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Verschwimmendes Gewimmel

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
11.10.2022. Zwei Fotobücher kurz vorgestellt: Michael Weselys "The Camera Was Present" dokumentiert, was im Zuge von Langzeitbelichtung alles passieren kann: auf einer Fridays-for-Future-Demo, beim Bau des Humboldt Forums oder in der Kantine des Berghains. Katharina Günther zeigt in "Francis Bacon. In the Mirror of Photography" Querverbindungen zwischen den Motiven Bacons auf und macht fassbar, wie sich Bacon seine fotografischen Vorlagen aneignete und sie transformierte.
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Nach sechs Jahren und Kosten in Höhe von  einhundertvierzig Millionen Euro (beides  für Berliner Verhältnisse ein Klacks) wurde die Sanierung der Neuen Nationalgalerie durch David Chipperfield abgeschlossen und Mies van der Rohes Bau aus den sechziger Jahren, der ursprünglich als Hauptquartier von Bacardi auf Kuba geplant war, 2021 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Mit der Wiedereröffnung erschien bei Hatje Cantz auch das Fotobuch von Michael Wesely "Neue Nationalgalerie. 160401_201209", das auf knapp zweihundertzwanzig Seiten aus vier Blickwinkeln aufgenommene Langzeitbelichtungen sowie daraus vergrößerte Detailaufnahmen versammelt, die den Umbau der Nationalgalerie dokumentieren.

© Michael, Wesely, Hatje Cantz

Unter den Aufnahmen befinden sich ein paar der schönsten Langzeitbelichtungen von Wesely überhaupt, eingefangen aus der Dunkelheit des mit Abdeckplanen, Staub, Bauschutt, Holzbrettern, Metallstreben und langen Kabeln übersäten Innenraums, durch dessen Glasfront das goldene Licht kurz vor Sonnenuntergang dringt.

Die in modernistische Klarheit und Ordnung gefassten Idyllen, die vom Arrangement des Lichts an Bilder Caravaggios oder de la Tours denken lassen, halten jedoch nicht lange an, da sie Teil von Weselys konzeptuellem Ansatz sind, dem es nicht um besonders gelungene Einzelbilder geht, sondern um eine sich in der Zeit entfaltende, rekonstruierbare Abfolge, die das Vergehen von Zeit und die Vergänglichkeit von Zuständen (bei gleichzeitigem Voranschreiten der fotografischen Arbeit) thematisiert. Der Fotograf ist dabei beseelt von jedem Auftauchen und Verschwinden eines für Außenstehende auf den ersten Blick noch so geringfügigen Details, was visueller Kontemplation weniger zugeneigten Gemütern beim Durchblättern des Buches einiges an Ausdauer abverlangt.

Weselys Ansatz zielt auf Totalität, ist auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte angelegt, und es sollte niemand überraschend, wenn selbst im Falle seines Ablebens irgendwo auf der Welt Kameras von ihm installiert sind, die weiter ihren Dienst tun und Bilder produzieren  - ganz im Sinn jener Zustandsbeschreibung, die im Nationalgalerie-Buch "The Photographer is absent" lautet, während der dieses Jahr bei Steidl erschienene Band den Titel "The Camera was present" trägt.

Das Buch dokumentiert auf wiederum extensiven dreihundert Seiten, was sich in der Zeit zwischen 2010 und 2020 abgespielt hat, als Wesely noch mit der Galerie Fahnemann zusammenarbeitete, die das Buch mit herausgibt - und das war tatsächlich eine ganze Menge.

Weselys berühmte "Stillleben" verwelkender Blumen finden darin ebenso Platz wie seine "Fünf Minuten-Porträts", bei denen Menschen vor der Kamera stehen, gehen oder sitzen, die das am Ende dabei entstandene Bild fünf Minuten lang belichtet hat. Es gibt Langzeitbelichtungen aus Berlin: vom Bau des Humboldtforums, vom Jüdischen Friedhof, vom Tempelhofer Feld, von einer Fridays-for-Future-Demo, von der Kantine im Berghain, vom Palast der Republik, vom Public Viewing während der Fußball WM 2014 im Haus der Kulturen der Welt.

Ein weiterer, wichtiger Ort ist Brasilien. Das interessanteste Bild daraus ist vielleicht "Abertura, Pinacoteca MASP, durch die sich ein durch die Langzeitbelichtung verschwimmendes Gewimmel an Menschen hindurch bewegt, während die klassischen Gemälde aus dem 16, und 17. Jahrhundert in ihrer hängenden Starre zeitlos und unantastbar scheinen.

Zu guter Letzt Weselys sicher schönste Serie aus dieser Zeit: die Bilder von Claude Monets Seerosenteich in Giverny, mit einiger Wahrscheinlichkeit die Schlüssigste jener zahllosen Variationen, die es zu diesem Thema inzwischen auch in der Fotografie gibt.

© Michael, Wesely, Steidl

Am Ende des an Fotos und Texten (darunter auch das Interview, das ich mit Wesely für Fotolot 2019 geführt habe) geradezu überquellenden, Aufmerksamkeitsspannen wieder hoffnungslos überstrapazierenden Buches bleibt nicht zuletzt die Frage: Was gibt es in Bezug auf die Langzeitbelichtung für FotografInnen überhaupt noch zu tun? Wenn man jene vermeintlich besonders expressiven, analogen Schwarzweiß-Fotos hinzunimmt, die im "Michael Ackerman Retro Style" Unschärfe(n) an Mensch und Tier auf verregneten, dunklen Straßen, in schummerigen Bars und auf Hotelzimmern inszenieren, bleibt eigentlich nicht mehr viel übrig an Terrain, das noch der Eroberung harrt. Aber wer weiß, vielleicht steht eine Entwicklung dahingehend auch gar nicht mehr an, da man bald eine dementsprechend programmierte KI mit der Anweisung "Langzeitbelichtung" füttern und freudig darauf warten kann, was sie bei vorgegebenen Motiven daraus macht.




Michael Wesely
: The Camera was Present. 2010 und 2020.
Steidl Verlag, Göttingen 2022, gebunden, 312 Seiten, 38 Euro.
Zu bestellen bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentauchers


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Francis Bacons Popularität ist ungebrochen, immer noch entfaltet seine Bilderwelt einen unglaublichen Sog, wie ich 2019 anhand der Menschenmassen in der Retrospektive im Pariser Centre Pompidou selbst feststellen konnte.

Inzwischen sind sein Leben und Werk ein untrennbares Amalgam, eine schillernde Monstrosität von jener Art, wie sie der Ästhetik seiner Bilder selbst zukommt. Die Literatur, die dieses Amalgam zum Thema hat, ist vor allem im angloamerikanischen Raum kaum noch abzusehen. Letztes Jahr erschien Mark Stevens' und Annalyn Swans monumentale Biografie "Revelations", die von der Presse durch die Bank abgefeiert wurde - was ein wenig überrascht, da in ihr nur wenig zur Sprache kommt, das man als Bacon-Aficionado nicht schon aus anderen Biografien kannte.

Auf dreihundertzwanzig Seiten entfaltete Bacons Freund und Saufkumpan Daniel Farson schon zwei Jahre nach Bacons Tod "The Gillded Gutter Life of Francis Bacon" (1994) - einen durchwegs unterhaltsame Lektüre, bei der man oft unwillkürlich den Kopf schütteln muss.

Etwas strukturierter geht ein weiterer Weggefährte - Michael Peppiat - zu Werke, dem man ohne Sarkasmus bescheinigen kann, sich aus seiner Beschäftigung mit Bacon eine ordentliche Einnahmensquelle erschlossen zu haben: etwa mit "Francis Bacon: In your Blood" (2016), "Francis Bacon: Anatomy of an Enigma" (2019) oder "Francis Bacon: Studies for a Portrait" (2021), um nur die jüngsten Veröffentlichungen zu nennen.

© Thames and Hudson, The City Gallery The Hiugh Lane Dublin

Hier ein paar immer wieder gern aufgetischte Gustostücke aus Bacons Leben: Der Vater, ein strenger, schwieriger Mann und Trainer von Rennpferden, ließ ihn von Stallknechten mit der Reitgerte züchtigen, woraus Küchenpsychologen (einigermaßen nachvollziehbar) die masochistischen Neigungen Bacons ableiten. Von Muriel Belcher bekam er in ihrer legendären Bar "The Colony" im Londoner Soho Drinks for free und eine Provision, wenn er genügend Leute zum Abfüllen anschleppte - was er auch brauchte, weil er meist Spielschulden hatte und Gewinne sofort verprasste. Struktur und Halt fand Bacon bis zu deren Tod bei seinem alten Kindermädchen Jessie Lightfoot, deren Schlafplatz in der Küche von Bacons Atelier war,  und die - obwohl so gut wie blind -  sowohl für ihn kochte als auch seine Glücksspielabende organisierte.

Bacons erste große Liebe war der Pilot und ausgewiesene Sadist Peter Lacy, der ihn in Anwesenheit des Kunstkritikers John Richardson durch das geschlossene Fenster des zweiten Stocks auf den Rasen hinter dem Haus warf. Sowohl Lacy als auch Bacons zweiter langjähriger Partner, George Dyer, begingen jeweils am Tag einer großer Retrospektive (Tate Gallery 1962, Grand Palais 1971) von Bacons Arbeiten Selbstmord.

Gerne werden Ereignisse aus Bacons Leben zur Interpretation seiner Werken herangezogen. So behaupten etwa Swan und Peppiat, die aufgerissenen Münder in Bacons frühen, Terrarien ähnlichen Anordnungen wiesen gemeinsam mit dem Glas, das Bacon zwischen Betrachter und Leinwand schiebt, auf Bacons Asthma und daraus resultierender Atemnot hin. Richardson wiederum wies früh darauf hin, dass Bacon ein miserabler Zeichner und sich dessen völlig bewusst war - mit ein Grund, warum er zu Fotografien griff, nach denen er arbeiten konnte, am berühmtesten dabei die Studien von Bewegungsabläufen von Edward Muybridge.

Womit wir bei einem Thema wären, das in den letzten Jahren immer stringenter durchleuchtet wurde: Francis Bacon und die Fotografie.

Dass Bacon fotografische Vorlagen intensiv genutzt hat, ist schon länger bekannt - nicht zuletzt fotografische Vorlagen von Freunden und Geliebten. Er sich hat dazu folgendermaßen geäußert: Er fühle sich durch die körperliche Anwesenheit von Modellen "gehemmt, weil, wenn ich sie liebe, ich nicht vor ihren Augen die Verletzung vornehmen will, die ich ihnen in meinem Werk zufüge. Ich ziehe es vor, die Verletzung allein vorzunehmen, da ich, wie mir scheint, ihre Realität so mit größerer Klarheit registrieren kann." Und: "Ich möchte der Intimität der Figur einen sachlichen Hintergrund entgegensetzen (…)."

Was liegt da näher, als Fotografien zu benutzen?

Die Kunsthistorikerin Katharina Günther hat im Auftrag des Francis Bacon Estates Anfang der Zehnerjahre die Unmengen an Fotografien, die sich in Bacons letztem Atelier im Londoner Reece Mews an Wänden, auf Tischen, in Regalen und  zerknittert und mit Ölfarbe bedeckt am Boden befanden, sichten können, nachdem in der Dubliner City Gallery ein eigenes Archiv dafür eingerichtet worden war. Fotografien, Drucke aus Bildbänden, ausgeschnittene Fotos aus Magazinen, Tageszeitungen, Broschüren, Postkarten.

Martin Harrison hat nicht nur die Gesamtausgabe von Francis Bacon in fünf Bänden, sondern 2009 auch "Francis Bacon: Incunabula" herausgegeben, das visuell äußerst reizvolle Exemplare dieses Konvoluts enthält - eigene, kleine Kunstwerke. Günther selbst konnte etwa viertausend fotografische Objekte erfassen und erste Ergebnisse in ihrem Buch "Francis Bacon: Metamorphoses" (2011) publik machen. In Kleinarbeit hat sie in den letzten Jahren die Quellen und Hintergründe der meisten Fotografien recherchiert, und Beziehungen unter einzelnen Motiven sowie thematische Schwerpunkte herausgearbeitet.

© Thames and Hudson, The City Gallery The Hiugh Lane Dublin

Auf Seite dreihundertacht bis vierhundertzehn des nun vorliegenden Buches "Francis Bacon: In the Mirror of Photography" (2022) befindet sich angefangen von "Curxifixion" (1933) bis "Self Portrait (1991-92)" eine Auflistung von Bacons Gemälden und der ihnen zugrunde liegenden fotografischen Quelle. Etwa "Man Standing (1945), Bezug: Heinrich Hoffmann, Adolf Hitler photographed at a window at Hradcany Castle, Prague, 1939, first published in: Illustrierter Beobachter, 23. März 1939" oder "Turning Figure (1963), Bezug: Rene´Jeannée und Charles Ford, Histoire du Cinema, 7th ed., Histoire encyclopedique du Cinéma, I: Le Cinema Francais, Paris, Robert Laffont MCMXLVII, 1947, fig. No 31, 'Jane Mamac et Henry Bosc dans La Goualeuse Devrarennes'."

Ich habe das bewusst zur Gänze angeführt, damit man eine Ahnung vom skrupulösen Irrwitz dieser Recherche-Arbeit bekommt. Günther legt Querverbindungen zwischen den Motiven bloß, zeigt, wie sich der Gebrauch der Motive über die Jahre verändert, legt nahe, warum etwas wegfällt oder plötzlich wieder von Interesse ist, und macht nicht zuletzt fassbar, auf welche Weise das fotografische Material von Bacon angeeignet und zu etwas Neuen transformiert wurde, das sich am Ende nicht selten von seiner ursprünglichen Bedeutung löst. Die lange nur auf Bacons private Verhältnisse hin ausgerichtete Deutung seiner Bilder muss überdacht werden.

Günthers Buch ist reich bebildert und liefert viel Anschauungsmaterial für ihre Ausführungen. Dennoch hat es ein paar für Studien dieser Art typische Nachteile: Der grundsätzliche Tenor des Werks ist Bacon-Kennern im Grunde schon bekannt. Für Anfänger ist es zu speziell und detailliert - mehr eine Habilitationsschrift als ein zum Genuss für Leser und Leserinnen verfasstes Werk. Zu guter Letzt ist es mit knapp sechzig Euro für den Hausgebrauch schlicht zu teuer. Dennoch: Ein vorbehaltloses 'Hut ab' für dieses Stück Buch gewordener, wissenschaftlicher Akribie und Hingabe.



Katharina Günther: Francis Bacon. In the Mirror of Photography. Collecting, Preparatory Practice and Painting.
Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 2022. Gebunden, 446 Seiten, 60 Euro.