt - durch die Zeiten weiterschwingen kann.

Marie Luise Knott

Fotos: Martin Warnach