Heute in den Feuilletons

Netz über dem Schmetterling des Moments

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2012. Im Daily Telegraph schreibt Tilda Swinton über Virginia Woolf. Im Tagesspiegel sind sich Sarah Wiener und Renate Künast einig: Ein Huhn sollte 15 Euro kosten. In der FR erklärt Colin Crouch, warum der Neoliberalismus gar nicht liberal ist.  In der taz erklären die neuen Macher des Merkur, was exoterisches Schreiben für Spezialisten ist. Der NZZ graut es im Oderbruch. Die SZ blickt zurück auf Retromanie im Pop - und auf die Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre.

NZZ, 16.01.2012

Bonjour Tristesse! Der Schriftsteller Norbert Hummelt erzählt von einer Fahrt durch das menschenleere Oderbruch. Sie beginnt bei der Gedenkstätte auf den Seelower Höhen: "Dass hier zu DDR-Zeiten nur der gefallenen Sowjets gedacht wurde, findet seinen Niederschlag im Gästebuch der Ausstellung, in dem Besucher ihr Bedauern darüber ausdrücken, dass nur sowjetische und keine deutschen Panzer zu bestaunen sind. Ein junger Mann mit einschlägigem Kurzhaarschnitt trägt dazu bei, dass wir uns nicht allzu sehr im Nachvollzug des Grauens verlieren wollen, sondern zügig weiterfahren. Nicht jedoch, ohne uns zuvor beim Bäcker zu versorgen, wodurch wir Zeugen eines Wortwechsels werden, der belegt, dass die Modernisierung der Lebenswelt in den kleinen Orten Brandenburgs noch nicht jeden erreicht hat: 'Die Pommern-Brötchen haben Sie doch eingepackt?' - 'Die heißen Power-Brötchen.'"

Karl-Markus Gauß bricht eine Lanze für den österreichischen Schriftsteller Franz Tumler, der sich vom NS-Propagandisten, SA-Mitglied und Bestsellerautor nach dem Krieg zu einem Autor kunstvoller, reflektierter Prosa wandelte, ohne seine Vergangenheit abzustreiten: "Das macht ihn in der österreichischen Literatur, in der all die Waggerl und Mell 1938 dem Führer den Dank der 'Ostmark' abstatteten und nach 1945 so taten, als wäre nichts gewesen, zur singulären Gestalt."

Besprochen werden Karin Henkels Inszenierung von Ödön von Horvaths "Geschichten aus dem Wienerwald" am Schauspielhaus Zürich und eine Aufführung von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Luzerner Theater.

Weitere Medien, 16.01.2012

(via bookslut) Im Daily Telegraph schreibt Tilda Swinton anlässlich einer Neuausgabe von Virginia Woolfs "Orlando" über Woolf und Vita Sackville-West, die eine Art Vorbild für den/die geschlechter- und zeitenwechselnden Orlando war: "'Es ist notwendig zu schreiben, um die Tage nicht leer vorbeigleiten zu lassen. Wie sonst könnte man das Netz über den Schmetterling des Moments stülpen? Wenn der Moment vorbei ist, ist er vergessen. Die Stimmung ist vorbei; das Leben selbst ist vorbei. So übertrifft der Autor seine Mitmenschen: Er fängt seine Stimmungswechsel im Sprung.' So schrieb Vita Sackville-West, gefeierte Schriftstellerin, gefeierte Gastgeberin. Ich liebe dieses Zitat. Es erinnert mich daran, wie Woolf als Kind mit ihrem Vater Motten fing. Es liegt etwas so praktisches, so physisches in dieser Geste, die die Haltung beider Autorinnen beschreibt: so typisch muskulös, so körperlich und lebendig."

Hier ist Swinton in Sally Potters Film "Orlando" (1992):



(via Gawker) Was ist es nur mit den Briten und den Nazis? Im November letzten Jahres hatte der Telegraph über Nazi-Lieder grölende britische Politikern berichtet. Jetzt haben Studenten der London School of Economics bei einem Skiausflug mit Saufgelage in Val d'Isere eine Nazi-Version des Kartenspiels "Ring of Fire" gespielt, berichtet der Guardian. Als ein jüdischer Student protestierte, wurde ihm die Nase gebrochen. "According to the LSE's student newspaper, the Beaver, the game played was a Nazi-themed version of the drinking game Ring of Fire. This involved playing cards being arranged on a table in the shape of a swastika. Players were required to 'salute the Führer', the paper said."

(via Gawker) Könnte man die Männer der Hamas und die jüdisch-orthodoxen Haredim nicht gemeinsam auf eine Insel sperren und den Schlüssel wegwerfen? Da könnten sie dann ungestört darüber debattieren, wie wertlos Frauen sind. In Israel scheint diese Debatte gerade mit Hingabe geführt zu werden, berichten Ethan Bronner und Isabel Kershner in der New York Times: "The list of controversies grows weekly: Organizers of a conference last week on women?s health and Jewish law barred women from speaking from the podium, leading at least eight speakers to cancel; ultra-Orthodox men spit on an 8-year-old girl whom they deemed immodestly dressed; the chief rabbi of the air force resigned his post because the army declined to excuse ultra-Orthodox soldiers from attending events where female singers perform; protesters depicted the Jerusalem police commander as Hitler on posters because he instructed public bus lines with mixed-sex seating to drive through ultra-Orthodox neighborhoods; vandals blacked out women?s faces on Jerusalem billboards."

(via 3quarksdaily) Auf The Browser stellt der britische Journalist Toby Young kurz seine fünf Lieblingsbücher von Journalisten vor. Eins davon ist Tom Wolfes "Radical Chic": "It originally appeared as an essay in New York magazine, but was later published in book form alongside another essay, 'Mau-Mauing the Flak Catchers'. It?s an account of a party given by Leonard and Felicia Bernstein for the Black Panthers in 1970 in their Park Avenue duplex, and while it?s ostensibly just a brilliant piece of satire there?s a conservative critique of New York?s liberal elite bubbling away beneath the surface." Den Originalessay findet man noch, hier.

FR/Berliner, 16.01.2012

Am Samstag wurde Emine Sevgi Özdamar der Alice-Salomon-Poetik-Preis verliehen. In der Laudatio würdigt Harald Jähner die Sprachkunst einer Autorin, die das Deutsche erst mit 19 Jahren lernte: "Bei dieser Autorin kann man erleben, welches Glück für die Literatur eine spät erlernte Sprache, eine 'Sprache ohne Kindheit', ohne vollautomatisierte Reflexe sein kann. Wenn man so genau hinsehen und imaginieren kann wie sie, dann ist man nie ganz im richtigen Film. Man sieht das Fremde, egal, wo und wann man eingebürgert wurde. Wer 'Die Brücke vom goldenen Horn' gelesen hat, wird nie wieder an der Ruine des Anhalter Bahnhofs vorbeigehen können, ohne an ihn als den 'beleidigten Bahnhof' zu denken."

In einem ansonsten wenig aussagekräftigen Interview erklärt der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch ("Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus"), warum der Neoliberalismus eigentlich nichts mit Kapitalismus zu tun hat: "Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Die List ist, dass sie den freien Markt propagieren, aber gleichzeitig diesen Markt beherrschen, so dass es keinen freien Markt gibt. Die großen Konzerne haben eine starke Verbindung zu der Politik, was ja ganz marktwidrig ist. Das ist die Lüge."

Weiteres: Am 21. Januar um 12.15 sendet BBC Radio 3 ein unbekanntes Klavierstück von Brahms, das zufällig in Princeton gefunden wurde, informiert uns eine Meldung (hier eine kurze Hörprobe). Andras Schiff wird es spielen. Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung des "Kaufmann von Venedig" in Frankfurt und Jorinde Dröses Adaption von Theodor Fontanes Roman "Effi Briest" im Maxim-Gorki-Theater.

TAZ, 16.01.2012

Dirk Knipphals besucht die beiden neuen Macher des Merkurs, Christian Demand und Ekkehard Knörer, die sich für die Neuausrichtung des Heftes größtmögliche Zurückhaltung auferlegt haben: "Von den Sujets her soll nichts ausgeschlossen werden. Entscheidend ist für beide vielmehr die Reflexionshöhe - Demand sagt auch einmal Bohrtiefe' - des jeweiligen Textes. Ekkehard Knörer beschreibt seine Wunschvorstellung dabei als "exoterisches Schreiben für Spezialisten."

Lea Streisand reitet eine späte, aber hübsche Attacke gegen die Krimis von Stieg Larsson, der den Sozialrealismus des Schwedenkrimis durch plumpe Verschwörungstheorien ersetzt habe: "Die 'Männer, die Frauen hassen' - so der schwedische Originaltitel des ersten Bandes, auf den Larsson Wert legte -, sind nicht nur ausnahmslos Sadisten, sondern auch noch korrupt und geldgeil. Und das Merkwürdigste ist: Die Bösen sind alle krank!"

Weiteres: Marcus Staiger meldet, dass im Netz Dokumente des FBIs aufgetaucht sind, die dem Wu Tang Clan schwere verbrechen anlasten, etwa Drogen- und Waffenhandel, Diebstähle und Autoschiebereien. Tobias Schwartz erinnert an den Lyriker Georg Heym, der vor hundert Jahren bei einem Schlittschuhunfall starb. Besprochen werden die Inszenierung des "Großen Gatsby" am Schauspielhaus Hamburg und ein Konzert des Duos Ordnungsamt in Berlin.

Und Tom.

Tagesspiegel, 16.01.2012

Kerstin Decker verfolgte für ein Porträt der Köchin Sarah Wiener eine Podiumsdiskussion der Köchin, an der auch Renate Künast teilnahm: "Beide kommen schnell überein, dass erst wieder Hoffnung sei, wenn ein Huhn 15 Euro kostet. Das Auditorium blickt verhalten skeptisch bis frenetisch einsichtsvoll. Der Moderator formuliert: 'Wie also schaffen wir es, dass ein Huhn 15 Euro kostet?' Sarah Wiener und Renate Künast bemerken ein leicht ungläubiges Tremolieren der Moderatorenstimme, seine eigene Frage betreffend, und erklären sinngemäß, dass dieser Preis sowohl die Wahrheit als auch die Würde des Huhns sowie unsere eigene Würde widerspiegeln würde."
Stichwörter: Künast, Renate

Aus den Blogs, 16.01.2012

Das iranische Ministerium für Kultur und islamische Führung hat das Iranian House of Cinema aufgelöst, weil es zu unabhängig agierte, meldete Julias Blog schon am 4. Januar: "Das 'Haus des Kinos' war von der halbamtlichen Nachrichtenagentur Fars News in der Vergangenheit heftig kritisiert und als 'Haus der BBC' tituliert worden. Das iranische Geheimdienstministerium hatte BBC kürzlich als Front britischer Spionageaktivitäten bezeichnet. Jegliche Verbindung zwischen der iranischen Film-Community und BBC wurde zum Anlass genommen, iranische Filmschaffende zu verfolgen."

(via BoingBoing) Das Musee McCord in Quebec hat bei Flickr Fotos aus den 1850er bis etwa 1930er Jahren online gestellt. Erstaunlich, wie die Kanadier in dieser Zeit aufgeblüht sind! Miss Estelle Doray aus Montreal wagt 1924 bereits ein Lächeln, Master Henry Archibald dagegen nahm das Leben 1865 noch sehr, sehr ernst.

Richard Fontaine
, Autor des Buchs "Internet Freedom: A Foreign Policy Imperative in the Digital Age" , findet In Techcrunch, dass es an der Zeit ist, einen konsistenten Begriff der "Internetfreiheit" zu entwickeln: "After a year in which new communications tools were used to dramatic effect throughout the Middle East, and at a time when autocratic governments are cracking down against online freedom, it is worth pausing to get straight the concept so many hold dear." (Hier Fontaines Buch als pdf-Dokument.)

(Via Mashable) Hier eines von sechs "Mind-Blowing Dance Videos on YouTube". Dagegen ist Michael Jacksons Moonwalk eine normale Fortbewegungsart.

Welt, 16.01.2012

Ein ziemlich ungemütliches Familienbild zeichnet Michael Pilz von den Gainsbourgs Charlotte und Lulu, die wenig überzeugend in Vater Serges musikalische Fußstapen treten: "Dass alle Veröffentlichungen und Auftritte der Gainsbourgs wirken wie die Familienaufstellungen des Therapeuthen Bert Hellinger, spricht für die ewige Wirkungsmacht des Patriarchen. Lulu wurde Musiker statt Bohemien. Charlotte wurde Schauspielerin statt Selbstdarstellerin. Sie üben ernsthafte Berufe aus, sie stehen ungern auf Konzertbühnen und tun es trotzdem."

Außerdem: Richard Herzinger berichtet von einer Diskussionsveranstaltung über den "Antisemitismus in Ungarn" mit Andras Schiff, Paul Lendvai, Ivan Nagel und der wunderbaren Agnes Heller. Der tschechische Künstler Martin Zet versteht nicht, warum seine an Bücherverbrennung erinnernde Aktion "Deutschland schafft es ab" so einen Wirbel ausgelöst hat: "Ich wusste nicht, dass das Land davon noch so traumatisiert ist." Matthias Heine wünscht sich, Georg Heym hätte etwas länger gelebt, auch wenn der grauhaarige Dichter "mit Embonpoint als Mitglied des DDR-Kulturbunds oder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" heute wenig Glamour verbreiten würde.

Besprochen werden zwei Theaterinszenierungen in Hamburg: Rebekka Kricheldorfs "Der große Gatsby" am Schauspielhaus und Stefan Puchers "Quijote"-Projekt am Thalia Theater.

FAZ, 16.01.2012

Der im Fernsehinterview gesprochene Satz "Man ist Mensch" verdeutlicht ein Selbstmissverständnis Wulffs, meint Harald Welzer im Aufmacher. Wulff verwechsle die Rollen zwischen Privat- und Amtsperson: "Als Ministerpräsident glaubt er, seine private Person sei gemeint, wenn er in die Ferien eingeladen wird, und als Bundespräsident adressiert er eine private Entschuldigung an die Öffentlichkeit."

Gerhard Stadelmaier hat Barrie Koskys Inszenierung des "Kaufmanns von Venedig" in Frankfurt gesehen. Darin folgendes Bild: "Und so muss der Frankfurter Shylock die Vorhaut, die ihm gegen halb acht abgeschnitten ward und seitdem in einer Plastiktüte an der Bühnenwand baumelte, um elf Uhr sich selber wieder annähen. Mit blutiger Unterhose, Zwirn und Nadel. Man kann sich jetzt gar nichts mehr denken, sollte es aber nicht bleiben lassen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse erzählt Paul Ingendaay die melancholische Geschichte von den letzten Tagen des in Spanien einst berühmten Schriftstellers Luis Martin Vigil, der vor einem Jahr starb, ohne dass es einer merkte und jetzt erst seine Nachrufe bekam. Leander Steinkopf folgte der von der Postille Junge Welt ausgerichtet Rosa-Luxemburg-Konferenz, die dem Kapitalismus keine gute Diagnose ausstellte.

Besprochen werden Tschaikowskys Oper "Jolanthe" in Madrid, eine Choreografie Rachid Ouramdanes in Düsseldorf und Bücher, darunter Dieter E. Zimmers Essay zur Frage "Ist Intelligenz erblich?", der dies, so scheint es, für Individuen bejaht, nicht aber für gesellschaftliche Gruppen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 16.01.2012

"Die retromanische Beschwörung der guten alten Zeiten ist auch ein Resultat der Legitimationskrise der Massenmedien", meldet sich Klaus Walter in der auch schon ein wenig retro anmutenden Debatte um Retromanie in der Popmusik zu Wort und erklärt das Internet dafür verantwortlich, dass die Hegemonie des radiogestützten Konsens-Gegenwartssongs gebrochen wurde.

Gustav Seibt wirft einen genaueren Blick in die Geschichte der deutschen Inflation in den zwanziger Jahren und findet, entgegen vieler Beschwörungen, nur wenige Parallelen zur heutigen Finanzkrise: "Im Übrigen steht Europa heute nicht am Ende eines verheerenden Krieges, sondern am Abschluss seiner längsten Wohlstandsphase. Das bezeichnet den entscheidenden Unterschied zur Lage in den zwanziger Jahren: Es gibt schon genügend Geld, um die Krise zu überwinden. Man muss kein neues, schlechtes drucken."

Weitere Artikel: Christina Tauber beschreibt, wie im frühen 19. Jahrhundert die Behängung des Louvre als "kunstwissenschaftliches Bildungserlebnis" neukonzipiert wurde. Niklas Hofmann schließt sich in der amerikanischen Debatte über ein Menschenrecht auf Internetzugang weitestgehend Google-Vizepräsident Vinton G. Cerf an, der hier in der New York Times die Position vertritt, dass das Internet lediglich Mittel zum Zweck sei.

Und auf der Medienseite stellt Claudia Tieschky eine Diagnose und eine Frage: "Der Privatfunk braucht keine 14 Aufsichtsbehörden, die aus Gebührengeld finanziert sind - warum gibt es sie noch?"

Besprochen werden neue DVDs, eine Ausstellung von Blättern aus Max Frischs "Berliner Journal" in der Akademie der Künste in Berlin, Pippo Delbonos Stück "Erpressung" am Münchner Residenztheater, das Egbert Tholl einen "großartig(en) und einzigartig(en)" Abend beschert hat, die Architektur-Installation "Roi des Belges" über der Londoner South Bank, eine Ausstellung mit in Istanbul entstandenen Arbeiten von Georg Kolbe im Georg-Kolbe-Museum in Berlin, eine Alan-Turing-Ausstellung im Heinz Nixdorf Museumsforum in Paderborn und Bücher, darunter eine neue Paul-Valery-Biografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).