Magazinrundschau
Auf Angriff spielen
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.10.2008. Das neue slowakische Internetmagazin Salon übersetzt Artikel von Miroslav Kusy, Rudolf Chmel und Gaspar Miklos Tamas zu den gespannten Beziehungen zwischen Ungarn und der Slowakei. In Portfolio ruft Netscape-Miterfinder Marc Andreessen den Zeitungen zu: Stellt sofort die Printausgabe ein. In Le Point prophezeit Emmanuel Todd die Rückkehr von Marx und Bonaparte. Die polnischen Zeitungen berichten über den Fall Kundera. Das TLS stellt einen militanten prokapitalistischen Literaturkritiker vor. In der Weltwoche spricht Paul Scheffer über die Chancen der Einwanderungsgesellschaft.
Portfolio (USA), 01.11.2008
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American Journalism Review (USA), 27.10.2008
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Point (Frankreich), 23.10.2008
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Polityka (Polen), 28.10.2008
Zum Fall Kundera schreibt Jacek Kubiak: "Das 'Corpus delicti' besteht nur aus einem Polizeirapport. Warum sollte man da nicht einer Person glauben, die das kommunistische System kompromisslos bloßgestellt und dafür einen hohen Preis gezahlt hat? Aber Glauben ist nur Glauben." Verwunderung löste bei vielen Kommentatoren die Tatsache aus, dass die Publikation von Respekt so gar nicht dem bisherigen politischen Profil der Zeitschrift entspricht. Es gehe um das "unpersönliche Streben nach Wahrheit", hatte Chefredakteur Martin Simecka argumentiert. "Diese Begründung ruft in Polen einen deja-vu-Effekt hervor", meint Kubiak. "Wie viele junge Journalisten suchen heute nach Wahrheit, Licht, Glauben und Hoffnung unter der Ägide des IPN", des polnischen Instituts des nationalen Gedenkens.
Tygodnik Powszechny (Polen), 26.10.2008
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Außerdem: Anita Piotrowska feiert die Filme "Luz silenciosa" von Carlos Reygada und "Ostrow" (mehr dazu hier) von Pawel Lungin: "Braucht heute noch jemand Filme, die nach der Qualität des geistigen Erlebens fragen? Solche kontemplativen, Aufmerksamkeit fordernde Filme entstehen im fernen Mexiko und nahen Russland. Wir aber, eine Nation, die sich für religiös hält, bevorzugen brave Hagiographien." Und in der dreimonatlichen Bücherbeilage wird die Veröffentlichung der polnischen Übersetzung von Virgina Woolfs letztem Roman "Zwischen den Akten" angekündigt. Die Übersetzerin Magda Heysel spricht im Interview von der schwierigen Arbeit an dem Buch, freut sich aber, dass die Lücken in der Rezeption der Schriftstellerin langsam geschlossen werden. (Woolfs frühe Texte und literarische Kritiken sind in Polen weitgehend unbekannt).
Philadelphia Inquirer (USA), 26.10.2008
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Times Literary Supplement (UK), 24.10.2008
David Hawkes stellt das Buch eines militanten prokapitalistischen Literaturkritikers vor: Russell A. Bermans "Fiction Sets You Free". "Wie der doktrinärste dialektische Materialist besteht er darauf, dass kulturelle Trends epiphenomenal Reflektionen ökonomischer Interessen sind. Antiamerikanismus ist 'in Wahrheit' Antikapitalismus, und in 'Fiction Sets You Free' weist Berman darauf hin, dass Antikapitalismus die wahre Quelle eines intellektuellen Antihumanismus ist, der der Vorstellungskraft, Unternehmen, ja der Literatur selbst widerspricht. Seine Argumentation basiert auf der These, dass Literatur im Leser eine kapitalistische Mentalität vermutet und diese damit zu erschaffen hilft. Er ist überzeugt davon, dass Literatur ganz natürlich 'zu den Wertstrukturen und Tugenden einer kapitalistischen Ökonomie' und zur 'Verbreitung von kapitalistischem Verhalten beiträgt', denn alles Schreiben von Literatur 'pflegt die erfindungsreiche Tapferkeit unternehmerischer Visionen'. Literatur tut das, so Berman, einfach weil sie erfunden ist." Als Gewährsmann für diese Thesen nimmt Berman Adorno in Anspruch, so Hawkes, der diese These ebenso wie die anderen Thesen Bermans ablehnt.
Espresso (Italien), 23.10.2008
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Weltwoche (Schweiz), 23.10.2008
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Spectator (UK), 23.10.2008
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Literaturen (Deutschland), 01.11.2008
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Im aktuellen Heft zum Titelthema "Vorwärts ins Mittelalter" - davon aber, scheint es, nichts online - finden sich (nach längerem Suchen) Betrachtungen der Noch-Chefredakteurin Sigrid Löffler über Kunstmarkt-Krimis von Jonathan Santlofer und Peter Carey (nichts leider zu Charles Willefords Klassiker "Ketzerei in Orange"). In der avantgardistischen Netz-Aufbereitung stehen dazu leider Sätze wie dieser: "Dieser,einFettkloß, ist zugleich dementundvif,undseine schrullige Suada,vonBernhard RobbenmitVerveundSprachwitzübersetzt,bestätigtden Autor als einenMeister der Bauchrednerei." (sic!)
Weitere Artikel: Sibylle Berg denkt über den disziplinfreudigen Herrn Bueb und den Kriegszustand nach, der Schule heißt. Roland Düker hat den Schriftsteller Ulrich Holbein im Knüllgebirge besucht. Von schweizerischen Diskussionen, über die Buchpreisbindung vor allem, berichtet Julian Schütt. In der "Was liest..."-Reihe liest Angela Krauß nichts - oder jedenfalls unregelmäßig. Besprochen werden - komplett absatzlos - Günter Grass' Roman "Die Box", Katrin Passigs und Sascha Lobos Prokrastinations-Ratgeber "Dinge geregelt kriegen" und Julian Jarrolds "Wiedersehen in Brideshead"-Verfilmung. Naturgemäß darf auch eine Besprechung von Uwe Tellkamps "Meisterwerk" (so Andreas Nentwich) "Der Turm" nicht fehlen. Nur im Print gratuliert Stefanie Peter gratuliert Ethnologen Claude Levi-Strauss zum runden, nämlich hundertsten Geburtstag.
Prospect (UK), 01.11.2008
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Weitere Artikel: Ex-UN-Mitarbeiter Michel Soussan erklärt, warum seiner Ansicht nach die Vereinten Nationen inzwischen ein irreparables Desaster sind. Jim Giles erzählt am Beispiel des Schmerzmittels "Vioxx", welchen Schaden die immer aggressiveren Verteilungskämpfe auf dem Arzneimittelmarkt anrichten. Jason Burke fordert den Westen dazu auf, mehr Verständnis für die Taliban zu entwickeln.
Außerdem gibt es ein großes Symposion (Übersicht) zur Finanzkrise, dessen Diagnosen von Mark Hannams lässigem Schumpeterianismus "Welche Krise? Das ist kreative Zerstörung" bis zu Alex Rentons Erfahrungsbericht "Ich hab mein Geld in Island verloren" reichen.
Odra (Polen), 01.10.2008
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Außerdem: Marta Mizuro bespricht die polnische Ausgabe von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten". Sie hält dem Autor zugute, seinen Helden als wenig vertrauenswürdig konstruiert zu haben: "Es ist ein großartiger Roman, weil unvollkommen. Man kann kaum erwarten, dass das Geheimnis des Genozids und seiner Vollstrecker ein für allemal gelöst wird. Maximilian Aue versucht es zwar, aber der Leser traut ihm nicht. Das macht Littells Buch glaubwürdiger." Und Arkadiusz Zychlinski denkt über Slavoj Zizek nach, von dem in Polen 2008 drei Bücher erschienen sind: "Hinter der Maske des Ultra-Linken versteckt sich ein gemäßigter Sozialdemokrat im westeuropäischen Sinne."
Observator Cultural (Rumänien), 27.10.2008
In der englischen Sektion des Observator cultural blickt die Literaturwissenschaftlerin Carmen Musat in einem vor Informationen und Autorenhinweisen strotzenden Text auf die rumänische Literatur der achtziger Jahre zurück, die ihrer Meinung nach durchaus als postmodern gelten kann. "Die subversiv-politische Dimension der rumänischen Postmoderne führte wie in den anderen exkommunistischen Ländern zur Ausbildung spezieller ästhetischer Strukturen, die sich von denen der amerikanischen Postmoderne erheblich unterschieden. Ich denke an den 'Neuen Humanismus', den Alexandru Musina theoretisch begründete und den Liviu Petrescu für das entscheidende Merkmal der Literatur in den achtziger Jahren hält. Die rumänische Postmoderne war das Ergebnis spezifischer Erwartungen und entsprang nicht so sehr einem ökonomischen und politischen Kontext, sondern, wie Magda Carneci in ihrem Essay schreibt, einer Vielzahl von soziokulturellen und psychologischen Gründen, unter denen die Ablehnung des von der Partei propagierten Neuen Menschen eine äußerst bedeutende Rolle spielte. Die Romanciers der 80er Jahre zeigten ein unverhülltes Interesse an der Authentizität der Sprache und des täglichen Lebens, an den einfachen Leuten, aber auch an den gebildeten und gelehrten... Eine neue Sensibilität richtete sich auf das alltägliche Leben, auf das Treiben in der Stadt, auf die Wiederentdeckung des Menschlichen an sich nach Jahrzehnten, in denen Literatur sich ausschließlich für bloße Individuen zu interessieren schien."
Nouvel Observateur (Frankreich), 23.10.2008
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Salon.eu.sk (Slowakei), 26.10.2008
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Und was gibt's zu lesen? Neben Artikeln zur Kundera-Affäre widmen sich die ersten ins Englische übersetzten Texte den gespannten Beziehungen zwischen Ungarn und der Slowakei (mehr hier und hier). In beiden Ländern gibt es starke rechtsextremistische Strömungen, die gegen Minderheiten hetzen. Der slowakische Politikwissenschaftler Miroslav Kusy findet das vollkommen irrational: Jan Slota, "der Vorsitzende der slowakischen Nationalpartei, die Teil der regierenden Koalition ist, hat jetzt die letzten Reste von Selbstkontrolle verloren und, immer undeutlicher klingend, die ungarische Außenministerin beleidigt (wie alle Trunkenbolde war er nicht sehr erfinderisch und wiederholte immer wieder das Wort 'zerzaust'). Die Premierminister beider Länder beschuldigen sich gegenseitig, den Streit angefangen zu haben und die Opposition versucht die Situation auszunutzen, in dem sie sich noch patriotischer gibt als die Nationalisten." Kusy erinnert daran, dass die Slowaken tausend Jahre Teil der ungarischen Nation waren: "Mit den Ungarn teilen wir eine längere Geschichte als mit jeder anderen Nation". (Man kann diesen Artikel auch hier auf Ungarisch lesen.)
Was kann der homo intellectualis in dieser verfahrenen Situation tun, fragt Rudolf Chmel, letzter Botschafter der Tschechoslowakei in Ungarn und slowakischer Kulturminister von 2002 bis 2005. Er sollte, so Chmel, den Politikern sagen, was er von ihnen denkt: "Politiker, die an einem Minderwertigkeitskomplex leiden, die bis jetzt - vielleicht nicht durch eigenes Verschulden - nie ihr Bergdorf verlassen haben, versuchen jetzt, ihre atavistischen Stereotype und Traumata auf das ganze Land zu übertragen."
Der ungarische Philosoph Gaspar Miklos Tamas stellt das Problem in einen gesamteuropäischen Zusammenhang: "Nachdem die Konföderationen (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien) sich aufgelöst haben, wurden die Angehörigen einst dominierender Nationen (Russen, Serben), die außerhalb ihrer Staatsgrenzen, etwa in Kroatien oder den baltischen Staaten lebten, hart diskriminiert. (...) Die einzige verbleibende multinationale Struktur (Bosnien unter der Aufsicht der Nato und EU) steht kurz vor dem Zerfall. Im österreichischen Kärnten verfolgt die Provinzregierung Slowenen, während die Slowenen wiederum zehntausende ihrer Einwohner - ehemalige Bürger Jugoslawiens ohne slowenischen Pass - angewiesen hat, das Land zu verlassen. In Mazedonien bedroht die slawische Mehrheit die albanische 'Minderheit', die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Der Frieden wird gewahrt durch die USA und andere Nato-Kräfte. Die EU, die die Minderheiten schützen soll, hat sich als hilflos erwiesen."
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