Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2002. Die FAZ ist enttäuscht. Der neue "Jedermann" ist ein "Oberjammergau". Die NZZ macht sich Sorgen: Warum ist das Schweizerkreuz so sehr in Mode? In der SZ analysiert Andrew J. Bacevich den amerikanischen Imperialismus. In der FR ficht Anatolij Koroljew für seinen Kollegen Wladimir Sorokin. Die taz fürchtet, dass sich die öffentlichen Museen immer mehr auf private Sammler verlassen.

FAZ, 30.07.2002

Oh je, Gerhard Stadelmaier begab sich zur ersten Neuinszenierung des "Jedermann" in Salzburg seit 82 Jahren (Regie: Christian Stückl), und was musste er sehen? Ein "großes fades, aufgebrezeltes Oberjammergau. Ein Passionsspiel ohne Passion."

Die Kuh wird zum Hightech-Rind, erzählt Christian Schwägerl - kein Tier wird häufiger geklont, mit keinem wird mehr experimentiert. Nur ein Beispiel: "Der Firma ProLinia ist es gelungen, Nachwuchs aus den Zellen toter Rinder zu zeugen. Man kann also, was am lebendigen Tier schlecht geht, zuerst eine Fleischprobe ziehen und testen, bevor ein Tier zum Klonen empfohlen wird."

Weiteres: Friederike Mayröcker antwortet in der FAZ-Sommerserie auf Hofmannsthals Chandos-Brief: "Mit groszer Anteilnahme habe ich Ihre Klagen aufgenommen und möchte zu Ihrer Tröstung bekennen, dasz es mir vor einiger Zeit ähnlich ergangen ist" Ernst Horst fragt angesichts der Börsenskandale, was eigentlich eine Milliarde ist: "Für eine Milliarde Dollar erhält man die Schnapszahl von 11 111 111 111 Aktien a neun Cent. Damit könnte man leicht alle Häuser in Leipzig neu tapezieren." In der Wahlkampfserie "Im Milieu" behauptet Niklas Maak, dass FDP-Mitglieder bei Citroen 25 Prozent Rabatt bekommen. Die Rechtsanwälte Florian Mercker und Gabor Mues freuen sich auf das Kommen des neuen Stiftungsprivatrechts. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften, die sich mit der "Krisenfigur Mann" auseinandersetzen.

Ferner meldet Andreas Kilb, dass zwei deutsche Filme, Doris Dörries "Nackt" und Wilfried Bonengels "Führer Ex", beim Filmfestival von Venedig laufen (heute gibt das Festival übrigens das Programm des Wettbewerbs bekannt). Peter Richter erinnert an den Berliner Baustadtrat Ludwig Hoffmann, der vor 150 Jahren geboren wurde. Kerstin Holm berichtet, dass Wladimir Sorokin vor einem russischen Gericht, wo er sich wegen angeblicher Pornografie verantworten muss, die Aussage verweigerte. Hussain Al-Mozany schildert den Fall des jemenitischen Autors Wagdi al-Ahdal der für seinen Roman "qawarib gabaliya" (Bergige Boote) (in dem es ziemlich wild zuzugehen scheint) von Mordaufrufen verfolgt wird und auf Asyl in Europa hofft. Und Andreas Rossmann schreibt ein kleines Porträt Konrad Schilys, der in das Amt des Präsidenten der Universität Witten/Herdecke zurückkehrt.

Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld einen liebevollen Nachruf auf Thomas Middelhoff und die neue Unternehmenskultur, die er bei Bertelsmann einführte. Sie "wurde auch erkennbar, wenn er zweimal im Jahr seine sämtlichen Häuptlinge nach Gütersloh und in seine Privatresidenz einlud. Da war dann nicht nur die Konferenzsprache englisch, sondern auch die beim privaten Plausch im Park danach. Offen, eher laut, locker, lässig und fröhlich, mit Kragen aber ohne Schlips, ging es da zu, wie beim Treffen einer Sportmannschaft, die gerade den Titel gewonnen hat. Jeder von denen in diesem vier, fünf Dutzend umfassenden internationalen Team, das war für den Zaungast spürbar, wollte etwas erreichen und mit seinem Beritt nach vorn. Auch das zählte zu dem corporate spirit, den Middelhoff beförderte." Heike Hupertz analysiert in einem zweiten Artikel die Lage bei AOL/Time Warner, die auch nicht rosig ist.

Besprochen werden der Film "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer" des Franzosen Christian Carion, Alexander Zemlinskys Oper "Der König Kandaules", eine Ausstellung der späten Gemälde Milton Averys in Los Angeles.

TAZ, 30.07.2002

Brigitte Werneburg mischt sich in die Debatte um die Flick-Kollektion ein, sieht aber das Problem nicht so sehr in der Frage, woher die Familie Flick ihr Geld hat, als in dem Trend, dass sich immer mehr Museen in der zeitgenössischen Kunst auf die Angebote privater Sammler verlassen. Sie befürchtet ein Insiderspiel von Sammlern und Galeristen, "bei dem die Museen, das Publikum und die Kritik nur noch Zaungäste sind": "Die Öffentlichkeit jedenfalls wird durch die Bereitschaft der Museen, das private Fertigpack zu kaufen, zunehmend nur noch diejenige aktuelle Kunst zu sehen bekommen, die von solchen Sammlern gewollt und unterstützt wird. Uniformität und Einseitigkeit sind absehbar."

Weitere Artikel: Bodo Mrozek kümmert sich um arbeitslose Hauptstadtjournalisten. Besprochen werden eine Ausstellung zu 150 Jahren Porträtfotografie im Deutschen Museum in München und politische Bücher: Jürgen Trittins Schrift "Welt Um Welt", Susanne Heims Studie zur NS-Agrarforschung "Autarkie und Ostexpansion" sowie Michael Ignatieffs Essay "Die Politik der Menschenrechte".

Schließlich Tom.

FR, 30.07.2002

Anatolij Koroljew beklagt die Ignoranz der russischen Intelligentsia im Fall Vladimir Sorokin ("Der himmelblaue Speck"), der wegen angeblicher Verbreitung von Pornografie in Moskau vor Gericht steht. "Die nun eröffnete Hetzjagd auf Sorokin wird von einem Schweigen der meisten Kollegen begleitet. Es ist ein Schweigen der Feindschaft, des Neids, der Ablehnung des Neuen." Koroljew selbst hat keine Zweifel, "dass die Ermittlung gegen Sorokin auf höchster politischer Ebene in der Regierung oder im Kreml beschlossen worden ist. Sorokin ist ein bequemes Objekt für die Erregung des angeblichen Volkszorns, dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass auch seinem Verlag ein Denkzettel verpasst werden soll. Denn Ad Marginem hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, das Indizien für die mögliche Verwicklung des Geheimdienstes FSB in die Bombenanschläge zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges vorstellt. Jedenfalls soll mit dem Fall Sorokin die Bereitschaft unserer Gesellschaft zum Schutz ihrer kulturellen Freiheit getestet werden."

In ihrem Flatiron-Letter versichert Marcia Pally, dass die Amerikaner sich wirklich und ernsthaft Gedanken über ihre Witschaftspolitik machen, auch wenn wir in Europa das bisher nicht mitbekommen haben sollten. "Als Reaktion auf die Finanzkrise hat Bush der Nation vor kurzem erklärt, die Amerikaner hätten nach dem 11. September 'innegehalten und sich gefragt: Was ist wichtig im Leben? Wissen Sie, der Gewinn unterm Strich und das ganze Zeug mit Amerikas Konzernen, ist das wichtig? Ist es nicht viel wichtiger, seinem Nachbarn zu helfen, seinen Nachbarn zu lieben, wie man selbst geliebt werden möchte?' Der Aufstand, der im Lande losgebrochen ist, kann Ihnen unmöglich entgangen sein."

Besprochen werden aus Salzburg Christian Stückls Inszenierung des "Jedermann" und Zemlinskys Oper "Der König Kandaules" von Kent Nagano, Alfred Hrdlicka und Christine Mielitz, Peter Steins mediterrane Tour mit einer italo-griechischen "Penthesilea", George Taboris Vision von Mozarts "Entführung aus dem Serail" sowie die Ausstellung zum Stadtbaurat Ludwig Hoffmann im Märkischen Museum Berlin.

NZZ, 30.07.2002

Christina Hubbeling macht sich große Sorgen. Das Schweizerkreuz ist schwer in Mode, wird von allen möglichen Deisgnern auf Kleider gebannt und von der hippsten Schweizer Jugend gern zur Schau gestellt: "Haben die helvetischen Großstadtnomaden wirklich zu ihren Wurzeln, zur Authentizität zurückgefunden und ihre Liebe zum Vaterland entdeckt? Ist die Techno-Generation tatsächlich stolz auf ihre Heimat, und bekundet sie ihre Identität beispielsweise mit dem Tragen von patriotisch gefärbten T-Shirts oder Taschen? Kaum. Vielmehr wird das Schweizerkreuz auf diese Weise zum sinnentleerten Logo degradiert, derweil der Kult des Schweizerkreuzes keineswegs ein nationales Selbstbewusstsein indiziert, sondern Ausdruck einer gemäßigten Selbstinszenierung ist."

Weiteres: Barbara Villiger-Heilig ist auch nicht gerade begeistert vom neuen Salzburger "Jedermann": ein "putzig-buntes Treiben, wo immer möglich". Lilo Weber porträtiert die Londoner Tanzszene und ihren Spielort, der schlicht "The Place" heißt. Ulrich M. Schmid berichtet, dass die Moskauer Stadtregierung anstelle der 24 Meter hohen Statue "Arbeiter und Bäuerin" von Wera Muchina, die das stalinistische Schönheitsideal prägte, einen Parkplatz plant. Vorabgedruckt wird ein Kapitel aus Ismael Kadares neuem Roman "Die Brücke mit den drei Bögen". Besprochen werden eine Ausstellung mit Kupferstichen von Heinrich Aldegrever im Landesmuseum Münster, die Oper "König Kandaules" von Alexander Zemlinsky in Salzburg und Bücher, darunter John Wrays Österreich-Roman "Die rechte Hand des Schlafes" (mehr hier), der in Amerika gefeiert wurde, aber bei Tilman Urbach auf Skepsis stößt (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 30.07.2002

In der SZ setzt der Politikwissenschaftler Andrew J. Bacevich von der Boston University die Debatte über den amerikanischen Imperialismus fort, der ja kein Schimpfwort mehr ist, sondern nur mehr Aussage. Bacevich meint, dass die USA tatsächlich davon überzeugt seien, dem Wohle und der Freiheit der Menschen zu dienen, aber auch wie niemals zuvor bereit, ihre Autorität als Neues Rom einzusetzen, um ihre Bestimmung als Neues Jerusalem zu erfüllen: "Wie es sich für eine Nation gehört, die auf der Überzeugung ihrer eigenen Einzigartigkeit gegründet wurde, gleicht auch das amerikanische Imperium selbst keinem anderen in der Geschichte - angefangen damit, dass die USA eine direkte Herrschaft über abhängige Völker lieber vermeiden und Zugang und Einfluss dem direkten Kommando vorziehen. Amerikas Imperium ist informell, da es sich nicht aus Satelliten oder Lehen zusammensetzt, sondern aus nominell gleichrangigen Staaten. Wann immer möglich, herrschen die USA indirekt über ihr Imperium, meist über zwischengeschaltete Institutionen, die sie zwar nicht allein kontrollieren, deren Ton sie aber vorgeben, etwa in der Nato und im Weltsicherheitsrat, im IWF und in der Weltbank."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold erklärt, warum für den internationalen Medienkonzern Bertelsmann ein traditionelles Produkt wie das Buch eine solch strategisch wichtige Rolle spielt (Content-Providing!). Am Ende des Artikels führen Links zu neun weiteren Artikeln, die sich heute in der SZ mit Bertelsmann beschäftigen. Ulrich Rauff denkt darüber nach, warum die Ferien trotz hoher Risiken - Krisen, Depressionen, Gattenmord - die besten Wochen des Jahres sind und mea. meldet, dass Michael Boyd neuer Chef der Royal Shakespeare Company wird.

Besprochen werden: von den Salzburger Festspielen Christian Stückls Reformprojekt "Jedermann" und Zemlinskys Oper "König Kandaules" als konzertierte Aktion von Kent Nagano, Alfred Hrdlicka und Christine Mielitz; ein Bruckner-Konzert mit Enoch zu Guttenberg auf Herrenchiemsee; aus Bayreuth Jürgen Flimms Inszenierungen des "Rheingold" und der "Walküre" (die große Entdeckung soll Mihoko Fujimura als Fricka gewesen sein); Peter Steins "Penthesilea"-Tour durch antike Stätten, eine Ausstellung mit Bildern von Rupprecht Geiger und Franz Ackermann im Münchner Lenbachhaus und Bücher, darunter Greil Marcus' Analyse amerikanischen Paranoia "The Manchurian Candidate", der Band "Altri Hotel" mit Zeitungsartikeln von Adriano Sofri und neuedierte Essays von Wolfgang Koeppen über München (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).