Link des Tages

Die Walser-Affäre, zweite Lieferung

01.06.2002. Marcel Reich-Ranicki ist nicht grundsätzlich gegen eine Veröffentlichung von Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers". Nur der Suhrkamp Verlag soll ihn nicht bringen. Der Suhrkamp Verlag hat seine für gestern angekündigte Entscheidung über Walsers Buch noch einmal vertagt, melden die Agenturen. Sie soll nun morgen fallen.
Stand vom 4. Juni

Am Abend wiederholte Marcel Reich-Ranicki in seiner "Solo"-Sendung den Antisemitismusvorwurf gegen Martin Walser und fordert den Suhrkamp Verlag auf, das Buch ncht zu bringen. Günter Grass verteidigte Walser gleichzeitig in der Sendung Boulevard Bio" gegen die Attacken der FAZ und Reich-Ranickis. Im gesamten umfangreichen Lebenswerk von Walser gebe es keine Zeile mit dem Hauch von Antisemitismus, wird Grass zitiert.

Auch in der von uns ausgewerteten Zeitungen schlägt die Affäre weiter Wellen - hier geht's zur Presseschau.

Weiteres: Auch der Pen-Club fordert eine Veröffentlichung von Walsers Buch, meldet die Netzeitung. Der Wiener Standard meldet, dass auch in Bodo Kirchhoffs nächsten Roman "Schundroman" ein Großkritiker ermordet wird. Diesmal eißt er Louis Freytag. "Ob auch für Kirchhoffs 'Schundroman' - wie in jenem von Martin Walser - Marcel Reich-Ranicki Pate stand? In der Frankfurter Verlagsanstalt gibt man sich zugeknöpft."

Stand vom 3. Juni

Ein deprimiert wirkender Marcel Reich-Ranicki hat gestern in der Talkshow "Maischberger" bei n-tv zur Walser-Affäre Stellung genommen. Er zeigte sich "bedrückt und betrübt" über Walsers Roman "Tod eines Kritikers": "Dass ein solches Buch geschrieben wurde, darunter leide ich." Zugleich aber betonte er, dass er nicht generell gegen eine Veröffentlichung des Buchs sei. Nur bei Suhrkamp mit seiner Tradition solle es nicht erscheinen. Das Interview mit MRR kann man sich unter diesem Link ansehen. Reich-Ranicki kündigte in dem Interview auch seine eigene Sendung "Solo" an, die heute Abend im ZDF läuft (siehe auch unsere Teletaucher). Hier will er sich noch mal zur Walser-Affäre äußern. Außerdem soll es um Enzensberger, Hochhuth und Peter Weiss gehen.

Der Suhrkamp Verlag hat sich eine weitere Bedenkzeit gesetzt, um zu überlegen, wie er mit Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" verfahren soll, entnehmen wir eine AP-Meldung bei Yahoo. Unseren Kommentar dazu finden Sie hier.

Michael Maier entdeckt in der Netzeitung keinen Antisemitismus in Walsers Buch: "Selbst wenn Walser das so nicht gemeint haben sollte: Der Kritiker ist die einzig sympathische Figur in dem Buch. Er hat Witz und Lebenskraft, eine gewisse Unverfrorenheit, 'nicht zu bestreitende Genialität', 'Unbeeindruckbarkeit', ein ordentliches Maß an Chuzpe und schließlich eine Frau, die ihm alles verzeiht und ihn mit einem Trick schließlich 'erlöst'."

Stand vom 2. Juni

Am 2. Juni fällt vor allem die FAS, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ins Auge. Volker Weidermann schickt eine Reportage aus der Suhrkamp-Zentrale in Frankfurt. Unter anderem kolportiert er Bericht über einen äußerst erzürnten Jürgen Habermas. Er gehört zum Stiftungsrat, der nach dem Tod des Verlegers Siegfried Unseld die Geschicke des Hauses mitbestimmen soll. Seine Kollegen in diesem illustren Kreis alter Männer sind Hans-Magnus Enzensberger, Adolf Muschg und Alexander Kluge. Gestern trafen sich die vier zum ersten Mal: "Das Treffen war schon lange geplant, es sollten im Beisein mehrerer Anwälte vor allem juristische und rechtliche Dinge besprochen werden. Doch plötzlich geht es um Wichtigeres. Habermas, so war zu hören, habe... habe seinen Rücktritt aus dem Gremium angedroht, noch bevor es überhaupt gegründet worden ist. Er könne nicht in dem Stiftungsrat eines Verlages sitzen, der ein solches Buch publiziere." Habermas soll in Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ebenfalls auf nicht besonders schmeichelhafte Art und Weise porträtiert worden sein.

Heiko Schilk schreibt in der Welt am Sonntag: "Walsers Persiflage auf den deutschen Großkritiker MRR ist kein antisemitisches Machwerk. Der Kurzroman 'Tod eines Kritikers' ist vielmehr selbst ein Stück inszenierter Literaturbetrieb, bei dem auf durchaus frivole Weise mit antisemitischen Klischees gespielt wird."

Sehr dezidiert pro Walser und kontra Schirrmacher äußerte sich am Sonntagnachmittag in einem Interview des Deutschlandradios Sigrid Löffler, ehemalige Mitstreiterin Marcel Reich-Ranickis im "Literarischen Quartett". Der Sender scheint weder Auszüge noch gar das Audio-Interview auf seine Adresse zu stellen. Darum ein paar Zitate aus einer dpa-Meldung bei Yahoo. Sie wirft der FAZ einen Mediencoup vor und nimmt Walser gegen den Antisemitismus-Vorwurf in Schutz. In der Meldung heißt es: "Auch wenn man literarisch viel gegen den Schlüsselroman einwenden könne, halte sie das Buch weder für antisemitisch noch für einen Skandal. Die Hauptstoßrichtung des Buches sei gegen 'die Medienfigur, den Medienscharfrichter Ehrl-König gerichtet, gegen diesen Dompteur des Literaturbetriebs', dessen Vorbild Marcel Reich-Ranicki 'übertrieben, überzeichnet und somit zur Kenntlichkeit entstellt' werde. In einer Satire sei das aber erlaubt."



Stand vom Sonnabend, dem 1. Juni:

Außer ein paar Kritikern kennt zwar nach wie vor niemand Walsers neuen Roman, aber es wird munter weiter diskutiert, und zumindest der Betrieb befindet sich in höchster Aufregung. Wir präsentieren hier Links zu Artikeln vom 1. Juni 2002. Für die Artikel aus der FAZ, der SZ, der FR, der taz und der NZZ, die wir ohnehin täglich auswerten, verweisen wir auf unsere heutige Presseschau. Die FAZ fühlt sich dort bestätigt: Nicht nur sie selbst, sondern fast alle anderen Kritiker auch fänden Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" antisemitisch. Aber die NZZ findet den Roman vor allem schlecht. Die taz auch. Die FR vermutet nicht so hehre Gründe hinter der Attacke der FAZ. Philipp Reemtsma gibt der FAZ allerdings recht. Und die SZ enthüllt, wie Martin Walser auf den Namen Ehrl-König kam - durch einen Verriss eines seiner Bücher von Friedrich Sieburg im Jahr 1960.
Links zu all diesen Artikel hier. Links zu Diskussionen der beiden letzten Tage finden Sie hier. Und hier noch mal der Link zum Artikel von Frank Schirrmacher, der die Diskussion am Mittwoch mit einem Offenen Brief an Walser auslöste.

Den allerfrischesten Stand finden wir am Sonnabend um 18 Uhr in einer Vorabveröffentlichung aus dem Focus vom 3. Juni. Marcel Reich-Ranicki fordert, dass der Suhrkamp Verlag auf eine Veröffentlichung von Martin Walsers neuem Roman verzichtet: "Der Verlag Benjamins, Adornos, Blochs, Celans darf ein solches Buch nicht verlegen. Ich hoffe sehr, dass er in diesem Sinne entscheidet."

Auch der Spiegel bringt Vorabveröffentlichungen. Im Interview erklärt Frank Schirrmacher, warum er zum spektakulären Mittel des Offenen Briefs gegriffen hat. "Ich hatte schließlich keine andere Wahl. In diesem Text wurde ja mein Vorgänger als Literaturchef... attackiert... Es war doch klar, dass ich mich allein schon deshalb vor ihn stellen würde. Nun hat allerdings Walser zu verstehen gegeben, dass er eine Ablehnung dem Einfluss von Marcel Reich-Ranicki zuschreiben würde und dass sein Text dann eben woanders erscheinen müsste. In dieser Situation wäre es nicht zu verantworten gewesen, wenn es später geheißen hätte, die FAZ kannte diesen Text und hat nichts unternommen." Die Kritik des Walser-Romans von Elke Schmitter und ein Text von Henryk M. Broder über die deutsche Sehnsucht nach Normalität sind nur gegen Geld zu lesen. Man darf sich auf Broders eigener Adresse aber einen Radiokommentar von Broder anhören: "Walser hat sich das genau überlegt."

Der Roman kursiert inzwischen unter den Kritikern - der Suhrkamp Verlag hat ihn als Word-Datei verschickt. "'Tod eines Kritikers' ist eine schrille Farce", schreibt Harald Jähner in der Berliner Zeitung, "halb Satire auf den Literaturbetrieb, ein Viertel Pamphlet gegen hypertrophe Kritikermacht und ein weiteres Viertel Verschlüsselungsscherze." Aber ist das Buch antisemitisch? "Ehrl-König wird in diesem Buch nicht als Jude gehasst, sondern weil er Autoren mit rhetorischen Kniffen fertig macht, die allein seinem Ruhm dienen, der Quote und der Zahl der Lacher. Aber der 'Tod eines Kritikers' kokettiert mit dem Antisemitismus, vor allem mit dem Alarm, den er auslöst. 'Das Thema war jetzt, dass Hans Lach einen Juden getötet hatte', heißt es im Roman über die Aufregung in der 'Gesinnungspresse'. Der aktuelle Streit 'antisemitisch oder nicht', wird von Walser im Roman exakt vorhergesehen und vorweggenommen."

Eine "literarische Katastrophe" ist der Roman für Elmar Krekeler in der Welt. Auch die FAZ bekommt da ihr Fett weg: Eine "perfekte Inszenierung einer Mediensensation und eine perfekte Geschmacklosigkeit" sei ihr da gelungen.

Ebenfalls in der Welt wird der Historiker Heinrich-August Winkler (mehr hier) interviewt, der Walser sehr scharf kritisiert: "Walser verrennt sich in die Rolle dessen, der meint, sich gegen eine Welt von Feinden verteidigen zu müssen. Dass er diese Attacken unter Verwendung schlimmster antisemitischer Klischees gegen Marcel Reich-Ranicki führt, finde ich ungeheuerlich. Ich kann nicht anders, als das als einen intellektuellen und moralischen Skandal zu bezeichnen. "

Der Tagesspiegel meldet, dass die per Mail an die Kritiker verschickte Version von Walsers Roman bereits von der an Schirrmacher verschickten Version abweicht. In dieser "hatte es zum Beispiel geheißen, der betrunkene, des Mordes am jüdischen Kritiker Andre Ehrl-König beschuldigte Autor Hans Lach sage über Ehrl-König: 'Seit Freisler hat doch keiner mehr so vor laufender Kamera rumgerudert und rumgebrüllt.' Jetzt ist der Präsident des NS-Volksgerichtshofs Freisler durch Charlie Chaplin ersetzt, mit dem Film 'Der große Diktator' - die Szene also erheblich 'entschärft'."