Es ist gut, dass sich die gesellschaftlichen Codes verändert haben, dass die westlichen Gesellschaften weniger sexistisch, weniger rassistisch geworden sind, betont
Anne Applebaum in einem großen Essay, in dem sie nichtsdestotrotz den
neuen Puritanismus geißelt, der Amerikas Medien und Universitäten beherrscht und der sie an die Zeit erinnert, als Osteuropa sowjetisiert wurde - nicht durch Zang und Gewalt, sondern durch
enormen Gruppendruck. Applebaum zeichnet ein Bild von einem entfesselten Online-Mob einerseits und einer illiberalen Universitätsbürokratie anderseits, die sich überbieten in Konformismus, Karrierismus und Ignoranz gegenüber
rechtsstaatlichen Prinzipien. Und sie lässt etliche Personen zu Wort kommen, die in den vergangenen Jahren ihre Stelle verloren haben: "Die Leute hören auf, mit einem zu reden.
Man wird toxisch. 'In meinem Department gibt es Dutzende von Kollegen, doch im vergangenen Jahr habe ich mit keinem einzigen gesprochen', sagt ein Akademiker. 'Ein Kollege, mit dem ich zehn Jahre lang mindestens einmal pro Woche zu Mittag gegessen habe, weigerte sich überhaupt noch mit mir zu reden,
ohne eine einzige Frage zu stellen.' Ein anderer rechnet vor, dass von den etwas über zwanzig Mitarbeitern in seinem Department noch 'zwei mit ihm sprechen, 'einer von ihnen hat keinen Einfluss, der andere geht bald in Rente'. Ein Journalist erzählte mir, dass sich seine Bekannten, nachdem er gefeuert worden war, in drei Gruppen teilten. Die erste Gruppe, die der 'Helden', die auf
ein faires Verfahren bestand, bevor man das Leben eines Menschen beschädigt, und die zu ihren Freunden stehen, war sehr klein. Dann gibt es die zweite Gruppe der 'Schurken', die glaubt, man habe sein Leben verwirkt, sobald nur eine Anschuldigung gemacht wird'. Einige alte Freunde oder Menschen, die er für Freunde hielt, schlossen sich sogar den öffentlichen Angriffen an. Aber die Mehrheit gehörte zur dritten Gruppe: '
Gut, aber nutzlos. Sie glauben nicht unbedingt das Schlechteste von einem und sie würden Dir gern ein faires Verfahren wünschen, aber naja, genaues wissen sie ja nicht. Sie haben schon Mitgefühl, aber einfach keine Zeit, Dir zu helfen. Oder zu viel zu verlieren.'" Einen Ausweg hat Applebaum auch nicht zu bieten, dafür die düstere Prognose, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Methode des
public shaming von rechten Agitatoren übernommen wird.
Hunderttausende Afghanen und Afghaninnen haben das Land mittlerweile aus Angst um ihr Leben verlassen, vor allem natürlich die Gutausgebildeten,
notiert Yasmeen Serhan mit Unbehagen, denn dieser Exodus bedeutet nicht nur einen schweren Schlag für die Taliban: "Es ist auch ein schwerer
Schlag für die Afghanen selbst. Ohne all diese
Ärzte, Ingenieure, Akademiker und öffentlichen Angestellten werden viele Institutionen und grundlegende Dienste, die das Land am Laufen halten, nahezu sicher zusammenbrechen."