Magazinrundschau

Zugang zu Inselhainen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.09.2020. Hakai berichtet über ein Land, wo Kamele durchs Wasser zu kleinen Inseln schwimmen, um an ihr Futter - Mangrovenwäldchen - zu kommen. Laut Jacobin ist der soziale  Unterschied zwischen Schwarz und Weiß in Amerika nicht so groß, wie er scheint - jedenfalls nicht, wenn man die Armen miteinander vergleicht. Atlantic sucht den Edwin Chadwick Amerikas - um das Land nach der Corona-Epidemie zu reformieren. Lidove noviny erinnert an den tschechischen Surrealisten Mikuláš Medek, dem in Prag eine Retro gewidmet wird. New Frame thematisiert die Ausländerfeindlichkeit in Südafrika. Nature beleuchtet den kaputten Antibiotika-Markt.

The Atlantic (USA), 01.10.2020

In der Corona-Epidemie mag Amerika wie ein gescheiterter Staat dastehen, doch Derek Thompson hegt die Hoffnung, dass dieses Desaster den Weg zum Fortschritt eröffnen könnte. Denn immer wieder bereiteten große Katastrophen - Brände, Fluten, Pestausbrüche - den Weg für große Erneuerungen in der modernen Stadt, erinnert er in einem kurzen historischen Abriss: "Keine Epidemie schockierte die britische Gesellschaft so wie die Cholera-Epidemie von 1832. In Kommunen von mehr 100.00 Einwohnern sank die Lebenserwartung auf 26 Jahre. Ein junger Regierungsbeamter namens Edwin Chadwick, Mitglied der neuen Armen-Gesetz-Kommission ließ die städtische Abwasseranlagen untersuchen. Als brillanter Protegé des utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham entwickelte Chadwick weitsichtige Ideen für die Regierung, darunter eine Verkürzung der Arbeitszeit, staatliche Renten und mehr Geld für polizeiliche Prävention anstelle der Gefängnisse. Mit einer Gruppe von Wissenschaftlern unternahm Chadwick eine der ersten Untersuchung öffentlicher Gesundheit in der Geschichte - eine Mischung aus Kartierung, Volkszählung und Wühlen in Müllcontainern. Sie untersuchten Kloaken, Müllhalden und Wasserwege. Sie interviewten Polizisten und Fabrikinspektoren und erkundeten so das Verhältnis von Stadtgestaltung und der Verbreitung von Krankheiten. Der 1842 veröffentlichte Abschlussbericht mit dem Titel 'Die sanitären Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung Großbritanniens' führte zu einer Revolution. Verbreitete Meinung war bis dahin, dass Krankheiten vor allem eine Folge moralischen Fehlverhaltens war. Chadwick zeigte, dass Krankheit den Schwächen der städtischen Umgebung entsprang. Wie er vorrechnete, schufen Krankheiten in Britannien in jeder Dekade eine Million neue Waisen. Die Anzahl der Menschen, die jedes Jahr seit 1830 in britischen Städten starben, war höher als die jährlichen Todeszahlen der in den Kriegen des Empires gefallenen Soldaten. Der Cholera-Ausbruch zwang die britische Regierung, die Kosten des industriellen Kapitalismus in Betracht zu ziehen. Und diese Kosten änderten den Blick westlicher Städte auf ihre Rolle in der öffentlichen Gesundheit. Der Ursprung der Cholera? Das verschmutzte Wasser."

Weiteres: Leslie Jamieson erzählt, wie sie von ihrer kleinen Tochter lernte, in Donald Judd nicht mehr den großen Minimalisten zu sehen. Denn wie das Mädchen in der Retrospektive im Moma in jede bunte Kiste springen wollte, erschien ihr Judd gar nicht mehr als das ästhetische Äquivalent zu einem distanzierten Vater: "Tatsächlich fragt ich mich, ob ich die ganze Zeit seine Einfachheit falsch verstanden hatte, ob ich seine Zurückhaltung als ein Vorenthalten gedeutet hatte, wenn es vielleicht ein Anbieten war."
Archiv: The Atlantic

Hakai (Kanada), 22.09.2020

Hakai ist ein kanadisches Magazin, dass sich weltweit Gesellschaften widmet, die an Küsten leben. Eine wunderbare Idee! Eine sehr schöne Reportage schickt Shanna Baker aus dem indischen Gujarat, an dessen Küsten Kamele durchs Wasser zu kleinen Inseln schwimmen, um an ihr Futter - Mangrovenwäldchen - zu kommen. Wer hätte gedacht, dass Kamele schwimmen können? Es handelt sich um Kharai-Kamele, "eine für diesen Keil der Welt einzigartige Rasse, benannt nach dem lokalen Wort für 'salzig'. Die Tiere fressen Mangroven und andere salzige Nahrung entlang des Festlandes, schwimmen aber auch regelmäßig bis zu drei oder vier Kilometer ins Arabische Meer, um Zugang zu Inselhainen zu erhalten." Kamele können sich außerdem an größte Hitze und Kälte anpassen, lernen wir. "In Regionen, die von zunehmender Dürre und Trockenheit betroffen sind, können Kamele Kühe, Schafe und andere weniger widerstandsfähige Nutztiere ersetzen. In den letzten 20 oder 30 Jahren sind Kamele zum Beispiel in Nigeria, Tansania und Uganda zu einer neuen Errungenschaft geworden. Sie sind eine Quelle für Milch, Fleisch und Wolle und werden für den Tourismus und für Rennen eingesetzt. 'Kein anderes Haustier ist in der Lage, dem Menschen so viele verschiedene Dienste zu leisten', schrieb 2015 der in Frankreich lebende Kamel-Experte Bernard Faye, der überzeugt ist, dass Kamele die Tiere der Zukunft sind.
Archiv: Hakai

Jacobin (USA), 28.09.2020

Die Kluft zwischen dem durchschnittlichen Einkommen weißer und schwarzer Familien in den USA ist enorm. Ganz anders sieht es aus, wenn man die oberen zehn Prozent auf beiden Seiten aus der Rechnung herausnimmt, oder gar nur die unteren 50 Prozent vergleicht, rechnet Matt Bruening uns vor. Stockt man in den unteren 50 Prozent der schwarzen Familien das durchschnittliche Einkommen so auf, dass es dem durchschnittlichen Einkommen der unteren 50 Prozent der weißen Familien angeglichen ist, dann verringert sich das gesamte Wohlstandsgefälle um gerade mal drei Prozent. Das zeigt Bruening zum einen, dass "das allgemeine Wohlstandsgefälle zwischen den Rassen fast ausschließlich durch das Missverhältnis zwischen den wohlhabendsten 10 Prozent der Weißen und den wohlhabendsten 10 Prozent der Schwarzen verursacht wird" und zum anderen, dass es bei den unteren 50 Prozent "gar nicht so schwer ist, zwei Gruppen, die relativ wenig besitzen, dazu zu verhelfen, den gleichen Betrag von relativ wenig zu besitzen. Aber solche Maßnahmen würden das Wohlstandsgefälle zwischen den Rassen insgesamt nicht wesentlich verringern. ... Meiner Meinung nach sollten uns diese Informationen zwingen, uns klarer darüber zu werden, was genau wir erreichen wollen, wenn wir über die Schließung der Vermögenslücke zwischen Schwarzen und Weißen sprechen."
Archiv: Jacobin

nonsite (USA), 10.09.2020

Rassismus existiert, aber er ist nicht der Hauptgrund für Ungleichheit, erklären auch Walter Benn Michaels und Adolph Reed, Jr. auf nonsite.org, einer Website, die dem Emory College of Arts and Sciences in Atlanta, Georgia angeglieder ist. Soziale Ungleichheit wird ihrer Meinung nach nicht beseitigt, wenn man die Disparitäten zwischen Schwarzen und Weißen beseitigt: "Jedes Mal, wenn wir darauf bestehen, dass die grundlegende Ungleichheit die zwischen Schwarzen und Weißen ist, dann sagen wir eigentlich, dass die einzigen Ungleichheiten, um die wir uns kümmern, diejenigen sind, die durch irgendeine Form der Diskriminierung erzeugt werden - dass Ungleichheit selbst nicht das Problem ist, sondern nur die Ungleichheit, die durch Rassismus oder Sexismus usw. erzeugt wird. Was uns der Diskurs über Disparität sagt, ist, dass, wenn in einer Wirtschaft, die immer ungleicher wird, die hauptsächlich Arbeitsplätze schafft, die nicht einmal einen existenzsichernden Lohn zahlen, das Problem nicht darin besteht, wie man diese Ungleichheit verringert oder diese Arbeitsplätze besser macht, sondern wie man dafür sorgt, dass sie nicht unverhältnismäßig stark mit schwarzen und braunen Nenschen besetzt sind."

Außerdem: Michael Fried betrachtet die Fotografien, die Thomas Struth zwischen 2008 und 2015 von technologischen und wissenschaftlichen Objekten gemacht hat.
Archiv: nonsite

Lidove noviny (Tschechien), 28.09.2020

Mikuláš Medek: Naked in the Thorns I, 1954, private collection
An gleich drei verschiedenen Orten richtet die Nationalgalerie Prag die bislang größte Retrospektive des tschechischen Nachkriegskünstlers Mikuláš Medek (1926-1974) aus. Wie Blanka Frajerová berichtet, enthält die Ausstellung erstmals präsentierte Werke aus Medeks Nachlass sowie bisher unbekannte Filme. Im Jahr 1945 hatte Medek sich neunzehnjährig mit zwei surrealistischen Werken vorgestellt - seine erste und für lange Zeit letzte Ausstellung, denn "nach dem kommunistischen Umsturz von 1948 wurde er von der Kunstgewerbehochschule ausgeschlossen. Medeks Werk passte nicht in die Vorstellungen des Regimes." Innerhalb weniger Jahre durchlief der Künstler verschiedene Strömungen vom Expressionismus und Kubismus, dem magischen Surrealismus über den Existenzialismus bis zur Abstraktion, bevor er sich wieder figurativen Darstellungen zuwendete und schließlich der symbolisch-architektonischen Formensprache der 'Bewegten Gräber'. Der nicht sehr alt gewordene Künstler hinterließ immerhin über vierhundert Bilder, und obwohl er von offizieller Seite lange Jahre vernachlässigt wurde, hat sein Werk Generationen von Künstlern beeinflusst, so Blanka Frajerová, die schon jetzt vom "kulturellen Ereignis des Jahres" spricht.
Archiv: Lidove noviny

The Verge (USA), 23.09.2020

Das Magazin des Technikportals aus New York teilt Audioaufnahmen und weitere Interna aus der Firmenzentrale von Facebook mit seinen Lesern, Antworten Mark Zuckerbergs aus den regelmäßigen Q&A-Sessions mit seinen Mitarbeitern etwa: "Mit seinen Zehntausenden Beschäftigten sieht sich Zuckerberg in diesen Fragerunden inzwischen in alle Richtungen gezerrt und wird mit viel Wut konfrontiert. Während des Sommers ging es in den Q&As immer wieder sehr detailliert um die die freundschaftliche Beziehung zwischen dem Unternehmen und Trump, den Einfluss des konservativen Zuckerberg-Vertrauten Joel Kaplan und den Aufstieg weißer Suprematisten auf der Plattform … Die Morde an George Floyd und Breonna Taylor Anfang des Jahres und die Black Lives Matter Bewegung haben in der Facebook-Belegschaft die Frage aufgeworfen, ob und wie ihre Arbeit zu ethnischer Ungleichheit beiträgt. Nachdem Zuckerberg entschieden hatte, den kontroversen Post des Präsidenten nicht zu löschen, in dem Trump drohte, auf Protestierende schießen zu lassen, vollzogen sie die erste virtuelle Arbeitsniederlegung in der Unternehmensgeschichte … Nach langen internen Debatten, ließ Zuckerberg den betreffenden Trump-Post stehen und argumentierte, die Bürger hätten ein Recht zu erfahren, wenn ihr eigenes Land beschließt, auf sie zu schießen. Trump war begeistert. Für Angestellte, die an das demokratisierende Potenzial der Firma glauben und an die Mission, die Welt offener und vernetzter zu gestalten, fühlte sich das wie Betrug an. 'Es fällt mir sehr schwer, die unterstützenden Worte unserer Leitung ernst zu nehmen, wenn wir gleichzeitig derartigen Content zulassen. Was immer wir davon haben, das so stehenlassen, rechtfertigt es gewaltsame Drohungen gegen schwarze Protestler?' fragte eine Mitarbeiterin in einem internen Post. Zuckerberg seinerseits gab seinen Leuten zu bedenken, dass er Trumps Bemerkungen widerlich fand, seine Rolle als CEO es aber erfordere, unparteiisch zu sein."
Archiv: The Verge

New Frame (Südafrika), 23.09.2020

Südafrika hat ein Problem, das viele Länder kennen und nicht gern zugeben: Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder werden Migranten angegriffen oder gar getötet, berichtet Jan Bornman und zitiert aus einem entsprechenden Bericht von Human Rights Watch: "Auf der Grundlage von Interviews mit 51 Personen in Gauteng, Western Cape und KwaZulu-Natal geht der Bericht der Frage nach, wie sehr fremdenfeindliche Gefühle und Gewalt im Alltag an der Tagesordnung sind. Die Verfasserin des Berichts, Kristi Ueda, Mitarbeiterin der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch, schildert die hässlichen fremdenfeindlichen Vorfälle im Klassenzimmer, darunter den Angriff auf Donette Ngonefi, eine Zehntklässlerin an der Salt River High School in Kapstadt. 'Sie wurde am 27. August 2019 von Mitschülern, die meinten, eine Ausländerin verdiene es nicht, zur Klassensprecherin gewählt zu werden, zusammengeschlagen. Sie lag neun Tage im Krankenhaus', heißt es im Bericht. ... In der Podiumsdiskussion nach der Veröffentlichung des Berichts sagte Ueda: 'Ein Lehrer, mit dem wir sprachen, erklärte, dass keine Unterrichtsstunde vorbeigeht, ohne dass er als Ausländer bezeichnet und von seinen eigenen Schülern verspottet werde. Der Bericht stellte fest, dass Belästigung und verbale Beschimpfungen ein gemeinsames Merkmal der Erfahrungen von Migranten in Südafrika seien."
Archiv: New Frame

A2larm (Tschechien), 23.09.2020

Das Magazin A2 widmet sein aktuelles Themenheft der dieses Jahr verstorbenen polnischen Literaturwissenschaftlerin, Pädagogin, Feministin und Autorin Maria Janion. Einen der Beiträge - der Polonistin Anna Pekaniec - dürfen wir im dazugehörigen tagesjournalistischen Portal A2larm.cz freigeschaltet lesen: Pekaniec betont, dass das Erzählen für Maria Janion die Basis aller Humanwissenschaften gewesen sei. "In ihrem Verständnis handelte es sich um ein kritisches und engagiertes Erzählen. Es wundert deshalb nicht, dass ihre Analysen sich auf Geschichten konzentrierten, die Stereotypen erschaffen oder abbilden, Missstände aufzeigen, stigmatisieren oder Mechanismen der Gewalt offenbaren. (…) Die kritische Aufmerksamkeit, das ständiges Anzweifeln, Fragenaufwerfen, der Widerspruch, der Argwohn, die Fähigkeit, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, die persönliche intellektuelle Rastlosigkeit gehören zu den wertvollsten Zügen der literaturwissenschaftlichen und literaturhistorischen Essayistik Maria Janions. Die Wissenschaftlerin hat immer wieder betont, dass die Vergangenheit eine unumgängliche Bedeutung für die Gegenwart besitze, da sie den gegenwärtigen Moment stärker prägt, als uns bewusst ist. (…) Sie war nicht nur Literaturhistorikerin, sondern auch Ideenhistorikerin. Sie wusste gut, dass Literatur in Verbindung mit vielen anderen Texten entsteht, dass sie Elemente aus der Philosophie in sich birgt und über die jeweilige Epoche, Gesellschaft und ihre Künstler Auskunft gibt." Pekaniec schätzt auch das emanzipative Potenzial von Janions Forschungen. Ihre Analysen von Frauen- und Weiblichkeitsmythen hätten aufgezeigt, dass es sich um Konstrukte handelte, die transformierbar seien.
Archiv: A2larm
Stichwörter: Janion, Maria

Nature (USA), 19.09.2020

In einem Beitrag des Magazins erkundet Maryn McKenna das Paradox, dass Pharmafirmen es sich kaum noch leisten können, Antibiotika und andere lebensrettende Medikamente zu entwickeln: "Antibiotika verhalfen den profitabelsten Pharmaunternehmen zu enormem Wachstum und gehören heute zu den am dringendsten benötigten Medikamenten. Der Markt für sie aber ist kaputt. Seit fast zwei Jahrzehnten meiden die großen Unternehmen das Geschäft mit ihnen, weil der Preis die Entwicklungskosten nicht aufwiegt. Es sind vor allem kleine Biotech-Firmen, die heute an Antibiotika forschen, viele von ihnen arbeiten auf Kredit, viele scheitern … Ein neues Antibiotikum auf den Markt zu bringen, ist eine Herkules-Aufgabe. Nur 14 Prozent aller Antiobiotika der Versuchsphase 1 erhalten eine Genehmigung. 2016 schätzten Ökonomen die Kosten von der ersten Entdeckung eines kurativen Moleküls bis zur Genehmigung durch die US-Behörden auf 1,4 Milliarden Dollar, weitere Millionen für Marketing und Beobachtungsstudien kommen hinzu. Als Unternehmen wie Eli Lilly oder Merck Mitte des 20. Jahrhunderts Antiobiotika herstellten, konnten sie die Kosten auf ihre vielen Unternehmensbereiche umlegen. Erwarben große Firmen kleinere, deren Medikamente vorklinisch vielversprechend waren, übernahmen die großen die Schulden der kleinen. Dieses Businessmodell gibt es nicht mehr … Darüber hinaus gibt es ethische Zwickmühlen: Weil jede Behandlung eines Bakteriums mit einem Antibiotikum das Risiko einer Resistenz erhöht, bedeutet, einen Patienten damit zu behandeln, das Risiko einzugehen, die Heilungskraft zu mindern. Daher gibt es die Forderung, Antibiotika möglichst langsam einzusetzen. Das macht sie auf lange Sicht nutzbar, ruiniert aber den Handel."
Archiv: Nature

Magyar Narancs (Ungarn), 27.08.2020

Dóra Péczely ist Redakteurin beim Verlag Pagony, mit einer Reihe von Büchern, die insbesondere Jugendliche über 12 Jahren anspricht (Tilos az Á Bücher). Im Gespräch mit Dorka Czenkli erklärt sie, was ihrer Meinung nach das Ziel des Literaturunterrichts in der Schule sein sollte: "Es ist richtig, dass wir die literarischen Traditionen weitertragen sollen und es ist ebenfalls wichtig, das Textverstehen weiterzuentwickeln sowie die Herausbildung des ästhetischen Gechmacks und die tieferen Kenntnisse der Sprache zu fördern. Doch das Wichtigste wäre vielleicht doch, dass die Kinder zu lesenden Menschen heranwachsen. Dass die Literatur, das Theater als Quelle der Freude in ihrem Leben präsent sind. Ich denke überhaupt nicht, dass wir die Texte der Klassiker weglassen müssen, aber ich denke wohl, dass alles im geeigneten Alter gelesen werden soll. Mit etwa 16 Jahren kommt die Zeit, in der sich herausstellt, ob sich jemand für Literatur interessiert oder eben weniger. Das Ziel wäre, dass derjenige, der zur letzteren Gruppe gehört trotzdem gerne lesen soll, und derjenige der in die erste Gruppe gehört, auch die Geheimnisse der Werke von Péter Estehrázy, Virginia Woolf oder Karl Ove Knausgård etnschlüssel kann."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 29.09.2020

Caravaggio, Die Enthauptung von Johannes dem Täufer, 1608


Das aktuelle Magazin der New York Times geht auf Reisen. Teju Cole reist durch Italien und nach Malta, um alle Caravaggios zu sehen. Und er staunt, wie nah sie ihm sind: "Die 'Enthauptung Johannes des Täufers' war schwer mit meinem Verständnis von dem, was ich unter Malerei verstand, zu vereinbaren. Es sollte mehr als ein Jahr vergehen, bis ich einen Schlüssel fand, der mir half, das, was ich in Malta sah, zu verarbeiten. Damals sah ich zwei kurze Videoclips aus Libyen aus dem Jahr 2017. Der erste Clip zeigt Männer, die auf einem Sklavenmarkt verkauft werden, gefilmt von einer ungenannten Quelle. Der zweite Clip wurde von CNN-Journalisten gedreht, die in die Vororte von Tripolis gingen, um die Geschichte zu bestätigen. Die Männer, die verkauft werden, sind Migranten aus Niger, einige von ihnen stehen nachts an einer nackten Wand, einem trostlosen Innenhof wie auf dem Gemälde von Caravaggio. Das Licht ist schlecht. Man kann kaum etwas sehen. Das Geschäft ist lebhaft und schnell: Die Preise werden ausgerufen, ungesehene Käufer bieten, und es ist vorbei. In diesen Clips sah ich das Leben von innen nach außen gekehrt, das Leben verwandelte sich in den Tod, so wie ich es in Caravaggios Gemälde gesehen hatte. Nicht einfach in das, was nicht sein sollte, sondern in das, was nicht gesehen werden sollte. ... Er war ein Mörder, ein Sklavenhalter, ein Schrecken und eine Plage. Aber ich gehe nicht zu Caravaggio, um mich daran erinnern zu lassen, wie gut die Menschen sind, und schon gar nicht, weil er gut war. Ganz im Gegenteil: Ich suche ihn wegen einer bestimmten Art von sonst unerträglichem Wissen auf. Hier war ein Künstler, der Früchte in ihrer Reife darstellte und in dem Moment, in dem sie zu faulen begannen, ein Künstler, der Fleisch in seiner zartesten Verführung und schwersten Verletzung malte. Wenn er Leiden zeigte, zeigte er es so erschreckend gut, weil er auf beiden Seiten davon stand: Er verletzte andere und wurde selbst verletzt."

Außerdem: Jimmy Chin reist in die Rocky Mountains. Und Leslie James erinnert sich an die Körper im Hamam.
Archiv: New York Times

Bookforum (USA), 29.09.2020

Der japanische Regisseur Yasuzo Masumura hat mit seinen zwischen Filmkunst, Autorenfilm und grellen Bahnhofskino-Spekulationen changierenden Filmen schon in den 60ern Kino gemacht, wie man es erst in den 70ern vermuten würde, schwärmt James Hannaham. Noch dazu hat Masumura in Italien Film studiert, Fellini und Antonioni waren Kommilitonen, erfahren wir. "Die japanische Neue Welle der Sechziger zeigt eine Vitalität und Kühnheit, die Hollywood überhaupt erst mal begreifen, geschweige denn sich stellen müsste. Und selbst innerhalb dieses Zusammenhangs war Masumura wahrlich eine Anomalie: Von allen war er der perfekte Insider mit der formvollendeten Sensibilität eines Außenseiters. Da er innerhalb des Studiosystems arbeitete, begriff man ihn nie als Regisseur der Neuen Welle, und doch sind seine Filme ungeheuerlicher als die meisten seiner Arhouse-Kollegen. Blutiger und verrückter, sicher. Aber auch eleganter und wagemutiger, was die Politik des Persönlichen betrifft. ... Ich möchte Masumuras Sensibilität als queer bezeichnen, ohne diese Behauptung tatsächlich handfest belegen zu können - abgesehen von seiner üppigen Kinematografie, seinem Wunsch, Genre zu subvertieren und Konformität zu trotzen und seiner Obsession für starke Frauen. Sein gegenkulturelles Herz scheint mir nicht nur für das Japan dieser Zeit einzigartig, sondern auch außerhalb der Begrenzungen des westlichen Kinos, sogar heute noch. Man nannte ihn den europäischsten Regisseur Japans, aber mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass er sogar europäischer als Europa war und eine ganze Kohorte von Rebellen inspirierte, die ihm folgten. Darunter sicher Oshima, der als junger Kritiker in einer Besprechung von 'Kisses' schrieb: 'Ich spüre nun, dass die Welle eines neuen Zeitalters von niemandem mehr ignoriert werden kann und dass eine energiegeladene, unwiderstehliche Kraft im japanischen Kino angekommen ist.'" 1970 haben sich die Cahiers Du Cinéma mit Masumura unterhalten, ein Blogger hat das Gespräch ins Englische übersetzt.
Archiv: Bookforum

Wired (USA), 24.09.2020

Von Glück reden kann Twitter, dass der Hacking-Angriff vom 15. Juli, als eine Reihe prominenter Twitter-Accounts für einen Scam gekapert wurde, lediglich auf schnellen Gelderwerb abzielte und keine politischen Interessen verfolgte. Sollte ein vergleichbarer Angriff zu den US-Prädidentschaftswahlen stattfinden, käme dies einer globalen Katastrophe gleich, schreiben Nicholas Thompson und Brian Barrett. "Hausinterne Untersuchen ergaben, dass die Angreifer die privaten Nachrichten von 36 der 130 Ziel-Accounts eingesehen haben. Im Fall von acht Opfern luden sie die unter 'Your Twitter Data' hinterlegten Informationen herunter, also unter anderem sämtliche Tweets und alle persönlichen Nachrichten, die je von diesem Account verschickt wurden. ... Ein Hacker, der sich mehr für Spionage als für Krypto-Währungen interessiert, würde diese Art des Zugriffs lieben. Auch gibt es die Möglichkeit der direkten Disruption: Wer Chaos am Wahltag stiften will, könnte das mit einem gut getimeten Tweet von Joe Bidens Profil aus sehr gut bewerkstelligen. Oder mit so etwas wie den 'Hacken und Leaken'-Aktionen, die Russland erst 2016 in den USA und im Folgejahr in Frankreich abgezogen hat. ... Twitter befasst sich mit solchen Risiken derzeit ohne einen Hauptverantwortlichen für die Sicherheit. Den gibt es seit vergangenem Dezember nicht mehr. Dennoch hat sich das Unternehmen für die Apokalypse vorbereitet. Zwischen erstem März und erstem August hat Twitter die oben genannten und weitere Szenarien in einer Reihe von Planspielen durchgearbeitet und die Vorgehensweise für den Fall festgelegt, dass die Lage unvermeidlich außer Kontrolle gerät. Man hat Optionen überprüft und optimiert, um sicherzustellen, dass im Falle des nächsten Dammbruchs das Sicherheitsteam nicht gerade beim Angelausflug ist. Und selbstverständlich gibt es auch einen Plan dafür, was passiert, wenn der Konflikt auf der Plattform nicht von einem Hacker verursacht wird, sondern von einem Politiker oder Präsidenten, dem gerade der Sinn danach steht, Scheiße zu posten."

Außerdem: Clive Thompson hat recherchiert, wie YouTube die lange Zeit aufgrund von Empfehlungsalgorithmen florierenden Accounts von Verschwörungstheoretikern, Esoterikern, Flacherdlern und anderen Spinnern wieder kleinzukriegen versucht. Die Trump-Administration legt einen eisernen Willen zutage und hat sich für die Zukunft fest vorgenommen, dem Klimawandel auch weiterhin nicht entgegen zu treten, berichtet Adam Ferman. Netflix, einst als Retter von bei anderen Sendern abgesetzter Serien an den Markt getreten, setzt seine Serien nun selbst auf Grundlage kühlster Datenanalysen ab, schreibt Alex Lee. Jason Kehe porträtiert die Schriftstellerin Susanne Clarke, die nach ihrem internationalen Fantasy-Bestseller "Jonathan Strange & Mr. Norrell" 16 Jahre für ihren jetzt erschienenen zweiten Roman brauchte - auch wohl, weil sie eine schwere Phase einer psychischen Krankheiten durchleben musste. Jason Parham stellt den Radioarchivar Jean-Gabriel Prats vor, der alte Radiosendungen sammelt und auf Youtube archiviert. Terry Virts liefert außerdem wertvolle Informationen für den Fall, dass man mal den eigenen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre meisten muss.
Archiv: Wired