Magazinrundschau - Archiv

epd Film

10 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 05.10.2021 - epd Film

Mit seinem letzten James-Bond-Film hinterlässt Daniel Craig ein schweres Erbe, überlegt Georg Seeßlen in einem seiner legendären, ihr Sujet von vielen Perspektiven umkreisenden Essays, denn Craig betsätige das Image bestätigt, indem er es infrage stelle: "In seinen Filmen erscheint er oft, als würde er sich abwechselnd amüsieren oder ärgern, dass man ihn mit James Bond verwechselt. Er ist nicht weniger abstrakt und weniger offen als seine Vorgänger, aber vielleicht doch der Erste, der einen wirklichen Körper hat. Etwas, das man ist, nicht das, was man vorzeigt. Und das ist eine Hypothek für die zu besetzende Leerstelle. Kehrt man eher zurück zum Bond, der sich selbst kein Problem ist, oder schreitet man weiter auf dem Pfad der mehr oder weniger lustvollen Dekomposition? ... "Ein schwarzer James Bond, wie zum Beispiel Regé-Jean Page, bietet mehrere Vorteile: Er bringt ein Spannungsfeld mit, in dem sich Macho-Aktion legitimieren kann, und mit der Serie 'Bridgerton' hat er sich schon in das vormals so weiße, britische Genre aristokratischer Familiengeschichten eingeschrieben. Das Gegenstück wären superweiße Allzweckhelden wie James Norton oder Sam Heughton, ideale cineastische Knetmasse ohne große Hintergrundschatten. Wieder ein Gegenstück: Riz Ahmed, von dem es im obligatorischen Bond-Spekulationsartikel des Esquire wohl zu Recht heißt, er sei für die Rolle vielleicht einfach ein bisschen zu interessant. Die andere Option wiederum sind die ausgesprochenen 'Kleiderständer' à la Henry Cavill oder Aidan Turner, was despektierlicher klingt, als es gemeint ist. James Bond war ja immer einer, der nicht nur durch seine Kleidung definiert wurde, sondern auch umgekehrt gewisse männliche Kleidungsstücke mit semantischer Fülle belegt. Die Kunst, einen Smoking oder etwas in der Art zu tragen, alles zwischen lässig, narzisstisch und widerwillig, ist nicht zu unterschätzen."

Magazinrundschau vom 14.09.2021 - epd Film

Václav Marhouls Verfilmung von Jerzy Kosińskis gleichnamigem Skandalroman "The Painted Bird" über einen jüdischen Jungen, der sich während des Zweiten Weltkriegs durchs polnische Hinterland schlagen muss und dabei zahlreiche Grausamkeiten erlebt, bringt die Filmkritik ganz schön zum Ächzen - schon bei der Filmpremiere in Venedig vor zwei Jahren, aber auch jetzt zum Kinostart (unser Resümee): Die Geste des Films ist die großer osteuropäischer Filmkunst: Schwarzweiß, gedreht auf 35mm-Kinomaterial, teuer eingekaufte Stars (Harvey Keitel, Stellan Skarsgård, Udo Kier), eine Drehzeit von mehreren Jahren und annähernd drei Stunden Laufzeit. Georg Seeßlen, sichtlich verstört von dieser Kino-Erfahrung, versucht in einem der großen Essays, für die er so berühmt wie berüchtigt ist, den Fragen nach der Schönheit der Grausamkeit und dem Verhältnis von Erhabenheit und Skandal im Kino auf den Grund zu gehen. "Wie 'Saló' oder 'Antichrist' erreicht auch 'The Painted Bird' einen Punkt der nihilistischen Erhabenheit, eine fundamentalistische Steigerung des transzendentalen Stils: Der Menschheit an sich ist nicht zu helfen. Die Menschen nehmen bis zu einem gewissen Grad ihre Verdammung an, indem sie aus ihrer Niedertracht ein Schauspiel machen. Es ist überflüssig, eine andere Aussage darin zu sehen, sich danach zu fragen, ob diese Bilder dem historischen Geschehen gerecht werden, ob ihre schockierende Wirkung als Mahnung verstanden werden kann, ob sie einer Gesellschaft im Zustand der Verrohung einen kritischen Spiegel vorhalten will, oder ob, anders herum, wie bei Kosiński das Trauma zur Manie umgeschaffen wird, ob sich das Opfer an den Taten infiziert, ob ein Härtetest des Torture Porn sich hier mit ästhetischen und historischen Bezügen umgibt, damit um jeden Preis ein Œuvre maudit entstehe, wie durchdacht das Konzept - extreme Grausamkeit in extrem schönen Schwarz-Weiß-Bildern - sein mag. Auch die Skandale bei den Aufführungen, die moralischen Windungen von uns Kritikern - all das sind Nebenaspekte. Was bleibt, ist die Erfahrung, durch einen Film aus dem Kino vertrieben worden zu sein, früher oder später, empörter oder depressiver, voll Zorn oder voll Trauer, vertrieben wie aus einem Paradies, vertrieben wie aus einer Kindheit der Wahrnehmung, in die eine fundamentale Form der Heimatlichkeit zu scheinen versprach, vertrieben auch wie aus einem Diskursraum und einer moralischen Anstalt, vertrieben wie aus einer mehr oder weniger demokratischen Konsensmaschine, vertrieben wie aus einer Oase in der Wüste namens Wirklichkeit. Was bleibt, ist die Frage, ob und womit wir diese Vertreibung aus dem Kino verdient haben."

Magazinrundschau vom 15.06.2021 - epd Film

Melancholisch blickt Georg Seeßlen in einem großen Essay auf das aufregende Hongkong-Kino und dessen verästelte Geschichte zurück: In der besonderen historischen Konstellation der Kronkolonie mit Ablaufdatum entstand ein ästhetisch einzigartiges, von einer besonderen Melancholie, aber auch Spielfreude durchzogenes Kino zwischen düster-zornigen Gewaltstoffen, der jugendlichen Frische eines Jackie Chan und der elegischen Nostalgie eines Wong Kar-wai. Wie in jeder zünftigen Filmindustrie gab es aber auch die Mavericks aus der dritten Reihe - kein Geld, aber jede Menge Herz und mit einer Extraportion Chuzpe ausgestattet. Einer davon Godfrey Ho, der das spekulative Billig-Genre des Ninjafilms maßgeblich prägte. Er "war ein Meister des Sampling: 1948 als Ho Chi Keung geboren, war er stellvertretender Direktor in den Shaw Brothers Studios, wo er unter anderem mit John Woo zusammenarbeitete, und wechselte dann zur Regie. ... Er ist wohl eines jener Kinotiere, denen das Filmemachen so viel Spaß macht, dass sie keine Zeit haben, sich auch noch für die Endprodukte zu interessieren. So entstanden trashige Low-Budget-Filme, in denen mit größter Sorglosigkeit Genialisches und Vermurkstes montiert wurde.... Zwischen 1983 und 1992 entstanden insgesamt 81 Filme unter seiner Regie (oder etwas Ähnlichem, denn oft montierte er aus zwei oder drei alten einfach einen neuen Film). Auch Filmark agierte als Billigproduktion weit über den Kreis des Stadtstaates hinaus; zu den Ninja-Stars zählten neben Chinesen, Koreanern, Philippinern auch Europäer und Amerikaner (ein gewisser Chuck Norris begann auf solche Weise seine Karriere), so dass die endlosen Prügeleien zwischen verschiedenfarbigen Ninja-Kämpfern in einer sonderbaren Nirgendwowelt der Vorglobalisierung stattfanden und in einer Gesellschaft, die sich nur noch auf anarchisch-kapitalistisch-kriminelle Weise selbst zu organisieren schien. Natürlich hatte Ho so etwas nie im Sinn, aber er und seine Mitstreiter filmten den Untergrund der Globalisierung." Diesen Irrsinn in Tüten muss man natürlich gesehen haben - stilecht in mieser Bildqualität und noch mieserer Synchronisation:

Magazinrundschau vom 13.04.2021 - epd Film

Schon vor der Pandemie lebte das Kino im Grunde in einem Modus stillschweigender Realitätsverweigerung, könnte man die Ausgangslage von Georg Seeßlens epdFilm-Essay "Manifest: Für ein Kino nach Corona" bündig zusammenfassen: Akribisch weist der Filmkritiker nach, in welchen Widersprüchen, Krisen, Überformungen und Determinanten sich das Kino schon vor der Pandemie befand - und welche durch die Coronakrise nun noch schlagartig verstärkt wurden. Selbst wenn es irgendwann Impfstoff aufs Publikum regnet, "eine Rückkehr zur Normalität nach der Krise wird es nicht geben, schon weil diese Normalität vor der Krise längst nur noch als Retromanie und konservatives Beharren zu haben war, sozusagen im kuschligen Gefühl, in unserem Kino sei die Filmwelt noch in Ordnung, mögen da draußen auch Copyright-Kriege, Monopolisierung und mediale Uberisierung herrschen." Er schlägt stattdessen eine Art Kino-Guerilla vor: wendig, mobil, experimentell, urwüchsig. "Das Kino wird von einem Abspielort mit angeschlossener Gastronomie zu einem multimedialen Experimentierraum, in dem alles möglich sein soll, was mit audiovisueller Gestaltung zu tun hat. Im Wesentlichen ist es immer ein Live-Erlebnis. Dieses Kino und die dazugehörigen Filmereignisse müssen Teil der Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Kultur sein. Vielleicht muss das Kino dringend 'kleiner' werden, auch um wieder regionale und urbane 'Identität' zu erzeugen; zugleich muss es aber auch nach draußen gehen, sich neue Räume und Möglichkeiten erobern, nomadisch dorthin gelangen, wo Institution nicht mehr oder noch nicht präsent sein kann. Ein Kino, das nicht auf Publikum wartet, sondern es sucht."

Magazinrundschau vom 25.02.2020 - epd Film

Georg Seeßlen umkreist in einem Essay die sich wandelnde Figur des Helden in der Actionkomödie der 80er- und frühen 90er-Jahre: "Zunächst schienen die coolen und ein bisschen komischen Männerkörper - hier ein Hang zum dekorativen Verschmuddeln, dort hingegen ein dandyhaftes Overdressing, hier Vernachlässigung als Folge biografischer Misserfolge, dort bürgerliche Überkontrolle - vor allem Krisenerscheinungen in Genres zu sein, die gerade (im Wortsinn) ihr Pulver weitgehend verschossen hatten. ... Eine maßvolle Modernisierung schien anzustehen, einschließlich einer maßvollen Modernisierung des männlichen Heldenbildes. Zu diesem gehörte vordem neben der übermäßigen Stärke und der Unerschütterlichkeit des Wissens, zu den Guten zu gehören, auch die Bereitschaft zum Selbstopfer, doch "dem widersprachen die komödiantischen Actionfilme: Die Helden werden lädiert, zwischen Slapstick und Leinwand-Sadismus, aber sie werden nicht geopfert. ... Die Sache hat freilich einen Haken: Nicht nur die Helden gewinnen an Leichtigkeit, sondern auch das, was sie tun. Insbesondere in den Cop-Movies verloren damit die Kollateralschäden etwas von ihren Schrecken. Mit dem Opfer verliert der postheroische Protagonist etwas von seiner Verantwortlichkeit."

Magazinrundschau vom 17.12.2019 - epd Film

Natürlich hat auch Georg Seeßlen den neuen, den Haupterzählstrang der "Star Wars"-Saga fürs Erste angeblich abschließenden Teil der Geschichte rund um den "Krieg der Sterne" noch nicht gesehen. Das hindert ihn aber nicht, in einem Essay über die mittlerweile drei Trilogien umfassende Space Opera auf Grundsätzliches zu sprechen zu kommen: Bildeten die ursprünglichen drei Filme aus den 70er- und 80er-Jahren noch "eine neue Form des Kinos", bei der man "dem Auseinanderfallen des Kino-Epos in seine Bestandteile" zusehen konnte, und bildete die zweite Trilogie um 2000 noch eine Konsolidierung altmodischen Blockbustererzählens, so treffen die neuen Filme aus den letzten Jahren auf die veränderten Rahmenbedingungen eines Blockbuster-Kinos, für die das Franchise einst selbst die Voraussetzungen geschafft hatte. Die Blockbuster seit dem Siegeszug der Marvel-Filme um 2010 "hatten etwas erreicht, was 'Star Wars' mit seinem archetypischen Erzählen nicht gelingen konnte: eine neue Subjektivität. Hier war es immer um die großen Unterscheidungen gegangen, gut und böse, hell und dunkel, richtig und falsch. Längst aber ging es darum, dass diese Unterscheidungen so einfach nicht mehr zu treffen sind, auch im Kino nicht, auch für Kinder nicht. Und selbst bei der Metatraumfabrik Disney nicht mehr, die 'Star Wars' in ihren gewaltigen Korpus an Bildwelten einverleibte. Worum es bei der dritten Trilogie also ging, war, wieder offenere und dynamischere Charaktere zu schaffen (wozu sich die Rebellion mit nicht ganz festgelegtem Ausgang und verschiedenen Figuren dazwischen durchaus anbot), zweitens wieder zu einem mehr subjekt- und emotionsbezogenen Erzählen zu gelangen und drittens neue Spannungsmomente zu erzeugen, die aus der Überkonstruktion des Handlungsbogens hinausführten. ... Aus einer geschlossenen soll eine offene Erzählung werden. Ein ständig sich selbst erneuerndes Bild- und Handlungssystem, das sich den wandelnden Märkten anpasst. Und so wurde aus der dritten Trilogie, bei aller notwendigen Kontinuität, auch ein exakter Gegenentwurf zur zweiten: Auf ein System, das semantisch zu versteinern drohte, folgt eines, das nach allen Seiten nach Anschlussmöglichkeiten sucht."

Magazinrundschau vom 09.10.2018 - epd Film

Der Western war nicht nur beim Filmfestival in Venedig wieder auffällig präsent, auch zahlreiche DVD-Labels arbeiten dessen Geschichte derzeit auf - insbesondere, was den nicht-kanonisierten Western der 50er und 60er betrifft, erklärt der Filmkritiker Hans Schifferle, der zehn Filme vorstellt, die ihm bei der Wiederbegegnung mit dem Genre und dessen Geschichte besonders aufgefallen sind. "Es versetzt in Erstaunen, dass man selbst als Cinephiler beim Betrachten dieser vielen wieder zugänglichen Filme erkennen muss, dass der gute alte amerikanische Western tatsächlich ein terrain vague ist, eine geradezu unbekannte filmische Gattung", die sich allein mit dem Studium des Kanons noch nicht erschlossen hat. "Man kann jetzt den Humus eines Genres entdecken, der die Meisterwerke erst ermöglicht hat, einen vielschichtigen Kosmos aus vitalen kleinen Filmen und größeren Produktionen, die von der Filmgeschichte verschluckt wurden. Ein neues Bild von einem traditionellen Genre entsteht dabei. ... Viele der Filmemacher haben ihr Handwerk noch beim Stummfilm gelernt und arbeiteten in den 50ern mit jungen Schauspielern und neuen Produktionsmethoden, die vom Fernsehen kamen. Aus dieser Kombination resultieren eine lustvolle, ökonomische Erzählweise und eine besondere visuelle Qualität. Seriell produziert, sind die kleinen Western stets in sich geschlossen. Manchmal gleichen sie Gedichten, manchmal Romanheften, manchmal Rock-ʼnʼ-Roll-Songs. Manchmal ist gar ein Hauch von Shakespeare zu spüren in diesem großen Kino der kleinen Form. So stark kodiert wie das Tanztheater oder die Oper, verhandeln sie moralische und philosophische Fragen auch über Amerika hinaus, immer historisch und aktuell zugleich. Die 50er Jahre in den USA, gerade auch die biedere Eisenhower-Ära, erscheinen im Spiegel dieser Western oft als eine unter der Technicolor-Oberfläche zerrissene Dekade."

Insbesondere Allan Dwans "Am Tode vorbei" (Woman They Almost Lynched, 1953) mit Joan Leslie, Audrey Totter und Nina Varela legt uns Schifferle ans Herz: "Ein unglaublicher Frauenwestern!" Hier die Originalversion und hier der schön knarzige deutsche Kinotrailer:

Magazinrundschau vom 12.06.2018 - epd Film

Für epdFilm umkreist Georg Seeßlen das Thema "Political Correctness im Kino" (beziehungsweise im Diskurs über das Kino) und fügt Thema einige wichtige Ambivalenzen und Schattierungen hinzu: Seeßlen ist gleichermaßen Fürsprecher wie Kritiker gesellschaftlich-achtsamer Rhetorik und Gesten. Unter anderem kommt er auch auf den Jubel zu sprechen, der allenthalben ausbricht, wenn sich ein Blockbuster gesellschaftlich geläutert zeigt: "Ein bloßes Umschreiben von Heldenrollen funktioniert nicht. Aus den 'Ghost Busters' Frauen zu machen, zeugte hauptsächlich davon, dass der Witz der ursprünglichen Geschichten nicht verstanden werden konnte. Umgekehrt kann ein 'Ocean's'-Film mit weiblicher Besetzung eine gute Idee sein, weil es eine ganz eigene Geschichte zu erzählen gibt. Weibliche (Super-)Helden sind okay, wenn sie wie 'Wonder Woman' ihre eigene Geschichte haben, einen weiblichen James Bond aber braucht man so dringend wie eine männliche Version von 'Buffy the Vampire Slayer' ... Hollywood ist nicht politisch korrekt, Hollywood ist marktorientiert. Wenn der Markt nicht mehr von weißen heterosexuellen angelsächsischen Männern dominiert wird, dann ändern sich auch die Inhalte. Die Frage ist nur, tun sie es allein auf der Besetzungsoberfläche (ein chauvinistischer Held ist ein chauvinistischer Held, egal welche Hautfarbe und welches Geschlecht er oder sie hat), oder tun sie es in einer emanzipatorischen Form, also im Hinblick auf eine je eigene Geschichte. Disney will mit den neuen 'Star Wars'-Filmen nicht die Welt besser machen, Disney will Actionfiguren auch an Mädchen und an dunkelhäutige Kids verkaufen. Auf der anderen Seite geht der Wandel in den Disney-Filmen tief genug, um wirkliche Veränderungen der Heldenrollen zu gewähren. Nur mit PC hat das alles eher wenig zu tun, it's the economy, stupid."

Magazinrundschau vom 06.02.2018 - epd Film

Anlässlich des baldigen Kinostarts von "Black Panther" denkt Georg Seeßlen in einem Essay über die Figur des schwarzen Superhelden im Kontext afroamerikanischer und postkolonialer Erfahrungen  nach und wie sich in dieser besonderen Konstellation schwarzer Identität ein "afroamerikanischer Mythos" bestimmen lässt: Dieser ist von zwei Träumen bestimmt, "die sich gegenseitig ausschließen", doch stehen sie trotz ihres historisch eigenen Charakters "für das Empfinden aller Migranten, oder nahezu aller Menschen auf dieser Erde: Ist es möglich, in ein Reich, eine Sprache, eine Kultur des Ursprungs zurückzufinden, oder ein solches Reich, eine solche Heimat, eine Sprache, eine Kultur zu errichten, als utopischen Entwurf vielleicht? Oder ist es möglich, sich endgültig und richtig zu integrieren, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden, in die man einst als Sklave verschlagen wurde? ... Die Zerrissenheit zwischen beiden 'Lösungen' von vertrauter Fremdheit spiegelt jeder afroamerikanische Held. Denn nur in der Rückschau, in der Rückkehr zu den ursprünglichen Gesten der Revolte wie in Tarantinos 'Django Unchained' ist 'Befreiung' bereits als Lösung zu sehen."

Magazinrundschau vom 03.01.2017 - epd Film

In einem großen Essay umkreist Georg Seeßlen das politische Kino der letzten rund 20 Jahre, also etwa seit den ersten Verzeichnungen des neoliberalen Umbaus der globalen Gesellschaft bis zu heutigen Filmen über subalterne Lebensformen oder deren Perspektiven. Am Ende landet er bei einem dokumentarischen Kino, dessen Ingredienzien vom Kritiker gemessen und auf Reinheit geprüft werden können. Fiktion hat da keinen Platz mehr: "Was das politische Kino der zehner Jahre ausmacht, ist neben der Suche nach neuen Ausdrucksweisen und Produktionsformen auch eine Neubestimmung von dem, was man filmischen Realismus nennen mag. Denn es gilt, eine Verbindung zu schaffen zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen, eine Solidarisierung, die die Differenzen nicht leugnet. Jeder Film muss einen eigenen Weg finden, diesen Widerspruch zwischen dem Objekt und dem Objektiv zu überwinden. Jacques Audiards 'Dheepan' (2015) dreht sozusagen die Vermittlungsperspektive um, wenn er seine Geschichte aus dem Banlieue-Viertel Le Pré-Saint-Gervais mit den Augen von Flüchtlingen aus Sri Lanka sieht und in ihrer Logik zu entwickeln versucht. Das politische Kino der Zukunft wird nicht zuletzt daran arbeiten, die Zentralperspektive weißer, männlicher europäisch-amerikanischer Bildermacher zu überwinden."