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Dennoch geht das Leben weiter

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
01.11.2022. In der Berliner Zitadelle Spandau läuft die unabhängiog kuratierte Ausstellung "Ausnahmezustand", die einen großartigen Einblick in aktuelle Positionen polnischer Fotografie bietet - unter anderem die Arbeiten von Rafal Milach, der sich mit dem Abtreibungsverbot in Polen auseinandersetzt. Unbedingt sehenswert auch die Arbeiten der anderen Fotografinnen.
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Auch in Österreich herrscht zur Zeit der wärmste Oktober in der 256-jährigen Messgeschichte - ein Umstand, den österreichische Klimaexperten wie Marc Olefs als Warnsignal für eine "zu erwartende, katastrophale Entwicklung" deuten. Zudem schreiten Krieg und Inflation voran, und die Stimmung bei Theatern, Kinos und Festivalveranstaltern ist aufgrund des Publikumsschwundes seit Corona mehr oder weniger im Keller.

Dennoch geht das Leben weiter, nicht anders als zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges oder des Wütens der Spanischen Grippe. Nun, da die Tage wieder kürzer, die Nächte wieder kälter und die Leute wieder weniger das Haus verlassen werden, scheint es mir nützlich, auf das eine oder andere Highlight hinzuweisen, das man sich trotz aller Widrigkeiten nicht durch die Lappen gehen lassen sollte.

Eins davon ist definitiv die die Ausstellung "Ausnahmezustand" in der Berliner Zitadelle Spandau, die "polnische Fotokunst heute" zeigt - ein einigermaßen überraschendes Event, das kurzentschlossen geplant und realisiert wurde.

Im Katalog gibt es ein Gespräch zwischen den verantwortlichen KuratorInnen Jens Pepper und Grazyna Siedlecka, in denen auch von den politischen Implikationen dieses  Ausstellungsprojekts die Rede ist, sowie von den Verwerfungen zwischen Polen und weiten Teilen der EU  - allen voran Deutschland -, was nicht nur den kulturellen Austausch erschwert, sondern auch die Situation für europäisch orientierte KünstlerInnen in Polen schwierig macht.  

Obwohl "Ausnahmezustand" die größte Ausstellung polnischer Fotokunst außerhalb Polens ist, bekamen Pepper und Siedlecka keine Förderung von offiziellen polnischen Stellen. Auf Druck ihrer von der nationalkonservativen PiS geführten Regierung sehen sich polnische Museen und Galerien gezwungen, durchwegs polnische KünstlerInnen auszustellen und anzukaufen.

Die Behörden versuchen dabei, offen Einfluss auf die Auswahl der ausgewählten Werke zu nehmen, die bevorzugt den EU-kritischen Patriotismus befördern und keinesfalls die Gefühle der großen katholischen Gemeinde in Polen verletzen sollen.  Wer diesen eng gefassten Kunstbegriff diskret zu unterwandern sucht oder konkret Widerstand übt, kann schnell auf der Abschussliste landen, wie etwa die Direktorinnen des Museums in Lodz und der Zacheta Galerie.

©  Rafal Milach


















Im Grunde genommen wenig überraschend, da von der PiS unterstütze Kräfte Justiz und Presse seit Jahren in gleicher Weise zu gängeln versuchen, Richter und Journalistinnen unter Druck setzen - ein Vorgehen, das folgerichtig zum Konflikt mit der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof führen musste. Nachdem die Kommission in den letzten Jahren mehrere Verletzungsverfahren gegen Polen vor dem EuGH einleitete, erkannte das polnische Verfassungsgericht 2021, das Teile des EU-Rechts unvereinbar mit der Landesverfassung wären.
PiS-Chef Jaroslav Kacynski behauptete in einem Interview im August dieses Jahres, Deutschland habe sich trotz Ukraine-Krieg "insgeheim mit Russland verschworen, um die polnische Rechtsstaatlichkeit auszuschalten, Polen zu unterjochen und auszurauben". "Wir müssen die Bedrohung durch den Imperialismus in der EU besiegen", setzte Regierungschef Morawiecki nach, im Zuge dessen "Deutschland die EU zu seinen Gunsten in eine Oligarchie zu verwandeln" versuche.

Der Riss, der aktuell durch Teile der polnischen Gesellschaft geht, wurde offenkundig, als das Verfassungsgericht ein radikales Abtreibungsverbot in Kraft setzte. Die Richter sprachen sich unter anderem gegen einen Schwangerschaftsabbruch bei einem nicht überlebensfähigen Fötus aus - eine dreißig Jahre alte Frau verlor daraufhin ihr Leben, weil man wartete, bis der Fötus in ihrer Gebärmutter gestorben war.

Seitdem gibt es Demonstrationen, die sich auch für die Rechte des LBTQ+-Spektrums einsetzen, ein "Archiv öffentlicher Proteste" im Internet - und das Fotobuch "Strajik" des Magnum-Fotografen Rafal Milach, der dafür beim Fotofestival in Arles ausgezeichnet wurde.

Fotos daraus gibt es auch an einer Wand in Spandau zu sehen.

Mehr als im schlicht gehalten, kleinformatigen Buch wird dabei deutlich, was für eine herausragende Verbindung von Aktivismus und Kunst, Politik und Ästhetik die Arbeit ist - ein Lehrbeispiel für alle, die sich an genau diesem Ansatz abarbeiten. Wo die meisten über bloße Dokumentation und die daraus folgende Anklage nicht hinauskommen, schafft Milach mit seinen, mit extremem Blitz erzeugten Überbelichtungen den Sprung ins Ornamentale, beinah Abstrakte, ohne an Aussagekraft einzubüßen.

©Aneta Grzeszykowska























Wer nun glaubt, die Ausstellung inszeniere sich selbst als Fanal des Widerstands, sieht sich auf angenehme Weise eines Besseren belehrt.

Die KuratorInnen haben aus ursprünglich in Frage kommenden achtzig Positionen am Ende sechsundzwanzig für die Ausstellung ausgewählt und sich dabei bewusst auf die künstlerische Fotografie konzentriert, sodass die eine oder andere wichtige fotojournalistische Position fehlt. Zudem galt das Augenmerk VetreterInnen der mittleren und jüngeren Generation, die nach dem Ende des Kommunismus ihre Laufbahn eingeschlagen haben.

Es ist bemerkenswert, dass die interessantesten AkteurInnen sich dabei wenig von internationalen Trends beeinflussen ließen. Zudem gab es im Gegensatz zu Deutschland, das inzwischen nicht nur im Bereich der Fotografie unter akuter Verschulung leidet, keine stilprägenden Fachhochschulen und Universitäten, sodass sich höchst individuelle Ansätze - nicht selten mit autodidaktischem Verve - ausprägen konnten.

Die Vielfalt der ausgwählten Arbeiten ist auf jeden Fall erfrischend und sorgt dafür, dass man nicht ermüdet, während man von Raum zu Raum wandert.

Den KuratorInnen ist es gelungen, ein paar der letzten im freien Handel erhältlichen Fotos einer Klassikerin der polnischen Fotografie, Aneta Grzeszykowska, zu versammeln, die mit Hilfe der Haut eines toten Schweins Teile ihres Körpers -Hände, Brust, Kopf-  nachbildet und mit Haaren, Wimpern und Nägeln versieht.

Karolina Wojtas, hat für ihre Installation "We Can't Live - Without Each Other" zweiunddreißig knallige Fotos ihres kleinen Bruders Kuba in grotesker Aufmachung (etwa als Geisha) und aberwitzigen Situationen auf große PVC-Planen drucken lassen und wie Stoffmuster übereinander an die Wand gehängt - um möglichst viele davon zu sehen, muss man das mit der Zeit ziemlich schwere Bündel als Ganzes packen und in die Luft heben. Zudem entwirft sie lustiges Fotospielzeug für partiell Kind gebliebene Erwachsene.

Zosia Promińska - selbst viele Jahre als Model tätig - zeigt in ihrer Serie "Waiting Room" zwölf-bis fünfzehnjährige Mädchen, die in ihren Kinderzimmern in Designerstücken polnischer Modemacher posieren und von einer erfolgreichen Karriere als Model träumen. (Das überaus erfolgreiche Fotobuch dazu gibt es bei Kehrer.)

Von Weronika Gesicka gibt es Schwarzweißfotos, die in Machart und Inhalt zum Umfeld ihrer weit über Polen hinaus bekannten Arbeit "Traces" gehören, die mit stilsicheren, digitalen Manipulationen die Abgründe einer US-Bilderbuchfamlie der fünfziger Jahre sichtbar macht.  

Anna Kieblesz evoziert die gleichzeitige Fragilität und Beständigkeit zwischenmenschlicher Kontakte, indem sie ihre aufwändig produzierten Bilder von sich ineinander verflechtenden Fingern mit Karamel überzieht  - ein Material, das seinen Aggregatzustand ständig ändert, klebrig und flüssig sein kann, aber hart und an den Rändern scharf wie Glas.

© Dominik Tarabanski






























Domimik Tarabanski
schafft kleine, silllebenhafte Skulpturen aus Blumen, die mit Faden, Gummi, Metall und Klebeband in Form gehalten und fotografiert werden - eine Ode nicht nur an seine Mutter, sondern ans unperfekte, dabei liebevolle Detail und die Vergänglichkeit von allem.

Das und vieles mehr gibt es in der Ausstellung zu sehen, die bis zum 1. Januar 2023 läuft, und zu der es einen aufs Wesentliche konzentrierten Katalog gibt, ganz ohne Essays üblicher Verdächtiger oder bedeutungshuberische Akkumulation zeitgeistiger Schlagwörter - und das um nur fünfundzwanzig Euro.


Jens Pepper/Grazyna Siedlecka (Hg.): Ausnahmezustand. Polnische Fotokunst heute. 160 Seiten, 22, 5 x 27 cm, Soft Cover. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2022, 25 Euro. ISBN: 3963117338. Zu bestellen bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher.