Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Irrweg der Materie

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10.09.2021. Die Filmkritiker kommen erschöpft von zu viel Immersion aus Václav Marhouls Filmadaption von Jerzy Kosińskis brutalem Weltkriegsroman "The Painted Bird". Die FAZ sah in Odense die Welterlöserin, und sie heißt Madame Nielsen. Der Tagesspiegel möchte von der Bundesregierung wissen, warum der Gabriele Münter Preis für bildende Künstlerinnen über 40 nicht mehr verliehen wird, und erfährt, die Bekämpfung von Sexismus habe Vorrang. Die SZ amüsiert sich im neuen Design-Schauraum der Münchner Pinakothek. Die taz schwärmt von den Jazzplatten aus den Sechzigern, die das Label Souffle Continu wieder veröffentlicht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.09.2021 finden Sie hier

Film

Filmische Schönheit und menschliche Hässlichkeit: "The Painted Bird"

Mit dem dreistündigen Schwarzweißfilm "The Painted Bird" hat Václav Marhoul Jerzy Kosińskis gleichnamigen, wegen seiner ausufernden Gewaltszenen berüchtigten Weltkriegsroman aus den Sechzigern verfilmt. Entsprechend an die Nieren geht auch der Film, der Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche schon bei seiner Venedigpremiere vor zwei Jahren brüskierte. Revidiert hat er sein Urteil jetzt zum Kinostart nicht: "Fraglos ist Marhoul vom ungarischen Altmeister Bela Tarr inspiriert, aber was einem sein Film über das Wesen des Krieges, des Zweiten Weltkrieges, sagen will, bleibt plakativ: Die Welt ist schlecht, es gibt keinen Ausweg. Dieser Fatalismus ist untermalt von einem gewissen Sadismus in der Mise-en-Scène, weil jeder Anflug von Hoffnung von einer noch größeren Niedertracht übertroffen wird. Man durchschaut dieses Spiel mit den Erwartungen sehr schnell, aber der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt."

Der Film aalt sich zugleich in filmischer Schönheit und der Ausschmückung tiefster menschlicher Abgründe, seufzt Janick Nolting auf Artechock. Der Film steht im Zusammenhang mit westlichen Kriegsfilmen der letzten Jahre wie "Dunkirk", "Hacksaw Ridge" oder "1917", erfahren wir: "Fortwährend geht es um Immersion. Immer will man dem Schrecken noch ein bisschen näher kommen, den Schmutz und das Blut noch stärker am eigenen Leib spüren. Authentizität ist ein vermeintlich bedeutsames Stichwort. 'The Painted Bird' bedient diese eigenartigen Sehnsüchte ebenfalls, gibt sich aber gar nicht erst die Mühe, zu verstecken, dass er wie eine Gruselgeschichte konsumiert werden wird, mit der man glaubt, den Horror vergangener Tage innerlich bewältigen zu können. ... Marhoul macht die extreme Gewalt in diesen umwerfenden Schwarz-Weiß-Bildern konsumierbar und zu einem obskuren Faszinosum."

Am Samstag werden in Venedig die Preise verliehen. Zu sehen gab es einen Jahrgang "des cineastischen Matriarchats, der resoluten, widerspenstigen, aus der Rolle fallenden oder ihre Rolle verweigernden Mütter", berichtet Katja Nicodemus in der Zeit. Tazler Tim Caspar Boehme wirft derweil einen Blick nach Osteuropa, von wo aus ihn "Signale der Gewalt und Zeichen der Hoffnung" erreichen: "In Walentyn Wassjanowytschs 'Reflection' ist es der gegenwärtige Krieg im Donbass der Ostukraine, bei 'Captain Volkonogov Escaped' von Natascha Merkulowa und Alexei Tschupow spielt die Handlung in einer fiktionalisierten Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus." Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh lobt die italienischen Filme im Programm und hatte hier insbesondere mit Gabriele Mainettis "Freaks Out" viel Freude, einer "einer wilden Kreuzung aus NS-Widerstandsdrama, Außenseiterode und fantastischer Zirkushommage. ... In seiner Unbedingtheit, mit er das Fantastische als Sphäre der Freiheit verteidigt, erinnert der Film an Arbeiten Guillermo del Toros."

Weiteres: Der Kinohistoriker Lars Henrik Gass schreibt dem Filmdienst einen Brief aus Rom, wo die Kinosäle dahinschmelzen wie Butter unter der Sonne, ein Pornokino nicht nur einschlägiges Material - "immerhin auf 35mm" -, sondern auch "kuratierte Filmgeschichte" zeigt, und wo Zeitungen ihn davon in Kenntnis setzen, dass Papst Franziskus in jungen Jahren den italienischen Neorealismus schätzte und davon in seinem Denken grundiert wurde. Urs Bühler spricht in der NZZ mit Christian Jungen, den Leiter des Zürich Film Festivals, über die anstehende Festivalausgabe.

Besprochen werden Tom McCarthys Thriller "Stillwater" mit Matt Damon (Perlentaucher, Presse), Bernhard Sallmanns "Über Deutschland" (Perlentaucher), Johannes Nabers BND-Satire "Curveball" (Welt), Philippe Lacôtes vorerst nur in der Schweiz startender "Night of the Kings" (NZZ), die Netflix-Animationsserie "He-Man and the Masters of the Universe", die sich trotz ihres markig-martialisch-machistischen Titels als erstaunlich progressiv herausstellt (FR).
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Bühne

Welterlöserin Madame Nielsen. Foto: Emilia Therese


FAZ-Kritiker Philipp Theisohn sah im "Teater Momentum" von Odense Christian Lollikes Inszenierung von Madame Nielsens "Die Welterlöserin" - ein Stück, dessen politischer Anspruch ihn schwer beeindruckt hat, denn Nielsen betritt als Verkörperung des Weltstaates die Bühne, um die Klimakatastrophe zu verhindern: "Madame, so viel weiß man, exerziert den Verzicht. Sie fliegt nicht mehr, lebt vegan, sie hat sich in einem weitgehend klimaneutralen Dasein eingerichtet - und spricht von ihren beiden Kindern, denen sie versprochen hat, eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Die 'Welterlöserin' ist jedoch keine Utopistin, die noch daran glaubt, dass sich der Kapitalismus durch modellhaftes Verhalten - nennen wir es: Klimacalvinismus - umerziehen ließe. Sie fordert die Rückkehr der Staatsmacht ein und beschwört diese Rückkehr mit einer 'feministisch ökofaschistischen Show'. Auf was kann sich der Nielsen-Staat stützen? Auf Gott nicht mehr, denn es gibt keine Gemeinschaft der Gläubigen mehr. Folgerichtig lässt man das Publikum nicht auf die Bibel, sondern auf die eigenen Kinder schwören, deren Namen die Erlöserin in einer Zuschauerbefragung einsammelt und an eine Wandtafel schreibt."

Weiteres: Im Tagesspiegel stellt Patrick Wildermann das Jubiläumsprogramm zu 15 Jahren Radialsystem vor. Besprochen werden ein Kabarettabend mit Lisa Eckhart in der Alten Oper Frankfurt (FR) und "Dreckiges Neon Babylon", eine Produktion des Performance-Kollektivs Showcase Beat Le Mot in der alten Kindlbrauerei in Berlin Neukölln (taz).
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Kunst

Der Gabriele Münter Preis ist ein sehr spezieller Kunstpreis: Er wird alle drei Jahre ausschließlich an bildende Künstlerinnen verliehen, die über 40 Jahre alt sind. Die letzte Ausschreibung fiel wegen Corona aus, berichtet Anna Thewalt. Und daran scheint man im Bund festhalten zu wollen: "Auf Nachfrage des Tagesspiegels erklärt eine Sprecherin des Familienministeriums, dass der Auftrag aus dem aktuellen Koalitionsvertrag der 'Bekämpfung von Sexismus' galt. Somit sei es der 'Schwerpunktsetzung einerseits und der Vielfältigkeit im Kultursektor andererseits geschuldet, dass das BMFSFJ nicht alle Bereiche dieses Sektors in gleichem Maße unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunkten' fördern könne. Aktuell sei nicht geplant, den Gabriele Münter Preis erneut auszuschreiben. Die Sprecherin verweist auf die nächste Bundesregierung, die ihre Schwerpunkte im Kulturbereich neu festlegen müsse."

Weiteres: In der NZZ schreibt Philipp Meier über Vermeers Briefleserin. Nicola Kuhn schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Kunstsammlers Heiner Pietzsch. Besprochen wird die Ausstellung "Joseph Beuys - Kunst für alle. Multiples und Grafiken aus der Sammlung" in der Kunsthalle Kiel (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Stanislaw Lem, 1966. Foto courtesy of Lem's secretary, Wojciech Zemek, unter cc-Lizenz
Am kommenden Sonntag vor 100 Jahren wurde der polnische Science-Fiction-Autor und Technikphilosoph Stanisław Lem geboren. Anders als seine Zeitgenossen der us-amerikanisch geprägten Science-Fiction machte sich Lem keine naiven Illusionen, was Abenteuer, Erlösung und Fortschritt im All betrifft, schreibt Dietmar Dath in der FAZ: "Umfassende Finsternis, der unsere Intelligenz nur kleinste Lichter aufstecken kann, ist das Urelement von Lems Schaffen." Bloß ein Kritiker des Sozialismus ist Lem in seinem Pessimismus, was die Geschicke der Menschheit in der Zukunft betrifft, nicht gewesen, betont Dath: "Auch konservative Arbeit am Sozialen nämlich verlangt koordiniertes Handeln vieler, dessen Voraussetzung Kommunikation ist. Und genau an dieser Kommunikation, sogar an ihrer bloßen Möglichkeit und Wirklichkeit, hat niemand die äußerste Skepsis schärfer gewetzt als Lem. ... Der Aufwand der Kommunikation, sagt er, versöhnt nichts, erlöst niemanden. Und Bewusstsein kann dem Leben kein Glück erobern; schlimmer: Das Leben selbst ist vielleicht nur ein Irrweg der Materie, die sich wiederum (wie mehrere Gedankenspiele Lems vermuten) Naturgesetzen verdankt."

Außerdem erinnert sich der Schriftsteller Radek Knapp in der FAZ an eine Begegnung mit Lem. Im ND erzählt Steffen Schmidt Lems Leben. Und auch die Radiosender würdigen den Autor: Dlf Kultur mit einer "Langen Nacht", der WDR mit einem Feature, der BR mit einem Hörspiel aus den Siebzigern und der MDR mit einer zwölfteiligen Lesung.

Weitere Artikel: Julia Bousboa wirft für 54books einen Blick in Kinderbücher über Klimaschutz. Paul Ingendaay berichtet in der FAZ vom Auftakt des Literaturfestivals Berlin.

Besprochen werden unter anderem Karl Heinz Bohrers "Was alles so vorkommt" (SZ), Martina Hefters Gedichtband "In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen" (ZeitOnline), Robin Robertsons "Wie man langsamer verliert" (FR), Sasha Marianna Salzmanns Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" (nachtkritik), Nadine Schneiders "Wohin ich immer gehe" (SZ) und neue Sachbücher, darunter die von Dirk Braunstein herausgegebene, mehrbändige Edition von Theodor W. Adornos Seminarprotokollen (FAZ).
Archiv: Literatur

Design

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Nach vielen Jahren des Wartens und Hinhaltens öffnet sich in der Münchner Pinakothek der Moderne nun endlich die stets verschlossene Milchglastür und offenbart das "X-Depot", einen neuen, bis an die Decke prall gefüllten Design-Schauraum. Da "schießt das Auge wie eine Flipperkugel hin und her", staunt Laura Weißmüller in der SZ: "etwa zur quietschgelben aufblasbaren Plastikgiraffe links unten. Rüber zur skizzenhaft schlanken schwarzen Karbonliege in der Mitte und hoch zum poppig runden WC in Moosgrün. In der obersten Etage gibt es Stühle aus elegant geschwungenem Bugholz, aus Plastik, Stahl und Korb zu entdecken. Dazwischen futuristische Fahrräder, elegante Faltboote, eine tragbare Badewanne und leuchtend bunte Tankstellen-Logos." Und auch einige historische Korrekturen gibt es: Es gibt mehr Entwürfe von Frauen zu sehen: "Barrierefreiheit endet hier nicht beim Einbau eines Aufzugs."

Außerdem: Lisa Kannengießer blickt in der SZ auf die Zeit zurück, als sich die Neunziger der Schulterpolster der Achtziger entledigten. Den Anlass dafür bietet eine Modefotografie-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast, die von Claudia Schiffer kuratiert wurde, mit der wiederum Johanna Pfund für die SZ spricht.
Archiv: Design

Musik

Das französische Label Souffle Continu macht eine ganze Reihe von Jazzplatten aus den Sechzigern wieder zugänglich, die musikalische Austauschprozesse zwischen Frankreich und Madagaskar dokumentieren, schwärmt Diedrich Diederichsen in der taz. Die Zusammenarbeit zwischen der Gruppe Malagasy und Jef Gilson etwa, die auf der Platte "At Newport" zu hören ist, "ist ein Meisterwerk: Auf der Basis eines angefunkten 'spirituellen' Jazz brilliert nicht nur Gilson als Komponist zweier Eckpfeiler der ganzen Band. Zum einen mit 'Salegy Jef', eine auf traditionelle madegassische Melodik zurückgehende Ballade mit einem ausgeflippten Sylvin Marc, der E-Gitarre wie Vahila spielt, und mit 'Requiem Pour Django', das es an Formschönheit fast mit Ornette Colemans 'Lonely Woman' aufnehmen kann und mit Django Reinhardt jenen Instrumentalisten ehrt, der genau wie Del Rabenja ein folkloristisch überliefertes Zupfen zu einer jazzmäßigen Eleganz erhoben hat." Wir hören rein:



Besprochen werden ein Konzert von Martha Argerich und Daniel Barenboim (Tagesspiegel), ein Konzert des London Symphony Orchestras unter Simon Rattle beim Lucerne Festival (NZZ), die Compilation "Modern Love" mit Coverversionen von Bowie-Songs (taz), die Autobiografie des Musikmanagers Alan McGee (SZ) und eine Schostakowitsch-Aufnahme von Igor Levit (Welt).
Archiv: Musik