Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
16.08.2005. In Outlook India will Sunil Khilnani die Geschichte der Teilung Indiens neu schreiben. In Reason erklärt Salman Rushdie, was er am Islam überhaupt nicht liebenswert findet. Im ungarischen Magazin 2000 erzählt Laszlo Krasznahorkai, wie ihn beim Ball der Bergarbeiter das Glück verließ. Der Guardian sucht englischschreibende indische Schriftsteller der Oberliga. In Le Monde diplomatique erklärt Jan Philipp Reemtsma, was die Islamisten mit Johannes Paul II. gemeinsam haben. Sollen die Iraner doch ihre Bombe bauen, meint der Spectator. In der Weltwoche behauptet MRR: Deutschsprachige Frauen können keine Dramen schreiben. Der Nouvel Obs feiert die Köche der Generation C.

New Yorker (USA), 22.08.2005

Alex Ross kehrt erfrischt aus dem alten Europa zurück, wo er in Salzburg Franz Schrekers Wiederbelebung beiwohnen durfte, mit Nikolaus Lehnhoffs Inszenierung der "Gezeichneten". "Lehnhoff führt Schrekers sadistische Manipulationen in seiner Produktion noch einen Schritt weiter. In den ersten beiden Akten entfaltet sich eine abweisende, beunruhigende Landschaft: Figuren kriechen über die Oberfläche einer gigantischen, zerbrochenen Statue, die mitten in Salzburgs aus den Felsen geschlagener Bühne der Felsenreitschule einen dramatischen Anblick bietet." Selbst dass Lehnhoff in einer Steigerung der Vorlage Kinder nicht nur vergewaltigen, sondern auch umbringen lässt, hält Ross für angebracht. "Europäische Opernbühnen sind heutzutage voll von solchen unaussprechlichen Geschehnisse, und üblicherweise haben sie keinen dramatischen Sinn. Lehnhoff aber, der in anderen Produktionen wahrlich nicht als Effekthascher aufgetreten ist, weiß was er tut."

Asienkenner Ian Buruma nimmt sich zwei Bücher über Nordkorea vor, wobei er Bradley K. Martins "Under the Loving Care of the Fatherly Leader" ausführlicher, Jasper Beckers "Rogue Regime" aber deutlicher findet. Wie es weitergehen soll, weiß keiner der beiden Autoren. "Martin schließt sein Buch mit einem bizarren offenen Brief an den lieben Führer ab, in dem er ihm rät, nachdem er ihm alles Gute gewünscht hat, das Land 'kompetenten und vertrauenswürdigen Beamten" zu übergegeben, die Regierung in eine Monarchie umzuwandeln, sich in Südfrankreich oder Hollywood zur Ruhe zu setzen und so den Bestand der Kim-Dynastie zu sichern, 'vielleicht sogar für Tausende von Jahren'. Das scheint mir nicht unbedingt ein nützlicher Beitrag zu sein."

Außerdem: Gina Ochsner steuert die Kurzgeschichte "Thicker Than Water" bei, während Joel Stein sich über die verzweifelter werdenden Anwerbungsversuche der Armee lustig macht. Ansonsten gibt es Besprechungen, die sich dem zweiwöchigen Gastspiel des Moskauer Bolshoi-Ballets in New York, Wong Kar Wais neuem Werk "2046" und David Mackenzies Streifen "Asylum", dem neuen Stück der Five Lesbian Brothers "Oedipus at Palm Springs" im New York Theatre Workshop, Kanye Wests Rap-Album "Late Registration" sowie drei Büchern, die nach der Wahrheit suchen, darunter Harry G. Frankfurts Essay "On Bullshit", dem zu entnehmen ist, dass die Essenz des Bullshits darin liegt, dass er ohne jeglichen Bezug zur Wahrheit produziert wird - im Gegensatz zur Lüge, die immerhin ein negatives Verhältnis zur Wirklichkeit aufweist.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 22.08.2005

Fast sechzig Jahre nach der Teilung Indiens fasst sich Outlook ein Herz, räumt eine ganze Ausgabe frei und fordert eine Neuschreibung der Geschichte. "In der nationalen Imagination", schreibt Sunil Khilnani, Professor der Johns Hopkins University, im Aufmacher, "existiert die Teilung als archetypische Legende von tragischen Helden und verschlagenen Übeltätern - Männern, die sich aufopfern, und anderen, die sie betrügen." Doch die Teilung, so Khilnani, war ein komplexes politisches Ereignis. Um Religion ging es dabei nur am Rande. Sikhs, Hindus, Moslems - "jede dieser Gruppen war in sich vielfach gespalten; die Gewalt, die die Teilung begleitete, wurde nicht so sehr von diesen drei Gruppen verursacht, sie war vielmehr nötig, um diese Gruppen zu definieren und existent zu machen - sie war nötig, um ihre Identitäten festzufrieren."

Ein Blick von außen: Christopher Hitchens rekapituliert die Verwobenheit seiner Biografie mit der jüngeren indischen Geschichte, um dann mahnend anzufügen: "Für so manchen Inder war es eine Lebensaufgabe, über seine Fixierung auf alles Britische hinweg zu kommen. Und das Land selber brauchte beinahe ebenso lange, um seine Abhängigkeit vom sowjetischen Modell 'sozialistischer Planung' zu überwinden. Das jetzt aber durch eine Hingabe an Hinduismus und nationalen Ahnenkult zu ersetzen, hieße, den historischen und geografischen Knotenpunkt, den Indien heute markiert, zu missachten."

S. Anand hat sich mit Arundhati Roy über Indien und die Welt unterhalten und ihr sogar eine skeptische Bemerkung über ihre eigene Rolle als Ikone des globalen Antikapitalismus entlockt: "Manchmal ersticken NGOs politischen Widerstand effektiver als offene Unterdrückung. Und, ja, man könnte argumentierten, dass ich selbst auch nur als Konsumartikel in den Regalen des Supermarktes des Empire ausliege, neben Chinakohl und gefriergetrockneten Garnelen - buy Roy, get two human rights free!"

Weitere Artikel: Der Anthropologe Akbar S. Ahmed kritisiert am Beispiel des pakistanischen Staatsgründers Mohammed Ali Jinnah die - je nach nationaler Zugehörigkeit - völlig unambivalente Heroisierung oder Verdammung der historischen Figuren der Teilung als Symptom ideologischer Erstarrung. Zu lesen ist außerdem ein Auszug aus Shankar Vedantams Roman "The Ghosts of Kashmir". Der australische Filmemacher John Pilger erlebt Bombay als konzentriertes Abbild des gespaltenen Indiens. Sudheendra Kulkarni plädiert für eine verstärkte und pragmatische Zusammenarbeit der drei aus der Teilung hervorgegangenen Staaten Pakistan, Bangladesh und Indien. Und Ashis Nandy rehabilitiert die "Bösewichte der Teilung", den frühen Hindu-Nationalisten Vinayak Damodar Savarkar und den Gründer Pakistans, Mohammed Ali Jinnah, als unwillkürliche Epigonen der europäischen Geschichte.
Archiv: Outlook India

Reason (USA), 15.08.2005

Der Schriftsteller Salman Rushdie spricht mit Shikha Dalmia ein wenig über seinen neuen Essayband "Überschreiten Sie diese Grenze!", und viel darüber, dass Islam und Terror nicht mehr guten Gewissens auseinander zu halten sind. "Es erinnert mich ein bisschen an das, was die Sozialisten während der schlimmsten Exzesse der Sowjetunion behauptet haben. Das ist nicht wirklich Sozialismus, sagten sie. Es gibt einen wahren Sozialismus, in dem es um Freiheit, soziale Gerechtigkeit und so weiter geht, aber das tyrannische Regime dort drüben, der real existierende Sozialismus, hat nichts mit dem wirklichen Marxismus zu tun. Das Problem war, dass es genau das war. (...) Ich glaube, man fängt an, diese Trennung auch in der Debatte über den Islam zu machen. Es gibt aber einen aktuell existierenden Islam, der überhaupt nicht liebenswert ist."
Archiv: Reason
Stichwörter: Marxismus, Rushdie, Salman, Exzess

The Nation (USA), 15.08.2005

Der Rassismus des Westens ist der Treibstoff des islamischen Terrors, behauptet die Autorin Naomi Klein. "Das wahre Problem ist nicht zuviel Multikulturalismus, sondern zu wenig. Wenn die Vielfalt, die im Augenblick an den Rändern der westlichen Gesellschaften vor sich hin vegetiert - geografisch und psychologisch - wirklich in die Zentren hineinwandern dürfte, könnte sie das öffentliche Leben im Westen mit einem mächtigen neuen Humanismus anreichern."

Gary Ruskin und Juliet Schor beschreiben, wie die großen Nahrungsmittelkonzerne verhindern, dass die grassierende Fettleibigkeit auf die Agenda amerikanischer Gesundheitspolitiker kommt.
Archiv: The Nation

Gazeta Wyborcza (Polen), 13.08.2005

In Polen sorgen politische Konflikte mit den östlichen Nachbarn in letzter Zeit für viel Aufregung. In Russland wurden innerhalb einer Woche fünf polnische Diplomaten auf offener Straße verprügelt und in Weißrussland wird die polnische Minderheit drangsaliert. Die Rolle von Präsident Aleksander Lukaschenko, 'dem letztem Diktator Europas' ist dabei hinlänglich bekannt. Dass eine Rivalität um den postsowjetischen Primat zwischen Lukaschenko und Putin ebenfalls dahinter steckt, vermutet Waclaw Radziwinowicz. "Diese Rivalität wird Putin nicht zwangsläufig gewinnen. Unter anderem weil sich Lukaschenko einfach viel mehr erlauben kann, und weil Russland den kleinen Nachbarn braucht. Nachdem Putin Georgien, die Ukraine und Moldavien verloren hat, muss er händeringend etwas 'wiedergewinnen', und dass auch noch schnell, vor den Präsidentschaftswahlen 2008."

Waclaw Bartczak sieht in Russland wiederum eine immer stärkere Hinwendung zur glorreichen Vergangenheit und zur Formulierung einer 'Sonderwegsthese'. "Das Gefühl, dass wir anders sind als der Westen, begleitet die Russen seit je her. Jetzt formulieren die Traditionalisten eine neue politische Theorie. Einerseits beinhaltet sie glaubwürdige Diagnosen - wie die zivilisatorische Spezifik Russlands und den Einfluss von Geografie und Klima. Andererseits sind die Vorschläge der Traditionalisten Teil einer nebulösen Utopie, die zu einer Modernisierung des Landes nicht beitragen kann. Indem sie der politischen Utopie folgen, beweisen sie, dass ihr Optimismus eher der Vergangenheit als der Zukunft gilt", schreibt Bartczak.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Guardian (UK), 13.08.2005

Seit der Renaissance der englischen Literatur aus Indien in den neunziger Jahren strömen die britischen Literaturagenten durch das Land auf der Suche nach einer neuen Arundhati Roy, einem neuen Salman Rushdie oder V.S. Naipaul. Fündig sind sie bisher nicht geworden, meldet William Dalrymple. Kein Wunder: "Soweit es zumindest das Schreiben auf Englisch betrifft, lebt nicht ein Schriftsteller der Oberliga in Indien - außer Arundhati Roy und die hat sich von der Belletristik offenbar verabschiedet. Man kann schon nicht mehr davon sprechen, dass der Diaspora-Schwanz mit dem indischen Hund wedelt - die Diaspora ist der Hund."

Weiteres: Der südafrikanische Fantasy-Autor Dan Jacobson erklärt, warum er sich nicht mehr verpflichtet fühlt, realistisch über sein Land zu schreiben. Sein Kollege Justin Cartwright fordert uns auf, endlich einzusehen, dass Religion "kompletter Blödsinn" ist: "Wir verhalten uns moralisch und verantwortlich, nicht weil Gott es uns gebietet, sondern weil es in unserer Natur liegt und dem gesunden Menschenverstand entspricht." Außerdem schwärmt Nicholas Lezard von Theodor W. Adornos "In Search of Wagner" ("Versuch über Wagner") als Kritik in ihrer höchsten Form.
Archiv: Guardian

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.08.2005

Jan Philipp Reemtsma skizziert in einer gekürzt abgedruckten Rede das weltweit sensible Verhältnis von Religion und säkularer Gesellschaft. "Für einen religiösen Menschen ist eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der (orthodoxen) Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms. Diese säkulare Gesellschaft zu bekämpfen ist ein klares Ziel islamistischer Gruppen überall in der Welt, sie in Israel zu bekämpfen ist Ziel eines Teils des dortigen politischen Spektrums, und sie weltweit zu bekämpfen war das erklärte Ziel des vor kurzem verstorbenen Papstes Johannes Paul II." Säkulares Denken wiederum sollte sich im liberalen Gegenzug nicht um religiöse Symbole wie Kopftücher scheren.

Weitere Artikel: "Sieben Kanonenschüsse verkündeten die Ankunft der Besucher." Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun erzählt, wie Don Quijote nach Tanger kommt. Der Soziologe Denis Duclos registriert, dass die Überwachung der Bürger zum nahezu allgemein akzeptierten Mantra der Regierungen wird. Der französische Politikwissenschaftler Philip S. Golub macht die "nackte imperialistische Machtpolitik" der USA für das weltweite Wiedererstarken des Nationalismus verantwortlich. Und Meron Rapoport spekuliert, wie zivil der Abzug der israelischen Siedler aus dem Gaza-Streifen verlaufen wird.

Nepszabadsag (Ungarn), 12.08.2005

Überrascht berichtet die Publizistin Judit N. Kosa über den Erfolg einer neuen Website des ungarischen Bildungsministeriums und des Nationalen Staatsarchivs. Bei "Familienstammbaum.Erinnerung" kann jeder Urkunden, Briefe und andere Dokumente der Familiengeschichte kostenlos ins Netz stellen, die Daten mit einer Stammbaumsoftware ordnen und Anknüpfungspunkte zu anderen Familien entdecken. Kurz nach dem Start haben rund 10.000 Menschen ihren Familienstammbaum online gestellt, sich in Chatrooms kennengelernt oder Familienroman-Blogs geschrieben. "Der Direktor des Staatsarchivs Lajos Gecsenyi meint, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre zur Lockerung menschlicher Beziehungen geführt haben. Welche Kenntnisse man über seine Vorfahren habe, sei oft zufällig. Das bedeute eine enorme Last für die Gesellschaft." Die Website, so sieht es die Autorin, wird als nach dem Grass-Root-Prinzip erstellte familiengeschichtliche Datenbank für die ungarische Gesellschaft zu einem wichtigen Instrument der Geschichtsschreibung werden.
Archiv: Nepszabadsag

Al Ahram Weekly (Ägypten), 11.08.2005

Ezzat Ibrahim bemüht sich, im Gespräch mit Francis Fukuyama den roten Faden im Denken des scheinbar so janusköpfigen Politologen zu finden, der vor anderthalb Jahrzehnten das Ende der Geschichte und den endgültigen Triumph des westlichen Liberalismus proklamierte. Fukuyama berät die Bush-Regierung, bezeichnet aber den Irak-Krieg vorsichtig als Fehler; er ist einer der respektiertesten neokonservativen politischen Kommentatoren, doch bei den letzten Wahlen gab er seine Stimme John Kerry. "Amerika", gibt er zu Protokoll, "hat nirgends auf der Welt eine Demokratie errichtet. In Staaten, wo Menschen nach Demokratie strebten, haben diese die Demokratie selbst errichtet. Die USA können nicht einfach beschließen, ein Land zu demokratisieren, sie müssen die internen Diskurse stärken, die in diese Richtung drängen."

Die in London lebende irakische Schriftstellerin Schriftstellerin Haifaa Zangana behauptet, nicht der Islam, sondern die amerikanische Besatzung Iraks zerstörten die Rechte der Frauen dort. Und Youssef Rakha berichtet über das 41. Internationale Festival von Karthago in Tunis.
Archiv: Al Ahram Weekly

Weltwoche (Schweiz), 11.08.2005

"MRR ist ein 85-jähriger Popstar, der sein Publikum mit Buchkritiken sehr unterhält", weiß Julian Schütt nach einem in der Tat recht unterhaltsamen Gespräch mit einem ungeduldigen Marcel Reich-Ranicki. "Ich hoffe, Ihr Aufnahmegerät funktioniert. Nicht dass Sie nachher sagen, das Band sei nicht in Ordnung gewesen. Wir werden diese Aktion nicht wiederholen. Also los!" Dass in seinem Kanon deutscher Dramen nur Männer vertreten sind, ficht ihn nicht an. "Ich wähle Bücher nicht nach den Geschlechtsteilen der Autoren aus. Meine Überzeugung ist: Deutschsprachige Frauen können keine Dramen schreiben. Ich weiß, ich gelte deswegen als Frauenfeind. Man will mich erdrosseln und kommt mir mit Marieluise Fleißer, der aber Bertolt Brecht mehr als nur über die Schultern geguckt hat. Sie hat nach der Beziehung mit Brecht noch vierzig Jahre gelebt, doch kein Stück mehr zustande gebracht."

Außerdem führt Nancy Jo Sales ein langes und ruhiges Interview mit der Schauspielerin Angelina Jolie.
Archiv: Weltwoche

Nouvel Observateur (Frankreich), 11.08.2005

Ist nun die französische Küche in der Krise oder ist es nur der Guide Michelin? Die Titelgeschichte beschäftigt sich mit einem neuartigen Phänomen in der Hochgastronomie: der Rückkehr zur Vernunft. Immer mehr Restaurantbetreiber wollen der Hochpreispolitik und der "Diktatur des Michelin" entrinnen und geben in letzter Konsequenz auch schon mal einen der mühsam erkochten Sterne zurück. Ihr neues Credo: Man könne auch "ohne Chichi und Tralala" erstklassig und mit persönlichem Stil kochen. Die angesagten Jungköche aus der "Generation C." heißen: Fabrice Biasiolo ("Une auberge en Gascogne"), Benjamin Tourcel, Gilles Choukroun, David Zuddas. Der Nouvel Obs feiert sie schon als "Husaren der Tafel", die aufgebrochen seien, die französische Küche zu "entsakralisieren". Ein umfassend recherchierter Bericht stellt fest: "Die meisten Küchenchefs der neuen Generation lehnen das 'System' und den 'Druck' des Michelin ab. Sie lieben ihren Beruf leidenschaftlich, wollen aber nicht daran zu Grunde gehen. Und sie können die willkürlichen, dummen und öden Beurteilungen nicht mehr ertragen."

Zu lesen gibt es außerdem ein Interview mit Pascal Ory, Herausgeber des Buchs "Discours gastronomique francais des origines a nos jours" (Gallimard), über die abnehmende Bedeutung der französischen Küche und ein Porträt des Kochs Thierry Marx. Der bietet in seinem Restaurant Chateau Cordeillan-Bages im Medoc ein Menü für 60 Euro an. An jedem Tisch isst ein Gast umsonst - und muss im Gegenzug ein elaboriertes Urteil über die Kreationen des Küchenchefs fällen. Ergänzt wird das Dossier um ein kleines Lexikon der "angesagten Küche".

In der Reihe über Ethnologie nach Levy-Strauss schreibt die französische Anthropologin Barbara Glowczewski über ihre Forschungen zur "faszinierenden Kultur" der australischen Aborigines.
Stichwörter: Aborigines, Gallimard, Ethnologie

Spectator (UK), 15.08.2005

Bruce Anderson wirft einen recht nüchternen Blick auf den Streit um das iranische Atomprogramm: Die europäische Diplomatie wird eh zu nichts führen, und die USA sind geopolitisch nicht so unzurechnungsfähig, den Iran anzugreifen. Was also tun? Andersons Vorschlag: "Lasst sie die Bombe bauen". Dafür spreche übrigens auch der Vergleich mit den anderen Atommächten: "Die Iraner wissen, dass sie in einer gefährlichen Nachbarschaft leben. Wenn die Chinesen, Inder und Pakistaner Atomwaffen haben dürfen, warum nicht sie? Sie sind demokratischer als Pakistan, und bei den Menschenrechten schneiden sie besser ab als die Chinesen."

Theo Hobson sieht in der Vorstellung, islamistische Selbstmordattentäter würden aus religiösen Motiven handeln, nichts als atheistische Propaganda. "Der erste Selbstmordattentäter, von dem wir wissen, war Samson, der auch nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte. Seine Motiv war kein persönliches post-mortales Ziel, sondern der Wunsch, Gott und seinem Volk zu dienen. Auch die Kamikaze-Piloten des Zweiten Weltkriegs handelten nicht aus einem überidrischen Glauben heraus. Sie hatten einfach nur einen starken Sinn für Loyalität gegenüber der Geschichte. Dieser Sinn für historische Berufung ist für muslimische Selbstmordattentäter weitaus wichtiger als der Glaube ans Paradies. Sie sind überzeugt, dass sie zu einem unterdrückten Volk gehören, einer supranationalen religiösen Gemeinschaft, die die Welt beherrschen sollte."
Archiv: Spectator

HVG (Ungarn), 10.08.2005

Der Historiker Laszlo Varga vergleicht die Bewältigung der Stasi-Vergangenheit in Ungarn und in Deutschland und stellt Ungarn ein Armutszeugnis aus. "In den ersten Jahren des Stasiunterlagen-Gesetzes waren die Ostdeutschen schockiert zu sehen, wie nahezu vollkommen ihr Leben von der Stasi beherrscht war. Später haben sie sich mit der moralischen Seite des Problems auseinandergesetzt und die Stasi historisch gründlich aufgearbeitet." In Ungarn fehlt dieses Gesetz bis heute: "Wir kennen die Taten der Spitzel oft nicht genau und finden deshalb schnell eine Ausrede für sie. Manchmal avancieren sie sogar zu patriotischen Helden. Den Opfern der Stasi hingegen begegnen wir mit Misstrauen und Distanz, vor allem, wenn sie wirklich gegen die Diktatur gekämpft haben. So legitimieren wir unsere Feigheit, unser alltägliches Kompromisslertum."

Der neue ungarische Staatschef Laszlo Solyom hat nach seinem Amtsantritt vergangene Woche unter anderem erklärt, dass er solange nicht in die USA fahren wird, wie er dafür einen Fingerabdruck abgeben muss. Der Publizist Adam Topolanszky kritisiert ihn dafür: Die Sicherheit der westlichen Welt sei wichtiger als die Freiheitsrechte des Individuums. Europa, so Topolaszky, sollte die USA im Kampf gegen radikale islamistische Fundamentalisten mehr unterstützen. "Die zivilisierte Welt - auch wenn sie geteilt ist - darf weder die Gefahr bagatellisieren noch stets nach Kompromisslösungen suchen und der Verantwortung ausweichen. Amerika hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, seine Staatsbürger nach seinen Möglichkeiten zu verteidigen. Die Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen bei der Einreise in die USA spiegelt den einstimmigen Willen der Bürger Amerikas wider. Die Abnahme des Fingerabdrucks an der US-amerikanischen Grenze geht übrigens wesentlich schneller als beispielsweise einen Brief in der Ungarischen Post aufzugeben."
Archiv: HVG

New York Times (USA), 14.08.2005

Amanda Hesser besucht Bruno Goussault, um für das New York Times Magazine zu erfahren, warum gute Restaurants ihre Gerichte jetzt einschweißen, bevor sie sie kochen. "Sous vide" heißt die Technik, bei der Vakuumdruck, niedrige Kochtemperaturen und Tiefkühlung nach wissenschaftlichen Vorgaben kombiniert werden. "Für Fleisch und Fisch gibt es ein Fenster zwischen 52 und 62 Grad Celsius. Unter 52 riskiert man Bakterien. Über 52 fangen die Proteine an, zu verfallen. Gossault steckte jeweils ein Stück Forelle in Thermalzirkulatoren, die auf 56 und 53 Grad eingestellt waren, um zu sehen, ob man die endgültige Innentemperatur auf 54 beziehungsweise 50 Grad anheben kann, ohne die Textur zu verändern, die in dem Stück erreicht wurde, das auf 47 Grad erhitzt wurde. Das Kochen in einem Thermalzirkulator sieht ein wenig so aus wie eine animierte Skulptur von Damien Hirst - abstrakte Tierteile schweben in einer vibrierenden Flüssigkeit."

Im Titel beschreibt Daniel Bergner die wachsende Rolle von privaten Sicherheitsfirmen, früher bekannt als Söldner, im Irakkrieg. Jeder siebte Soldat dort gehört nicht dem amerikanischen Militär an. David Rieff erinnert an das größte Problem Europas. "Die europäische Vision des Multikulturalismus, in ihrer gleichzeitigen Gutwilligkeit und Selbstbeweihräucherung, ist nicht länger aufrecht zu erhalten." Der ehemalige Sicherheitsberater Richard A. Clarke gibt Ratschläge, wie man Schläferzellen ausfindig machen kann.

Die New York Times Book Review: Breat Easton Ellis' (mehr) neuer Roman "Lunar Park" hat einen Helden mit Namen Bret Easton Ellis (und eine eigene Website). Der Autor verspricht die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über Drogen, Frauen und das leidige Prominentendasein, doch A.O. Scott sucht vergeblich. "Das Problem dieses Buches ist nicht, dass es eine schnelle, schlingernde Fahrt ins Nirgendwo ist. Natürlich ist es das, es ist ein Roman von Bret Easton Ellis. Das Problem ist, dass es nicht die Ehrlichkeit hat, zuzugeben, dass es mehr sein will, dass es nicht den Glauben aufbringt, dass den Lesern mehr zugemutet werden kann und dass es nicht den Mut hat, dieses mehr zu versuchen. Es ist das Porträt eines Narziss, der endgültig gelangweilt ist von sich selbst; dass dies auch ein Selbstporträt sein könnte, macht es nicht wahrer." Hier liest Ellis aus "Lunar Park" vor.

Barbara Ehrenreich wütet über das explodierende Genre der Ratgeber fürs Berufsleben. Sie wittert eine große Verschwörung der Vorstandsvorsitzenden. "Vielleicht sagen uns die Bücher, was diese Typen ihre Untertanen glauben lassen wollen. Oder - und das ist die wirklich beängstigende Möglichkeit - die CEOs glauben selbst an diese Prinzipien, und es sind die Wahnhaften, Unmoralischen und die Sprachbehinderten, die in der Welt am Drücker sind."

Weitere Besprechungen: Curtis Cates Biografie von Friedrich Nietzsche ist zwar erstklassig, versichert William T. Vollmann, aber auch ein wenig zu freundlich zu dem Alleszermalmer, der mit seiner Philosophie "grausam elitären Ideologien" eine Steilvorlage geliefert habe. Ganz begeistert zeigt sich Elizabeth Schmidt von Mohammed Naseehu Alis Debüt "The Prophet of Zongho Street", ein Erzählband (erstes Kapitel), dessen Geschichten zwischen Ghana und Lower Manahttan hin- und herpendeln.
Archiv: New York Times